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Kinderbuchklassiker: Der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann (1845)

Kinderbuchklassiker: Der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann (1845)

  • Text: Sandra Weber; Kommentar: Christine Tresch und Barbara Jakob

Sind die literarischen Lieblinge unserer Kindheit noch zeitgemäss? Wir nehmen den Kinderbuchklassiker «Der Struwwelpeter» unter die Lupe.

Um was geht es?
Das Buch vom Struwwelpeter vereint zahlreiche Kurzgeschichten in gereimter Form. Namensgeber Struwwelpeter etwa erzählt von Peter, der zum Gespött der Leute wird, weil er sich nicht mehr waschen und kämmen will. Friederich, der «Wüterich», wird zur Strafe für sein tierquälerisches Tun von einem Hund ins Bein gebissen. Der Zappelphilipp fällt samt  Gedeck unter den Tisch, Hanns Guck-in-die Luft ins Wasser. Und die drei bösen Buben, die ein dunkelhäutiges Kind auslachen, werden zur Strafe in Tinte getaucht. Die Geschichten gehen allerdings nicht alle so glimpflich aus. So werden Konrad die Daumen mit der Schere abgeschnitten, weil er nicht aufhören will, daran zu lutschen. Der Kaspar verhungert, Robert fliegt davon, und Paulinchen, die gerne mit dem Feuer spielt, verbrennt gar bei lebendigem Leibe.

Kein Stoff für zarte Gemüter, wenn auch Hoffmann die Geschichten nicht so bierernst und moralisch gedacht hatte, wie sie heute zuweilen interpretiert werden. Im Gegenteil, ER wollte ihnen einen ironischen Unterton verleihen, es war seine Absicht, nicht über abschreckende Strafen, sondern über Einsicht zu erziehen. Die Geschichte richtet sich an Kinder, die sich in der sicheren Geborgenheit des elterlichen Daheims etwas gruseln möchten. Gruseln im Sinne von wohligem Schauern. Die Illustrationen, welche die Geschichten zumeist 1:1 in Bildern nacherzählen, laden zum Lachen und Staunen ein, letzteres auch, weil sie über 150 Jahre alt sind. Obwohl sich die Begebenheiten vor langer Zeit zugetragen haben mögen, haben sie nichts an Aktualität eingebüsst, können vielleicht sogar dazu beitragen, mit Kindern über ihre eigenen Erfahrungen, Konflikte und Ängste zu sprechen.

Entstehung
Heinrich Hoffmann war ein Frankfurter Arzt. Er schrieb und zeichnete den «Struwwelpeter» für seinen dreijährigen Sohn zu Weihnachten, weil er in den Geschäften kein für sein Kind geeignetes Werk fand. Die Kinder- und Jugendliteratur steckte damals sprichwörtlich noch in den Kinderschuhen. Zufälligerweise bekam es Verleger Zacharias Löwenthal zu Gesicht. Er erkannte den völlig neuartigen Typ von Kinderbuch und drängte Hoffmann zur Veröffentlichung. Dieser zögerte erst, liess dann die erste Auflage unter dem Pseudonym “Reimerich Kinderlieb” erscheinen. Im Herbst 1845 kamen die ersten 3000 Exemplare der Erstausgabe auf den Markt. Von da an folgte Auflage auf Auflage. Heinrich Hoffmann schrieb nach dem «Struwwelpeter» noch weitere Kinderbücher, aber auch Geschichten für Erwachsene, allerdings kam keines an den Erfolg seines Erstlings heran.

Weitere Infos
«Der Struwwelpeter» ist bis heute das erfolgreichste deutsche Kinderbuch. Es wurde in über vierzig Sprachen übersetzt und hat unzählige Adaptionen, sogenannte Sruwwelpeteriaden, erfahren. In Frankfurt am Main existiert gar ein Struwwelpeter-Museum.

