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Kinderlose Frauen und Mütter: Der Nuggi-Graben

Body & Soul

Kinderlose Frauen und Mütter: Der Nuggi-Graben

  • Interview: Julia HoferIllustration: Silke Werzinger

Kinderlose Frauen und Mütter werfen sich gegenseitig Arroganz und fehlende Toleranz vor. Familiensoziologe François Höpflinger sagt warum.

François Höpflinger, Sie haben den Graben zwischen Eltern und Kinderlosen bereits 2007 prophezeit. Was hat Sie damals zu dieser Annahme bewogen?

Die Zahl kinderloser Frauen hatte zugenommen, und es war abzusehen, dass Haushalte mit Kindern zu einer demografischen Minderheit werden. Zudem sahen wir, dass sich die Menschen stärker denn je mit ihrer aktuellen Lebensphase wie Elternschaft oder jugendorientiertem Erwachsenenalter identifizieren und dementsprechend auch ihren Lebensstil anpassen.

Das heisst?
Späte Eltern – und das sind heute viele – ändern ihren Lebensstil viel bewusster und radikaler als jüngere. Jüngere Eltern sind weniger bereit, ihren Lebensstil aufzugeben, auf Reisen oder Ausgang zu verzichten. Da nun ältere Menschen ohne Kinder eher den jugendorientierten Lebensstil fortsetzen, kann dies zu Spannungen zwischen späten Eltern und
älteren Kinderlosen führen. Es prallen unterschiedliche Welten aufeinander.

Warum aber reagieren kinderlose Frauen gereizt auf Mütter?

Jüngere kinderlose Frauen haben kein Problem mit Müttern, weil für sie die Mutterschaft meistens noch eine Option ist und sie in den Müttern sozusagen ihre eigene Zukunft sehen.
Wenn diese Frauen dann gegen die vierzig gehen und realisieren, dass der Zug abgefahren ist, kann dies zu Aggressionen führen gegenüber denen, die im Zug sitzen. In unserer postmodernen Gesellschaft hält man sich gern alle Optionen offen.

Und was haben Mütter gegen kinderlose Frauen?
Zu sehen, dass andere nach wie vor Zeit für sich selbst haben, kann Neid hervorrufen. Gleichzeitig bringen Mütter oft zum Ausdruck, dass kinderlose Frauen für sie nicht so interessant sind, weil diese ein Leben führen, mit dem sie abgeschlossen haben.

Sind Mütter selbstbewusster geworden?
Ja, sie haben weniger Kinder und wollen die Phase, in der die Kinder klein sind, bewusst erleben. Viele bleiben die ersten Jahre zu Hause oder definieren die Mutterschaft als Teilzeit-Lebensrolle.
Sind Kinder heute so verzogen, wie moniert wird?

Das kommt schon vor, man spricht in diesem Zusammenhang sogar von Kinder-Königen. Die Familie ist kinderfreundlicher geworden – aber die Gesellschaft als Ganzes nicht.

Woran kann man das festmachen?
In den Städten gibt es keine Freiräume mehr, Kinder können sich nirgends mehr unbeaufsichtigt bewegen. Ihnen steht sogar viel weniger Platz zur Verfügung als etwa den Autos. Häuser werden eher behinderten- als familiengerecht gebaut. Und Krippenplätze sind immer noch knapp und teuer.

Schürt das die Aggressionen der Mütter gegen die Kinderlosen?

Möglich. Eltern glauben aber auch, dass die Nachteile durch einen emotionalen Gewinn wettgemacht werden.

Diesen emotionalen Gewinn thematisieren Mütter gegenüber kinderlosen Frauen eher selten. Aus Rücksicht?
Der Grund ist eher, dass man die Nachteile des Familienlebens besser in Worte fassen kann als die Vorteile. Gut, man könnte sagen: Man erlebt eine tiefe emotionale Bindung, die Erziehung eines Kindes beinhaltet ein Gestaltungselement, Eltern werden nach ihrem Tod etwas hinterlassen. Das jemandem zu erklären, der keine Kinder hat, ist schwierig.

Man versteht sich einfach nicht.
Ja, man spricht plötzlich zwei verschiedene Sprachen. Aber der Nuggi-Graben hat auch andere, praktische Gründe: Kinderlose meiden Ferienorte während der Schulferien, Familien meiden kinderunfreundliche Restaurants. Kinderlose wohnen in der Innenstadt, Familien am Stadtrand. Der Mensch sucht sich gleich Gesinnte, weil es das Leben einfacher macht.

Wie kann der Zwist zwischen Müttern und kinderlosen Frauen gestoppt werden?

Der Nuggi-Graben schliesst sich nach der Kleinkinderphase automatisch wieder. Erst wenn die Grosskinder zur Welt kommen, driften die Lebensstile erneut auseinander.

Verläuft der Nuggi-Graben auch zwischen Vätern und kinderlosen Männern?
Viel weniger. Es gibt heute zwar vereinzelte Männer, die als Väter sehr engagiert sind. Doch für die meisten Männer ist Vaterschaft noch immer keine zentrale Rolle.

Passend zum Thema stellt sich die Frage: “Darf man im Gartenrestaurant rauchen, wenn man neben einer Mutter mit Baby sitzt?”. Die Antwort finden Sie in der Rubrik “Erlaubt”.