Die #MeToo-Bewegung findet sie heikel und die zunehmende Lustfeindlichkeit gefährlich: Ein Gespräch mit der deutschen Philosophin Svenja Flasspöhler über Begehren und weibliche Opferhaltung.
annabelle: Svenja Flasspöhler, Sie doktorierten in Philosophie zum Thema Lust und Pornographie und schrieben ein Buch über den «Genussarbeiter». Nun haben Sie sich lautstark und sehr kritisch in die aktuelle #MeToo-Debatte eingeschaltet und fordern eine «neue Ökonomie der weiblichen Lust». Was finden Sie so faszinierend am menschlichen Begehren?
Svenja Flasspöhler: Nun ja, ich würde wohl tatsächlich nicht über Lust und Genuss nachdenken, wenn ich ein komplett unkompliziertes Verhältnis dazu hätte. Ich kenne auch die dunkle Seite der Lust.
Den Reiz des Exzesses?
Als ich mit Mitte zwanzig nach Berlin kam, war ich oft in Clubs unterwegs. Ich mochte es, mich in den Nächten komplett zu verlieren. Die Frage, wie man eigentlich mit dieser Seite im Menschen umgeht, die düster ist und etwas will, was die eigene Rationalität eigentlich nicht will, das hat mich interessiert. Und als Philosophin interessierte mich natürlich auch die grund- sätzliche Funktion der körperlichen Erregung.
Um dies herauszufinden, haben Sie viel Marquis de Sade gelesen …
Weil mit dem Marquis de Sade Ende des 18. Jahrhunderts erstmals eine Art von Pornografie in Erscheinung tritt, die einzig und allein der Lusterzeugung dient. Just zu dem Zeitpunkt also, wo Gott kulturhistorisch zu einer so fragwürdigen Figur geworden ist. Das ist, muss man zugeben, doch sehr spannend.
Die körperliche Erregung als Gottesersatz?
Genau. Die transzendentale göttliche Bezugsgrösse wird zum Anbeginn der Moderne in den menschlichen Körper verlagert. Bei Marquis de Sade wird der Mensch zu einer Art Erregungsmaschine. Damit das Dasein in Gang bleibt, muss auch die Erregung immer in Gang gehalten werden.
Aber wir tun uns heute doch zunehmend schwer mit dem Genuss. Zucker? Ungesund. Erholung? Keine Zeit. Sex? Nicht so wichtig. Selbst die die Beziehung zwischen Mann und Frau betrachten wir primär als Geschlechterkampf.
Nun – ich esse gerade einen vorzüglichen Kuchen mit viel Schlagrahm. Natürlich wäre es besser, das alles hätte keinen Zucker. Denn was wir heute als Genusspraktiken kultivieren, ist ja der rationale Genuss; der Genuss, der nicht exzessiv ist, nicht ungesund, sondern der uns reinigt und uns entspannt sein lässt.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang von der Tyrannei der Selbstoptimierung, wo selbst die Tasse Tee zur therapeutischen Genussübung wird.
Man kann in der heutigen Leistungsgesellschaft eine eigentümliche Verkehrung beobachten, nämlich dass Arbeit immer stärker zum Genuss wird, zu einer Art von exzessiver Lust, bei der man sich sogar anstrengen muss, sie zu bremsen, um sich nicht willig ins eigene Burnout zu manövrieren. Umgekehrt wird der Genuss immer mehr zur Arbeit, zur Anstrengung. Schon Theodor W. Adorno stellte 1944 in der «Dialektik der Aufklärung» fest, dass die Ferien im Spätkapitalismus nur noch dazu da sind, um uns wieder fit zu machen für die Arbeit.
Sehen Sie in diesem Zusammenhang Parallelen zur Pornografie?
Der Sex, den wir in Pornofilmen präsentiert bekommen, hat etwas Fliessbandmässiges, Maschinelles, Automatisiertes. Gleichzeitig geht es die ganze Zeit um Lust. Und genau diese Verbindung manifestiert sich auch in kapitalistisch verfassten Arbeitsverhältnissen, in denen es zwar vordergründig um lustvolle Kreativität geht, aber natürlich auch, und vielleicht sogar vor allem, um profitable Produktivität. Diese Logik des «Yes, you Can» hat etwas sehr Pornologisches.
