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Ich habe keine eigenen Kinder – aber ich liebe es, Nenntante zu sein

Familie

Ich habe keine eigenen Kinder – aber ich liebe es, Nenntante zu sein

Man muss nicht selbst Kinder kriegen, um welche im Leben zu haben, schreibt Redaktorin Esther Göbel. Eine Liebeserklärung an das Dasein als Nenntante.

Ich habe eine kleine gute Freundin. Sie heisst Frida*, ist zehn Jahre alt und die Tochter meiner besten Freundin. Ich bin dreissig Jahre älter als sie, aber Frida und mich verbindet so einiges: Wir mögen zum Beispiel beide gerne die Farben Pink, Türkis und Lila. Wir lieben beide Schokolade. Und wir stehen beide auf die Musik von Taylor Swift.

Ich kenne Frida seit ihren ersten Lebenstagen. Ich weiss, wie sie als Baby roch, was sie in ihrer Trotzphase immer tat, wenn sie vor Wut fast explodierte, und welches Hobby sie gerade besonders gerne macht. Dasselbe gilt für Fridas zwei kleine Brüder, von denen der jüngere, Noah*, mein Patenkind ist.

Neulich sassen Frida und ich bei ihrer Mutter auf dem Sofa. Wir quatschten über die Schule und über Jungs, dazu assen wir süss-saure Schnüre in Regenbogenfarben, die Frida in einer Kiste unter ihrem Bett aufbewahrt. Irgendwann fragte sie mich, warum ich eigentlich keine eigenen Kinder habe und ob ich wohl noch welche kriegen würde. «Na ja, ich habe doch euch!», antwortete ich intuitiv, ohne lange nachzudenken. «Stimmt», sagte Frida. «Hätte ich ein eigenes Kind, hätte ich gar nicht mehr so viel Zeit, wir würden uns viel weniger sehen», schob ich nach. «Stimmt», antwortete Frida.

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«Ich wusste immer, dass ich Kinder in meinem Leben haben will – nur nicht zwingend eigene»

Erst zuhause, als ich auf meinem eigenen Sofa sass, fiel mir auf, wie viel in diesem Satz lag: «Na ja, ich habe doch euch!» Wie viel Wärme, Liebe, Geborgenheit und Heimat in diesen fünf kleinen Worten steckt. Frida und ihre beiden Brüder sind für mich Familie. Ich habe zu jedem Kind eine innige Bindung und liebe alle drei, obwohl ich nicht ihre Mutter bin – obwohl ich gar keine Mutter bin. Was ich durchaus als glücklichen Zustand begreife.

Lange Jahre, meine ganzen Dreissiger hindurch, hatte ich mich ambivalent gefühlt in der Frage, eigenes Kind ja oder nein? Eine einzige Situation – ich war damals sehr verliebt – gab es, in der ich wirklich das Gefühl hatte, ein eigenes Baby zu wollen. Man könnte sagen, dass dieses Gefühl, zart wie ein Stückchen Gaze, einem Kinderwunsch gleichkam.

Aber die Vision in meinem Kopf verstetigte sich nicht in der Realität. Die Gaze flog davon. Und ich lernte schliesslich, auf das weitaus stärkere Gefühl in mir zu vertrauen, das mir sagte: Ich habe nicht das Bedürfnis, ein Kind auszutragen oder die körperliche Erfahrung einer Geburt zu machen. Und auch sonst: Ich möchte lieber kinderlos bleiben. Aber ich wusste immer, dass ich Kinder in meinem Leben haben will – nur nicht zwingend eigene.

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«Es gibt auch andere Wege, Fürsorge auszuüben und Kinder aufwachsen zu sehen, als selbst welche zu bekommen»

Die Kinder meiner besten Freundin sehe ich oft. Sie ist alleinerziehend, die Kinder sind fünf, acht und bald elf Jahre alt. Montag ist mein Familientag: Gegen 14 Uhr hole ich mein Patenkind aus der Kita ab. Danach gehen wir auf den Spielplatz oder im Sommer in die Badi, essen Glace, lesen Bücher, üben Weitsprung oder schauen auf meinem Handy die zehn gefährlichsten Greifvögel der Welt an.