Zu guter Letzt
Das Bilderbuch «Der Struwwelpeter» eignet sich für Kinder ab 5 Jahren und ist beim Esslinger Verlag erschienen.
In der Schweiz ist eine Mundart-Version erhältlich, welche etwas frischer und weniger scharf daherkommt als das Original. «De Strubelpeter» erschien im Verlag elfundzehn  und und wurde vom  Übersetzer und preisgekrönten Kinderbuchautor Jürg Schubiger mit einem erklärenden Nachwort versehen.

Der Kommentar der Expertinnen
Kein Bilderbuch ist so um die Welt gegangen wie der «Struwwelpeter» des Frankfurter Arztes, Psychiatriereformers und Gelegenheitsdichters Heinrich Hoffmann. Schon im 19. Jahrhundert wurde es in über vierzig Sprachen übersetzt. Hoffmann selber schreibt in seinen «Lebenserinnerungen»: «Der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergiessen, und die bösen Buben sind weiter auf der Welt herumgekommen als ich (…).»

Der «Struwwelpeter» wird heute nicht mehr in vielen Kinderzimmern vorgelesen. Nichtsdestotrotz sind die Geschichten vom bösen Friederich, von Hanns-Guck-in-die-Luft, vom Zappelphilipp oder von Paulinchen längst kulturelles Gemeingut geworden.

Hoffmann erzählt diese Warn- und Strafgeschichten mit viel Humor, fern jeder Ernsthaftigkeit. Sein Blick auf Kinder hebt sich vom Kindheitsbild, wie es Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschte, ab. Hoffmann idealisiert Kinder nicht, wie die romantische Strömung das tat, er verniedlicht sie aber auch nicht, wie das in der Biedermeierzeit gang und gäbe war. In seiner Arbeit als Arzt lernte er viele trotzige, jähzornige Kinder kennen und kam zur Überzeugung, dass Eltern und Erzieher Kinder lehren sollten, mit ihren überbordenden, unbeherrschten Seiten umzugehen. In diesem Sinne sind im «Struwwelpeter» keine moralischen Beispielgeschichten versammelt, sondern «elementare Klugheitslehren» – so der Frankfurter Kinderliteraturforscher Hans-Heino Ewers –, die Kindern drastisch aufzeigen sollen, wo im Leben Gefahren lauern.

Ebenso stark wie die Geschichten haften die «Struwwelpeter»-Illustrationen in unseren Köpfen. Heinrich Hoffmann war es wichtig, dass sich auch die Bilder zu seinen Geschichten vom Zeitgeist abheben. Als Erster nutzte er darum Elemente aus der zeitgenössischen Karikatur für ein kinderliterarisches Werk. Das Schicksal der grotesk überzeichneten Figuren lässt sich gut vom Leib halten, und es soll über sie – gerade wegen der Tragik, die ihr Handeln mit sich bringt – auch herzhaft gelacht werden.
«Struwwelpeter» ist ein vielschichtiges Werk, dem nur vordergründig Erziehungsabsichten unterstellt werden können. Die Lust, einmal ungezogen zu sein, kommt genauso zum Zug. Dieses Spiel um Frechheit und Bestrafung und der grauslige Schrecken, der am Ende der meisten Geschichten steht, fasziniert heute noch Gross und Klein. Der Struwwelpeter und seine Kameraden leben weiter, im Original, in den vielen Nachahmer-Texten und in unserem kulturellen Gedächtnis.

Bewertung: ***

Bewertungsschema:
***** = Ein echter Klassiker!
**** = sehr empfehlenswert
*** = empfehlenswert
** =  Zeitverschwendung
* = Ab in die Brockenstube damit!

Unsere Expertinnen
Barbara Jakob ist Projektleiterin in der Abteilung Literale Förderung des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM; Christine Tresch leitet die Abteilung Literale Förderung und ist Mitglied der Geschäftsleitung des SIKJM.

Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM
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