Letztlich führt es immerhin zum Orgasmus.
Vielleicht sogar, und da kommen wir auf de Sade zurück, zu Höhepunkten in einer Endlosschleife, man denke an den hochgekoksten Manager oder Investmentbanker. Tief und nachhaltig erfüllend ist die Arbeit aber wohl nicht. Man kann die Art der Befriedigung eher mit geschmacksverstärkten Kartoffelchips – oder eben dem Konsum von Pornogaphie – vergleichen. Man konsumiert und konsumiert, Chips und Pornos können regelrecht süchtig machen; auch wenn – oder gerade weil – der Konsum letztlich frustrierend ist. Der Philosoph Gernot Böhme unterscheidet entsprechend zwischen Bedürfnissen und Begehrnissen. Ein Bedürfnis ist gestillt, wenn man es befriedigt. Ein Begehrnis hingegen steigt, je mehr man es zu stillen versucht. Dass unsere Gesellschaft also «pornografisiert» ist, wie man so schön sagt, stimmt tatsächlich – allerdings nicht, weil wir ein ungezwungenes Verhältnis zum Sex hätten, sondern weil wir uns gerade umgekehrt zwanghaft in der Arbeit verausgaben.
Sie bedauern die zunehmend lustfeindliche Zeit. Warum?
Weil wir die Lust an der Überschreitung, die ja kennzeichnend ist fürs Geniessen, zunehmend in der Arbeit ausleben, ja, ausleben sollen. Wohingegen der eigentliche, zweckfreie Genuss, das Sich-Verschwenden, das Sich-Ergiessen, von dem der französische Philosoph Georges Bataille spricht, zunehmend verpönt ist und aus dem alltäglichen Leben verbannt wird.
Ist das nur schade oder auch gefährlich?
Ich bin überzeugt, dass wir Menschen dringend kulturell eingefasste Orte brauchen, in denen wir auch das Ungesunde, das Abgründige leben können. Doch dort, wo heutzutage etwas gefährlich werden könnte, unangenehm oder ungesund, schliessen wir zunehmend die Räume. Das geht vom Rauchverbot bis dahin, dass wir – Stichwort #MeToo – in Museen bestimmte Bilder nicht mehr ertragen. Man muss sich wundern, dass das Bild «L’origine du monde» von Gustave Courbet noch im Louvre in Paris hängt.
Zu Ihrer Doktorarbeit über Pornografie und Lust haben Sie der Film und das Buch «Baise-moi» von Virginie Despentes aus dem Jahr 2000 inspiriert. In «Baise-moi» ziehen zwei Frauen, die vergewaltigt wurden, Männer mordend durchs Land. Bevor sie die Männer umbringen, schlafen sie mit ihnen. Ein brutales Buch und ein ebenso brutaler Film.
Unfassbar brutal – und ein tiefer Blick in den Abgrund auch des weiblichen Begehrens!
Virginie Despentes meinte kürzlich in einem Interview, dass ein Buch wie «Baise-moi» heute keinen Verleger mehr finden würde. Zu viel Sex, meinte sie: «Filme, Kunst, Literatur, alles ist so prüde, der Sex wurde ausgelagert in den Porno.»
Ach, ich glaube, Sex verkauft sich immer noch ganz gut, tendenziell aber hat Despentes sicher recht. Kultur ist meines Erachtens massgeblich auch dazu da, der Lust in uns eine Form zu geben. Anders gesagt: Durch Kultur bekommt die Lust, anstatt zum Exzess auszuarten, Stil – und also auch eine Grenze. Wenn wir nun aber dem Menschen die Möglichkeit nehmen, auch seine düstere Seite auf eine gesellschaftskompatible Weise auszuleben, stellt sich die Frage: Wohin dann damit? Soll jeder für sich allein damit klarkommen? Das halte ich für problematisch und, ja, auch für gefährlich.
Was hat Sie am Film «Baise-moi» so beeindruckt?
