Body & Soul
Der Kinderbuchklassiker: Wo die wilden Kerle wohnen von Maurice Sendak (1963)
- Text: Sandra Weber; Kommentar: Christine Tresch, Barbara Jakob
Der Kinderbuchklassiker «Wo die wilden Kerle wohnen» im Test.
Um was geht es?
Max ist ein kleiner Junge, der, wie so viele andere kleine Jungen, gern wild und laut ist. Als er dafür von der Mutter gescholten wird, reist er mit seinem Schiff ins Land, wo die wilden Kerle wohnen. Wegen seiner Unerschrockenheit küren sie ihn zum König, und Max geniesst ihre Gesellschaft, bis ihn plötzlich das Heimweh packt. Alles Zähnefletschen und Augenrollen kann ihn nicht dazu bewegen, bei den wilden Kerlen zu bleiben, er reist zurück an den Ort, wo ihn jemand am allerliebsten hat.
Das bildstarke Buch versetzt sich ganz in die kindliche Welt, in der die Fantasie regiert. Es spricht Kinder in dem Alter an, in welchem sie zwar schon gut zwischen Realität und Fiktion unterschieden können, sich aber dennoch gern in imaginäre Welten zurückziehen. Kinder können sich wohl auch darum so gut mit Max identifizieren, weil auch sie es lieben, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. In jedem Kind steckt ein «wilder Kerl», der gerne König wäre, aber es weiss auch jedes, wie es ist, sich nach einem Abenteuer nach der Geborgenheit des Zuhauses, der Mutter zu sehnen.
Entstehung
«Ich erzähle den Kindern einfach die Wahrheit. In der Erinnerung vieler Erwachsener verklärt sich die Kindheit, und sie belügen die Kinder, angeblich, um sie vor den Grausamkeiten der Welt zu beschützen. Aber Kinder hassen es, belogen zu werden. Ich weiss noch genau, wie ich als Kind fühlte; ich hatte nichts auszustehen, erlebte eine ganz gewöhnliche, typische Kindheit: Es war schrecklich.»
In seinen Bilderbüchern versucht Maurice Sendak deshalb, die Schrecken, welche die Kindheit mit sich bringen kann, zu anerkennen. Dabei gelingt es ihm, die Welt durch die Augen des Kindes zu schildern, er bleibt somit stets kindgerecht und verständlich – mit ein Grund, weshalb ihn Kinder und Erwachsene rund um die Welt verehren.
Vorbild für die Monster im Bilderbuch waren ihm übrigens seine Verwandten, die ihm als Kind äusserst furchterregend schienen.
Weitere Infos
Maurice Sendak wurde 1928 in New York als Kind polnisch-jüdischer Einwanderer geboren. Von einer Cousine wurde er auf sein Talent zum Zeichnen aufmerksam gemacht und liess sich, zum Leidwesen seiner Eltern, die ihn gerne an einer Universität gesehen hätten, zum Illustrator ausbilden. Sein erster Auftrag bestand 1947 darin, ein Lehrbuch für Physik zu illustrieren. Seit damals hat er über 100 Bücher illustriert, darunter 20, die er auch selber schrieb. «Wo die wilden Kerle wohnen» war nicht von Beginn weg ein Renner, ein Kritiker nannte es «konfus und witzlos», die Illustrationen seien «grossartig, aber furchterregend». Sendak war das egal: «Die wilden Kerle sind nicht angelegt, es jedem recht zu machen – nur Kindern.» Und diese gaben ihm recht: Bis heute wurde das Buch über 17 Millionen Mal verkauft, es sei allerdings nicht Sendaks persönlicher Favorit. Diese Ehre gebührt seinem Buch «Als Papa fort war». Dennoch bleibe Hauptfigur Max seine tapferste und daher auch seine liebste Schöpfung.
Maurice Sendak erhielt unter anderem die Caldecot-Medal (die höchste Auszeichnung für einen Kinderbuchkünstler) sowie den internationalen Hans-Christian-Andersen-Preis. 1997 wurde ihm vom US-Präsidenten Bill Clinton die «National Medal of Arts» verliehen, die höchste künstlerische Auszeichnung der Vereinigten Staaten. Er lebt mit seinem Schäferhund Herman in Connecticut.
