Liebe & Sex
Klitoris-Forscher über weibliche Lust: «Frauen haben eine Erektion, genau wie Männer»
- Text: Melanie Biedermann
- Bild: Stocksy
Der Biologe Daniel Haag-Wackernagel forscht seit 15 Jahren zur Klitoris und über die weibliche Lust. Im Interview erklärt er, woran Sexualität bis heute scheitert.
annabelle: Herr Haag-Wackernagel, wie kam es, dass Sie sich in Ihrer Arbeit auf das Thema der weiblichen Sexualität fokussierten?
Daniel Haag-Wackernagel: Ich bin Biologe und beschäftigte mich ursprünglich mit der Sexualität von Tieren. Als ich für einen Workshop die Sexualorgane von Primaten mit denen des Menschen vergleichen wollte, fiel mir auf, dass es kaum gute Darstellungen der weiblichen Sexualorgane gibt. Und das hat mich sehr erstaunt.
Was meinen Sie konkret damit: Es gab kaum gute Darstellungen der weiblichen Sexualorgane?
Es gab zwar Modelle von der Klitoris, also vom Bulboklitoralorgan, aber die waren anatomisch nicht korrekt oder nur wenig detailliert. Selbst in vielen Anatomiebüchern und vor allem in Schullehrmitteln gab es keine guten Abbildungen der weiblichen genitalen Anatomie, also der Vulva und im Speziellen der Klitoris.
«Ein grundlegendes Wissen über die eigene Anatomie kann helfen, Vorlieben, Grenzen und Bedürfnisse aufzuzeigen»
Warum ist es überhaupt so wichtig zu wissen, wie unsere Sexualorgane aufgebaut sind?
Ein grundlegendes Wissen über die eigene genitale Anatomie und die des Gegenübers erleichtert in der Sexualität die Kommunikation und kann helfen, Missverständnisse zu vermeiden. Man muss eine Sprache haben, um Vorlieben, Grenzen und Bedürfnisse aufzuzeigen. Die Klitoriseichel ist beispielsweise bei den meisten Frauen extrem empfindlich und sollte nicht direkt berührt werden. Das sollte eine Frau auch formulieren können.
Dieses Wissen ist also essenziell für eine gesunde Sexualität.
Exakt. Deswegen habe ich mich immer mehr in die Thematik hineinbegeben und angefangen, Modelle zu entwickeln. 2022 habe ich einen Beitrag an eine Lehreinheit über die Klitoris für den «Prometheus: Lernatlas Anatomie» geleistet; da sind nun erstmals wieder gute, präzise Abbildungen publiziert worden.
Eigentlich ein Skandal, dass das erst vor zwei Jahren passiert ist. In früheren Interviews erklärten Sie, dass bereits im 17. Jahrhundert sehr detaillierte und akkurate Darstellungen der Klitoris existierten.
Der niederländische Arzt und Anatom Regnier de Graaf hatte tatsächlich 1672 schon alles dargestellt, was wichtig war. Die ganze Anatomie war sogar schon früher, im 16. Jahrhundert, bekannt. Aber «bekannt sein» und Anwenden sind eben zwei verschiedene Dinge.
Es gibt verschiedene Theorien, warum diese korrekten Abbildungen später aus Lehrmitteln und Anatomiebüchern verschwunden sind. Welche ist Ihre?
Zu der Zeit hat vor allem das Christentum dafür gesorgt, dass alles, was mit nicht-fortpflanzungsfokussierter Sexualität zu tun hat, als Sünde angesehen wurde. Bis vor Kurzem war Sexualität völlig tabuisiert – und sie ist es teils noch immer.
Es gibt auch sehr viele Mythen rund um das Thema weibliche Sexualität, die sich weiterhin hartnäckig halten.
Der G-Punkt ist mein Lieblingsmärchen (lacht).
Dann lassen Sie uns das ein für alle Mal klären: Der G-Punkt existiert nicht – richtig?
Nein, in der Vagina existiert keine bestimmte Stelle, die stärker mit sensorischen Nervenendigungen versorgt ist. Man könnte in ihr eigentlich ohne Anästhesie operieren, weil sie auch nicht so empfindlich sein darf. Etwa während der Geburt, aber auch beim Geschlechtsverkehr wäre eine zu hohe Empfindlichkeit ein Problem.
«Studien zeigen, dass die Klitoris um ein Vielfaches mehr an Lustrezeptoren besitzt als der Penis»
Womit liegen wir sonst noch falsch?