Unter anderem wie bewusst er mit mainstream-pornografischen Elementen arbeitet, mit Szenen also, die auch in normalen Pornos vorkommen könnten. Mich interessierte, inwiefern es möglich ist, sich aus einem feministischen Impuls heraus männliche Darstellungsformen anzueignen, um ein emanzipatorisches Potenzial zu erlangen. Der Zusammenhang von Pornografie, Feminismus und Weiblichkeit, das ist etwas, das mich damals sehr fasziniert hat – und mich, wenn auch in anderer Form, eigentlich bis heute beschäftigt.
Denken feministische Geisteswissenschafterinnen über Pornografie nach, geht es eigentlich immer auch um Machtmissbrauch und sexuelle Ausbeutung. Sie hingegen blendeten diese Themen in Ihrem Buch «Der Wille zur Lust» eher aus.
Pornografie vor dem Hintergrund von Ausbeutungsverhältnissen zu betrachten, hat natürlich seine Berechtigung – ist aber ein anderer Diskurs. Wobei ich auch sagen muss: Die landläufige Unterstellung, dass alle Frauen, die in Pornos mitmachen, dies gezwungenermassen tun, ist eine Form von Paternalismus. Denn es gibt Frauen, die freiwillig und gerne vor der Kamera Sex haben und darin ihre Art von Befreiung sehen. Auch Despentes hat sich übrigens nach eigenen Aussagen, so sagt sie selbst, prostituiert, um sich von einem Trauma zu befreien. Dem Trauma der Vergewaltigung, die sie mit 17 erleben musste. Was mich aber tatsächlich viel mehr interessiert, ist der Überbau, nämlich die Tabuisierung der weiblichen Lust, des weiblichen Begehrens in der abendländischen Kulturgeschichte. Man muss nur Sigmund Freud lesen.
Der behauptet hat, die Frau habe gar keine eigene Libido, kein eigenes Begehren.
Eine Entsprechung, ja, die Legitimation für seine Argumentation glaubte er in der Natur zu finden: Für die Fortpflanzung des Menschen sei schliesslich allein der männliche Orgasmus gefragt. Dieser Topos, nämlich dass nur der Mann eine Potenz besitze, war schon lange vor Freud existent. Im Patriarchat war der Zusammenschluss von Weiblichkeit und Lust schlicht nicht vorgesehen; wenn, dann nur in pathologischer Form, weil er eine zu grosse Bedrohung darstellte. Und dieser Mangel wirkt, obwohl das Patriarchat rechtlich klar und eindeutig vorbei ist, bis heute nach.
Bis hinein in die aktuelle #MeToo-Debatte, wie Sie monieren.
Ja, ich behaupte, dass diese Debatte einen blinden Fleck hat. #MeToo-Befürworterinnen sagen, sie würden die Frau aus dem Patriarchat befreien. Im Grunde aber wiederholen sie patriarchale Denk-muster: Die Frau ist schwach. Sie kann sich nicht wehren. Das männliche Begehren ist mächtig und brutal, das weibliche schlicht nicht existent.
Könnten Sie noch etwas konkreter werden?
Viele Frauen, die sich im Rahmen von #MeToo öffentlich geäussert haben, erweckten mit ihren Beschreibungen des Erlebten letztlich genau diesen Eindruck: Es gibt da diesen allmächtigen Phallus, der setzt das Begehren, der gibt den Takt vor, der macht den ersten und auch den letzten Schritt. Die Frau hingegen kann eigentlich nur reagieren, sich schützen, abwehren, sich zurückziehen. Aber sie hat nichts Eigenes. Als gäbe es keine eigene libidinöse weibliche Kraft – und das finde ich fürs 21. Jahrhundert doch sehr erstaunlich.
Lenken Sie damit nicht auf einen theoretischen Nebenschauplatz ab? Der mag Philosphinnen wie Sie interessieren, aber sicher nicht die Frauen, die tatsächlich von Männern in Machtpositionen sexuell belästigt oder gar vergewaltigt worden sind.