Zu guter Letzt
Das Bilderbuch «Wo die wilden Kerle wohnen» von Maurice Sendak eignet sich für Kinder ab 4 Jahren und ist auf Deutsch beim Diogenes Verlag erhältlich.
Die Geschichte wurde für einen Spielfilm adaptiert und kam 2009 in die Kinos.
Der Kommentar der Expertinnen
Wenn es einen Wettbewerb über das beste Bilderbuch des 20. Jahrhunderts geben würde, Maurice Sendaks «Wo die wilden Kerle wohnen» müsste eigentlich den ersten Preis gewinnen. Denn es spricht die kindliche Erfahrungswelt an und überzeugt in seiner ästhetischen Umsetzung. Max, der seiner Mutter nicht gehorcht und trotzt, träumt sich aus der Realität in eine Parallelwelt hinein, in der er der Anführer eines Heers von ganz und gar unflätigen Monstern wird. Er geniesst es, im Zentrum zu stehen, zu regieren und tun und lassen zu können, was er will.
Aber diese Freiheit hat ihren Preis: Sie bietet nicht die Liebe, Geborgenheit und Wärme an, die er zu Hause erhält. Darum entschliesst sich Max, die Heimreise anzutreten, zurück übers Meer und durch den Wald in sein Zimmer, wo das Essen für ihn bereitsteht. «Und es ist noch warm.» Kein anderer Satz könnte sinnlicher zusammenfassen, was es heisst, geliebt zu werden. Die wilden Kerle, deren König Max für eine Weile war, haben nicht dafür gesorgt, dass er warm hatte und etwas zu essen bekam.
So wie Max geht es ganz vielen Kindern: Nur im Ausprobieren der Freiheiten, in der Grenzüberschreitung, im Ausleben von Allmachtsfantasien kann die Sinnhaftigkeit von Regeln erfahren werden und wird spürbar, dass Elternliebe hält, durch alle Stürme hindurch.
Bild und Text spielen in dieser existenziellen Geschichte kongenial zusammen. Je weiter sich Max in seiner Fantasie von zu Hause entfernt, je näher er der fremden Monsterwelt kommt, je heftiger er seine Aggressionen ausleben kann, desto bildhafter wird die Erzählung. In der Mitte des Buches schliesslich erzählt Sendak in randabfallenden Bildern ganz ohne Text von seinen Abenteuern bei den wilden Kerlen.
Mit der Rückkehr von Max in sein Zimmer kehren auch die Worte zurück, und die Bilder werden wieder kleiner. Am Schluss steht der bereits zitierte Satz auf einer weissen Seite. Die Mutter von Max, die ihn zuvor ohne Nachtessen ins Bett schicken wollte, akzeptiert seine Trotzreaktion ohne Gegenleistung.
In «Wo die wilden Kerle wohnen» kehrt Sendak das Innere von Max nach aussen, seine Machtfantasien, seine Widerständigkeit. Diese Gefühle werden aber nicht mehr unter Strafe gestellt – im Unterschied etwa zu Heinrich Hoffmanns «Struwwelpeter». Sendak zeichnet also bereits 1963 – noch vor den radikalen Veränderungen, die die 1968-er-Jahre auch im Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen gebracht haben – ein Kindheitsbild, das den Entwicklungsphasen von Kindern Rechnung trägt und ihre Trotzphasen als notwendige Durchgangsstationen zu eigenverantwortlichem, selbstbewusstem Handeln sieht.
«Wo die wilden Kerle wohnen» ist in diesem Sinn zeitlos modern. Ein Buch, das in jede Kinderstube gehört.
Bewertung: *****
Bewertungsschema:
***** = Ein echter Klassiker!
**** = sehr empfehlenswert
*** = empfehlenswert
** = Zeitverschwendung
* = Ab in die Brockenstube damit!
Unsere Expertinnen
Barbara Jakob ist Projektleiterin in der Abteilung Literale Förderung des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM; Christine Tresch leitet die Abteilung Literale Förderung und ist Mitglied der Geschäftsleitung des SIKJM.
Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM
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