Es gibt verschiedene Fehleinschätzungen bezüglich der weiblichen Sexualität. Wenig bekannt ist beispielsweise der Kavernosusnerv, der für die Erektion der Klitoris verantwortlich ist.
Moment: Auch Frauen haben eine Erektion?
Ja, die Klitoris ist anatomisch gesehen eigentlich identisch mit dem Penis. In der siebten Schwangerschaftswoche entwickeln sich aus dem Genitalhöcker die Klitoris und der Penis. Beim Mann verlängert sich im Verlauf der Embryonalentwicklung nur der Vorderteil. Es gibt ja auch die weibliche Ejakulation über die weibliche Prostata – auch als Squirting bekannt. Männer wiederum haben einen funktionslosen Rest der embryonalen Vagina.
Grössenverhältnisse beiseite: Was sind die Unterschiede bei den männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen?
Studien zeigen, dass die Klitoriseichel um ein Vielfaches mehr an Genitalkörperchen besitzt als die Peniseichel. Diese sensorischen Nervenendigungen sind für die Generierung der Lust und die Auslösung des Orgasmus verantwortlich. In dieser Hinsicht ist der Penis weit weniger empfindlich, viel stumpfer.
«Wenn Sex Lust macht, dann wird er wiederholt – so funktioniert das Belohnungssystem»
Eine wichtige Information. Für Männer – aber insbesondere auch für junge oder sexuell unerfahrene Frauen, die vaginale Penetration als schmerzhaft empfinden und nicht wissen, warum.
Genau. Um auf den Nerv zurückzukommen, der für die weibliche Erektion verantwortlich ist: Dieser ist für die Lust sehr wichtig. Denn wie beim Mann werden die erektilen Schwellkörper der Frau bei Erregung hart und setzen die Klitoriseichel unter Druck. Dadurch werden die sogenannten Lustrezeptoren, die Genitalkörperchen, aktiviert. Wird dieser Nerv beschädigt, kann es die Sexualität beeinträchtigen.
Unter welchen Umständen würde er Schaden nehmen?
Das kann beispielsweise beim Legen einer Inkontinenzschlinge passieren. Oft werden Bedenken mit dem Argument weggewischt, dass es sich bei der Behandlung von Inkontinenz sowieso um ältere Patientinnen handelt, für die die Sexualität keine Rolle mehr spielt. Was natürlich nicht stimmt.
Wo wir wieder bei den Mythen wären …
Die weibliche Ejakulation ist übrigens ebenfalls schon seit der Antike bekannt. Allerdings ging man damals davon aus, dass auch die Frau einen Samen ausstösst und die Lust der Frau deshalb für die Fortpflanzung wichtig ist. Das hat man dann im 19. Jahrhundert widerlegt.
Dieser Moment in unserer Geschichte wird als «Tod des weiblichen Orgasmus» bezeichnet, weil damit bewiesen war, dass Frauen nicht zum Orgasmus kommen müssen, um schwanger zu werden. Die männliche Ejakulation ist dafür jedoch zwingend. Zynisch gefragt: Wäre es der Fortpflanzung nicht trotzdem dienlich, wenn die Frau beim Sex Lust verspürt?
Ja, ich bin definitiv dieser Meinung. Das Banalste am Ganzen wird bei dieser Thematik immer wieder übersehen: Wenn Sex Lust macht, dann wird er wiederholt. Das ist ein Belohnungssystem. Und es braucht ja viel Sex, damit es bei Menschen zu einem Kind kommt. Die Frau wird in der Regel nicht gleich beim ersten Mal schwanger.
«Sexuelle Zufriedenheit hat einen wichtigen Effekt auf die Paarstabilität»
Abgesehen von Fortpflanzung und Spass an der Sache: Erfüllt die menschliche Sexualität noch andere Funktionen?
Studien haben gezeigt, dass Frauen, die häufiger oder regelmässig Orgasmen haben, treuer sind und dass das Ganze einen wichtigen Effekt auf die Paarstabilität hat.
Gibt es den Effekt auch bei Männern?
Ja, auch für Männer ist die sexuelle Zufriedenheit wichtig für die Beziehung und kann die Wahrscheinlichkeit für Treue erhöhen. Aber im Gegensatz zu Frauen kommen sie sehr viel einfacher zum Orgasmus. Bei Frauen hingegen spielt die emotionale Nähe in der Beziehung eine wichtige Rolle für die Orgasmusfähigkeit, welche dann eine Art Qualitätsmerkmal der Beziehung darstellt.