Natürlich muss man differenzieren, aber genau dies passiert in diesem Diskurs nicht. Nehmen Sie nur den Namen: MeToo – ich auch. Was aber heisst denn: ich auch? Heisst das nun: Ich bin auch vergewaltigt worden? Oder: Ich bin auch belästigt oder bedrängt worden? Dass Straftatbestände wie Vergewaltigung oder auch der sexuelle Missbrauch absolut inakzeptabel sind und entsprechend bestraft gehören, ist ja völlig klar. Klar ist aber auch, dass es Situationen gibt, in denen Frauen durchaus Handlungsoptionen hätten. Man muss nicht für ein Bewerbungsgespräch mit aufs Hotelzimmer gehen. Man muss nicht sein eigenes Empfinden zurückstellen, um Männern zu gefallen oder sie bloss nicht zu enttäuschen. Man kann sich klar distanzieren. Das ist schwer, gewiss, aber Selbstbestimmung nicht nur einzufordern, sondern auch konkret zu leben, war noch nie einfach. Das Problem von #MeToo ist, dass diese Initiative alles vom Staat und von den Männern erwartet, aber nichts von den Frauen. Und auch beim Vorwurf der Belästigung muss man genauer hinsehen. Haben Frauen hier etwa nur die Chance, sich hinterher zu beschweren? Nehmen wir zum Beispiel die Urszene des #Aufschrei.
Der Fall Rainer Brüderle aus dem Jahr 2012.
Die Journalistin Laura Himmelreich steht abends an einer Hotelbar neben diesem FDP-Politiker. Irgendwann starrt dieser auf ihre Brüste und sagt: «Ach, sie könnten aber auch ein Dirndl ausfüllen.» Und was macht Frau Himmelreich? Sie sagt offenbar – gar nichts. Stattdessen schreibt sie einen Artikel. Dabei hätte sie doch die Möglichkeit gehabt, zu reagieren, und zwar an Ort und Stelle: Schätzchen. Lass mal stecken. Deine Zeit ist eh bald vorbei. Hingegen den Eindruck zu erwecken, dass einem als Frau nur bleibe, hinterher nachzutreten und #Aufschrei zu posten, ist eine Form von Infantilisierung, die ich nicht akzeptieren will. Da macht sich die Frau definitiv kleiner, als sie ist. Hinzu kommt: Wenn solche Auseinandersetzungen zwischen Mann und Frau nicht mehr unmittelbar ausgetragen werden, sondern der Öffentlichkeit die Rolle der Richterin zugeschrieben wird, verhärten sich die Fronten zwischen den Geschlechtern. Letzter Punkt: Nehmen wir nur mal an, nicht Rainer Brüderle hätte Frau Himmelreich auf diese Weise auf ihre Brüste angesprochen, sondern, sagen wir, George Clooney – wer weiss, ob sie dann auch einen Artikel darüber geschrieben hätte. Was wir als Belästigung oder Verführung wahrnehmen, ist, das will ich damit sagen, extrem kontextabhängig.
An #MeToo frustriert mich als Mann der Aspekt, dass quasi alle Männer in Sippenhaft genommen werden.
Diese Verdinglichung des Mannes, die man gut ablesen kann in dieser Debatte, seine Reduktion auf etwas Animalisches, Triebgesteuertes ist der traurige Versuch, den Spiess einfach umzudrehen. Schliesslich wissen Frauen sehr genau, wie es ist, auf die eigene vermeintliche «Natur» reduziert zu werden. Sie haben es jahrhundertelang selbst erfahren. Zudem wird so getan, als seien die Fälle Weinstein oder Wedel das Symptom einer nach wie vor existenten patriarchalen Struktur, die Frauen systematisch unterdrückt. Dabei gehören diese Männer einer – zum Glück! – aussterbenden Generation an, und Vergewaltigung ist, auch wenn sie viel zu häufig geschieht, längst nicht die Regel. Wenn wir über systematische Ungleichheit sprechen wollen, dann doch lieber über zum Beispiel ungleiche Bezahlung. Dann hätte man wirklich ein strukturelles Problem am Haken. Ist aber halt nicht so sexy. Übrigens ist auch bezeichnend, dass die meisten Skandalfälle, die als Beleg herangezogen werden, aus den 1980er- und 1990er- Jahren stammen. Das ist dreissig, vierzig Jahre her! Jahre, in denen sich gesellschaftlich wahnsinnig viel getan hat. Es wird aber so getan, als könne man problemlos von damals auf heute schliessen. Woher kommt dieses Festhalten am Opferdiskurs? Liegt es daran, dass der Feminismus noch keine neue Erzählung gefunden hat?