Mit Frida habe ich neulich den Tag der offenen Tür ihrer potenziellen neuen Schule besucht. Die allererste Übernachtung ausserhalb seines Zuhauses des Mittleren war bei mir. Wenn meine beste Freundin zwei Tage lang Blockfortbildung in einer anderen Stadt hat, übernehme ich die Kinder. An den Wochenenden unternehmen wir zusammen Ausflüge, im Sommer zelten wir.

Natürlich: Meine Liebe zu Frida und ihren Brüdern ist eine andere als die ihrer Mutter. Die damit verbundenen Ängste, Sorgen und Pf lichten kann ich im ganzen Ausmass nur erahnen. Ich würde aus diesem Grund niemals behaupten, Kinder im Freundeskreis können einen ausreichend glücklich machen, wenn man sich nichts mehr wünscht als ein eigenes Baby.

Aber ich kann sagen, dass es auch andere Wege gibt, Fürsorge auszuüben, Verantwortung zu übernehmen und Kinder aufwachsen zu sehen, als selbst welche zu bekommen. Man muss keine Mutter sein, um diese elterlichen Konzepte leben zu können, auch kein Vater – und vielleicht ist das selbstgewählte Tanten- oder Onkel-Dasein sogar der passendere Weg für manche Menschen. So wie für mich.

Ich wollte in meinem Leben immer viel denken, durch meine Arbeit viel gestalten, lesen, mir anschauen, wie andere Menschen das Leben bewerkstelligen. Nur sind das für eine Frau noch immer keine gültigen Kriterien. Sie reichen der gesellschaftlichen Meinung nach für eine Frau nicht aus, um ein erfülltes Leben zu leben. Das haben sie noch nie.

Das Patriarchat hat Frauen über Jahrtausende an den Herd verwiesen, sie von Wissenschaft, Kunst, Politik und öffentlicher Repräsentanz ferngehalten. Aber vielleicht liegt die Retraditionalisierung der Hausfrauen- und Mutterrolle, die sich seit einiger Zeit unter dem Trend «tradwives» auf Tiktok und in tränenreichen Schwangerschaftsreels auf Instagram beobachten lässt, auch daran, dass man ein süsses Baby viel besser vorzeigen kann als eine Frau beim Denken.

«Das ist keine Notlösung. Sondern ein alternatives Modell, das sehr gut für mich passt»

Ich muss 35 Jahre alt gewesen sein, als ich bei meiner damaligen Frauenärztin sass. Es war ein ganz normaler Kontrolltermin, aber meine Frauenärztin vergass für einen Moment ihre ärztliche Distanz: Auf meine eher theoretisch gemeinte Frage, ob ich mich in meinem Alter beeilen müsste, sollte ich selbst ein Kind wollen, schleuderte sie mir als Antwort entgegen, dass ich mich gehörig beeilen solle. Denn ohne eigene Kinder hätte ich auf lange Sicht niemanden, um den ich mich kümmern könne. Und auch niemanden, der sich um mich kümmern würde.

Es ist genau dieses Narrativ, das Frauen, die freiwillig kinderlos sind, noch immer viel zu oft entgegengeknallt wird: Dass eigene Kinder absolut notwendig sind, um Fürsorge, Liebe und Erfüllung erleben zu können. Dass ohne das grosse Kümmern kein Glück möglich ist (für einen Mann scheint das übrigens nicht zu gelten). Dass eine Frau, die sich bewusst gegen eigene Kinder entschieden hat, diese Entscheidung irgendwann bereuen wird, spätestens im Alter. Dass sie der einsamste Mensch der Welt sein wird.

Was für ein Unsinn! Wäre ich damals nicht so sprachlos gewesen, hätte ich meiner Frauenärztin von meiner selbstgewählten Kinderlosigkeit und dem Kinderglück in meinem Leben berichtet, das mich bereichert – und zwar genau in dem Masse, wie ich es brauche. Nicht als Notlösung. Sondern als alternatives Modell, das sehr gut für mich passt. Weil dieses Modell Platz für andere Dinge lässt, die mir wichtig sind im Leben. Spontanität zum Beispiel. Aber auch Freiheit, Ruhe, Zeit in der Natur und für meine Freund:innen, zu denen ich intensive Beziehungen pflege. Zeit fürs Schreiben.