Aus Studien geht auch hervor, dass Frauen in heterosexuellen Beziehungen weit seltener Orgasmen haben als Männer.
Das hat sich auch in jüngsten Umfragen wieder bestätigt: Männer kommen in einer Studie, die wir an der Universität Basel durchgeführt haben, beim Paarsex in 94% der Fällen oft bis immer zum Orgasmus, bei den Frauen sind es 66%. Diesen Unterschied bezeichnen wir als Orgasmus-Gap.
«Eine junge emanzipierte Medizinstudentin wird ihre Sexualität natürlich anders durchsetzen als jemand, der nicht einmal über Sexualität redet»
Haben Sie auch untersucht, welche Gründe es für den Orgasmus-Gap gibt?
Ja. Wir dachten erst, dass Männer einfach zu wenig über die Anatomie der Frauen wissen, aber das stimmt gar nicht. Tatsächlich haben die von uns befragten Männer ein gutes Wissen über die Anatomie der Frau.
Was ist also das Problem?
Die weibliche Sexualität wird weniger wichtig genommen. Viele Frauen sind ja selbst der Meinung: «Hauptsache, der Mann kommt.» Und mit dieser Grundeinstellung ist es natürlich schwierig, die eigene Sexualität zu realisieren.
Spielt mangelndes Wissen über die eigene Anatomie bei Frauen auch eine Rolle?
Eine junge emanzipierte Medizinstudentin wird ihre Sexualität natürlich anders durchsetzen als jemand aus Kreisen, in denen nicht einmal über Sexualität geredet wird. Manchmal fehlen tatsächlich die Worte, oder es gibt nur Vulgärausdrücke – dabei ist Kommunikation, neben dem Vertrauen der Partner:innen zueinander, das absolut Entscheidende bei der Sexualität. Gerade wenn man bedenkt, wie kompliziert und komplex so eine Klitoris ist; ein ganzes Organsystem, das untereinander noch zusammenhängt.
Sie sagen, oft es hakt bei der Kommunikation. Was schlagen Sie vor?
Sich erstmal professionelle Unterstützung zu holen, wenn sexuelle Probleme auftreten. Es gibt ein grosses Angebot an kompetenter Beratung durch qualifizierte Sexualtherapeut:innen und Gynäkolog:innen, die auch Sexualberatung anbieten. Ebenfalls empfehlenswert sind Fachpersonen aus den Bereichen Sexual Bodywork, Tantramassage und Beckenbodenphysiotherapie. Diese Fachpersonen, die im Bereich der Körperarbeit tätig sind, haben eine ganz wichtige Funktion. Denn wenn eine ärztliche Konsultation nur ein paar Minuten gehen darf, haben Fragen zur Lust und zur Sexualität kaum Platz.
Sie erwähnten vorhin, dass in der Sexualität oft schon die grundlegendste Sprache fehlt. Fällt also alles darauf zurück, dass diese Grundlagen früh und richtig vermittelt und Lehrbücher so schnell wie möglich korrigiert werden?
Ja – und das wird sich auch durchsetzen. Der «Prometheus» ist ein weit verbreiteter Anatomieatlas, der derzeit auch ins Englische übersetzt wird. Es ist zudem bereits vorgesehen, einen weiteren Beitrag zur Vulva zu erarbeiten. Sie soll detaillierter dargestellt werden – auch ihre unglaubliche Variabilität. Eine Vulva ist ja wie ein Fingerabdruck: es gibt keine, die aussieht wie eine andere.
Das klingt nach guten Nachrichten.
Grundsätzlich ja, aber ich befürchte, es wird noch lange dauern, bis die Klitoris und die weibliche Lust auch in Aufklärungsbüchern für die Schule korrekt dargestellt werden.
Am kommenden Freitag, 8. November 2024, hält Daniel Haag-Wackernagel im Volkshaus Zürich einen Vortrag zum Thema Anatomie und Physiologie der weiblichen Lust. Der Anlass ist auf Anmeldung und frei (mit Kollekte) zugänglich.
Daniel Haag-Wackernagel ist emeritierter Professor für Biologie in der Medizin an der Universität Basel und forscht seit 15 Jahren über das weibliche Sexualorgan.