Womit wir wieder bei Freuds Theorie der weiblichen Impotenz wären. Wie funktioniert denn diese kulturelle Dynamik, dass so etwas bis heute nachhallt, obwohl die wenigsten Freud gelesen haben dürften?
Dazu eine kleine Anekdote. Meine Tochter kam neulich nachhause und berichtete stolz, dass sie in der Schule nun auch Sexualkunde hätten. Sie fand das total spannend und erklärte mir, wie das weibliche Geschlecht aufgebaut ist, mit inneren und äusseren Schamlippen, Klitoris, Gebärmutter … Ich fragte sie dann, wie die Lehrerin das weibliche Geschlecht denn bezeichnet habe. Sie antwortete: Scheide. In eine Scheide steckt man ein Schwert. Dazu ist sie da. Warum sagen wir nicht ganz selbstverständlich Vulva? Das wäre viel richtiger, denn damit ist das komplexe, sichtbare Geschlecht der Frau gemeint. Das sagt aber niemand. Vulva: Das tönt so sexuell, so wollüstig. Da fängt es doch schon an.
Im Grunde müssten Sie dankbar sein für #MeToo. Denn letztlich geht es genau darum, Mann und der Welt endlich klar zu machen: Nein, nur für das allein ist das weibliche Geschlecht eben genau nicht da?
Es gibt zwei Wege, wohin sich diese Debatte nun entwickeln kann. Der eine folgt der Logik: Frauen sind unterdrückt und komplett hilflos und wir müssen die Gesellschaft so umstricken, dass wir sie vor dem potenziell aggressiven, gewalttätigen Mann schützen können. Dieser Weg führt, wie es Thea Dorn formuliert hat, zu einem moralischen Totalitarismus, den ich entschieden ablehne. Der andere Weg führt zur Ermächtigung der Frau und zur Frage nach ihrer spezifischen Potenz, die es endlich freizusetzen gilt. Anders gesagt: Wir müssen darüber reden, warum sich Frauen als so hilflos empfinden und warum das weibliche Begehren so eigentümlich leer bleibt. Wir müssen dafür sorgen, dass Frauen von der Passivität in die Aktivität kommen, existenziell und sexuell. Reflexartig den Männern dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben, dass wir Möglichkeiten ungenutzt lassen, auch beruflich übrigens, ist viel zu einfach und, ja, unfair. Frauen müssen sich auch selbst hinterfragen. Kein Fortschritt ohne Selbsterkenntnis. Ich würde mir sehr wünschen, dass der gegenwärtige Hashtag-Feminismus in der Lage wäre, diese Dialektik zu sehen.
Sie sind Chefredaktorin des «Philosophie-Magazins». Die Titelgeschichte der letzten Ausgabe lautete: «Einfach leben. Warum ist das so kompliziert.» Diese Frage würde ich gerne aufnehmen.
Einfach zu leben ist schon allein deshalb kompliziert, weil wir keine Tiere, sondern Menschen sind. Tiere haben ein gänzlich unmittelbares Verhältnis zu ihrer Lust, zu ihrem Begehren. Wir Menschen hingegen sind Kulturwesen, die aufgefordert sind, selbst körperliche Bedürfnisse an gesellschaftliche Bedingungen und Anforderungen zu knüpfen. Andererseits wird das Leben dadurch kompliziert, sodass wir nicht mehr wissen, was wichtig ist und was unwichtig, was wir wollen und worum es im Leben eigentlich geht.
Und wie finden wir zurück zur Einfachheit?