Es gibt ein Wort, das den Blick der Gesellschaft auf kinderlose, «defizitäre» Frauen wie mich sehr schön beschreibt: Nullipara. Das Wort ist in der Biologie und Medizin geläufig, leitet sich aus dem Lateinischen ab und setzt sich zusammen aus nullus (kein) und dem Verb parere (gebären). Die französische Feministin Elisabeth Badinter benutzt den Begriff in ihrem Buch «Der Konflikt – die Frau und die Mutter»: «Eine Nullipara ist eine Frau, die noch kein Kind geboren hat. Ob die Kinderlosigkeit nun erlitten oder gewählt ist, der Begriff setzt die Frau mit der Mutter gleich und verweist auf einen Mangel, eine Unvollkommenheit. (…) Für Letztere ist die Nullipara ihres Wesens beraubt, sie hat keinen Platz in der Welt.»

Anders formuliert: Die Nullipara ist eine Null. Auch andere Feministinnen haben sich mit den Fragen beschäftigt: Was ist eine Frau, wenn sie nicht gebärt? Was ist dann ihre Daseinsberechtigung? Wo ist ihr Platz in der Welt?

«Heisst es nicht immer, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen?»

Wenn ich die Frauen, die sich für eigene Kinder entschieden hatten, nach ihren Gründen fragte, waren die Antworten mannigfaltig. Immer aber sollten die Kinder, sollte die eigene Familie, einen Schutz davor bieten, allein zu bleiben. Nur sind eigene Kinder nicht zwangsläufig der heilige Schutzschild, der einen vor der grossen Einsamkeit bewahrt. Zerrüttete Familien, Mütter, die sich allein gelassen fühlen, oder erwachsene Kinder, die ans Ende der Welt ziehen: alles möglich.

Warum also nicht in anderen Konzepten denken? Meine beste Freundin und ich haben nie geplant, unsere Leben so eng aufeinander abzustimmen. Aber manchmal entwickeln sich Dinge anders als geplant. Das Leben kommt dazwischen. Man wächst zusammen, ohne dass man es bemerkt. Heute sind meine beste Freundin und ich sehr dankbar dafür. Wir halten unser enges Miteinander für eine Win-Win-Win-Win-Win-Situation.

Und ich frage mich, wieso freiwillig Kinderlose mit dem Wunsch nach Gemeinschaft und Verantwortung sich nicht häufiger mitkümmern um die Kinder ihrer Freund:innen, ganz bewusst? Heisst es nicht immer, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen? Erzählen mir nicht die meisten jungen Elternpaare in meinem Freundeskreis, es mangele ihnen an Unterstützung, gerade in der Stadt? Und gibt es nicht immer wieder Freundschaften, die daran zerbrechen, dass der eine Part sich ins Eltern-Dasein verabschiedet und der andere nicht mehr weiss, wo der Freund oder die Freundin abgeblieben ist?

All das muss nicht so sein. Man muss sich nur zusammenschliessen. Das wäre sogar im Sinne der Wissenschaft. Denn die weiss seit Langem, dass Elternschaft in vielen Kulturen ein Konzept ist, das sich nicht nur auf die biologische Mutter als Hauptfigur stützt oder allenfalls noch auf den Vater. Sondern auf mehrere Erwachsene, die mit dem Kind nicht blutsverwandt sind.

Die englische Sprache hat dafür sogar einen Begriff: alloparents. Die Silbe allo leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet so viel wie fremd, anders. Parents wiederum ist das englische Wort für Eltern. Frei übersetzt meint das Konzept des alloparenting also tatsächlich eine Elternschaft durch viele – das berühmte Dorf.

Manchmal, wenn ich abends nach einem Babysitter-Tag im Bett liege, frage ich mich, was ich Frida mitgeben kann als erwachsene Bezugsperson, auch als Frau. Vielleicht, dass im Leben die Form viel weniger entscheidend ist als der Inhalt. Dass es vor allem auch darauf ankommt, sich geliebt zu fühlen – und dass dies völlig unabhängig von Verwandtschaftsgraden und vorgegebenen Normen möglich ist. Vielleicht werde ich meiner kleinen Freundin eines Tages sagen: Liebe Frida, das Leben als Null, es kann sehr bereichernd sein.

* Die Namen der Kinder wurden geändert

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