Wir entwickeln das einfache Leben an drei Konzepten: Askese, Minimalismus und Authentizität. Der Asket übt sich darin, sich auf das zu konzentrieren, worum es ihm wirklich geht. Und um sich in dieser einen Sache zu perfektionieren, verzichtet er auf andere Dinge. Der Minimalismus wiederum ist ein ästhetisches Konzept, das inspiriert ist durch die fernöstliche Philosophie und das Konzept des Nichts: Strebe nicht die Fülle an, sondern die Leere. Es geht hier zentral um die Schönheit des Schlichten, das den Geist nicht erstickt, sondern ihm Raum lässt. Und die Authentizität meint die Fähigkeit des Menschen, sich im richtigen Moment frei zu machen von Ansprüchen und gesellschaftlichen Anforderungen, um sagen zu können: Nein, mach ich nicht! I would prefer not to. Die Kunst des Neinsagens ist die Kunst des authentischen Menschen.
Sie sind verheiratet, Mutter von zwei Kindern, Autorin, Chefredaktorin … Eben habe ich einen scheuen Blick in Ihre Agenda geworfen: Unterbeschäftigt scheinen auch Sie nicht zu sein. Ziehen also auch Sie einen narzisstischen Gewinn aus der Selbstausbeutung?
Klar, alles andere wäre gelogen. Gleichzeitig ist die Arbeit aber auch das, wo ich mich wirklich vergessen kann. Wenn ich ganz drin bin im Schreiben, ist mein Ich wie verschwunden. Die Erfahrung der Selbstvergessenheit ist eine ungeheure Entlastung. Und wohl die grösste Erfüllung, die dem Menschen möglich ist.
Helfen da im Alltag auch die Familie, die Kinder?
Sehr sogar. So anstrengend Familie und Kinder auch oft sein mögen. Das Wunderbare an Kindern ist ja, dass sie vormachen, wie man sich auch jenseits der Arbeit vollkommen selbst vergessen kann. Ich persönlich brauche diesen Nachhilfeunterricht ganz dringend.
Haben Sie jeweils tatsächlich die nötige Geduld für dieses zweckfreie Lustempfinden?
Am einfachsten ist es, wenn wir alle in unserem Schrebergarten sind und in der Hollywoodschaukel hängen. Da entspanne ich sofort. Zuhause ist das oft nicht so leicht. Ich singe meinem Sohn jeden Abend das Lied «Der Mond ist aufgegangen» vor. Mittlerweile kann ich das Lied so gut, dass ich singen und gleichzeitig im Kopf an meinem neuen Buch schreiben kann. (lacht)
Sie sagen: Gerade in der Ablenkung vom Ich kann etwas zutiefst Sinnstiftendes liegen. Dabei haben Sie selber fünf Jahre lang eine Psychoanalyse gemacht, die höchste Form der Beschäftigung mit sich selbst. Kein Widerspruch?
In meinem Fall war die Psychoanalyse – ja, ich würde sagen: lebensentscheidend. Meine Kindheit war eine Geschichte von vielen Scheidungen und Trennungen. Mein Vater zog aus, als ich noch sehr klein war, meine Mutter hat unsere Familie verlassen, da war ich 14 Jahre alt. Ich bin schlussendlich mit meiner Halb- und meiner Stiefschwester bei meinem Stiefvater aufgewachsen. Als ich nach Berlin kam, fing ich eine Psychoanalyse an, um diese Verlusterfahrungen aufzuarbeiten. Und bei so einer Analyse geht es ja nicht um die Geschichte, die man sich selbst erzählt, um sich zu rechtfertigen. Sondern man zerlegt sich komplett, um sich dann anders wieder zusammenzubauen.
Aber ist Psychoanalyse nicht auch eine Form der Selbstoptimierung?
Schon, aber nicht diese übliche, von Effizienz getriebene Form. Eine Psychoanalyse ist eine lange Reise, aus der man ganz verwandelt wieder hervorgeht. Für mich war es wahnsinnig interessant, mich selbst kennenzu lernen. Ich habe mich jedenfalls schon oft gefragt, ob ich heute einen Mann und Kinder hätte, wenn ich keine Psychoanalyse gemacht hätte.
Und Ihre Antwort?
Ich wäre wohl Single. Vielleicht hätte ich einen Hund, ja, vermutlich hätte ich einen Hund. Und ich bin ganz froh, dass ich heute keinen Hund habe.
• Svenja Flasspöhler: «Die potente Frau». Ullstein Verlag, 80 Seiten. Das Buch erscheint am 27. April