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Häusliche Gewalt: Traurige Fakten und mögliche Lösungsansätze

Häusliche Gewalt: Traurige Fakten und mögliche Lösungsansätze

  • Text: Nina Toepfer, Sven Broder; Illustrationen: Gregory Gilbert-Lodge

Bei jedem zweiten Tötungsdelikt ist Liebe im Spiel – oder das, was davon übrig geblieben ist. Die Expertin Andrea Wechlin über traurige Fakten und ermutigende Ansätze, die Gewaltspirale zu stoppen.

Gewalttätige Gangs, Kriminaltouristen, der Fremde nachts im Quartier: Es ist das Unbekannte, das in der persönlichen Wahrnehmung Angst und Schrecken verbreitet und die öffentliche Diskussion über Gewalt dominiert. Dabei ist die grösste Gefahr ganz oft ganz nah, lauert hinter der eigenen Haustür, hinter einem vertrauten Gesicht: Über die Hälfte aller Gewaltakte und jedes zweite Tötungsdelikt in der Schweiz werden innerhalb einer Beziehung verübt, in der sich zwei Menschen «lieben» oder zumindest mal geliebt haben. 2013 waren es rund 16 500 Straftaten, die unter die Kategorie häusliche Gewalt (siehe Box S. 50) fielen, darunter 44 versuchte und 24 vollendete Tötungsdelikte. 80 Prozent der Opfer sind Frauen. Oft spielt sich die Tragödie im Verborgenen ab. Nur wenige Fälle gelangen je an die Öffentlichkeit, meist ist dann extreme Gewalt verübt worden: Marie war 19, als sie in Payerne von ihrem Ex-Freund, einem verurteilten Straftäter, getötet wurde. Ein Vater in Grabs und seine beiden Kinder verbrennen im Auto, kein Unfall, sondern ein Verbrechen. Ein Mann schiesst in einer Tiefgarage in Dietlikon auf seine Frau und richtet sich selbst. Wenn die Spirale der Gewalt einmal dreht, ist sie kaum mehr zu stoppen. Wer es trotzdem versucht, ist Andrea Wechlin.Sie ist Co-Leiterin des Frauenhauses Luzern und eine renommierte, international vernetzte Expertin in Sachen häusliche Gewalt. Sie kennt Täter wie Opfer.

ANNABELLE: Andrea Wechlin, was macht die Liebe so gefährlich?
ANDREA WECHLIN: Ich würde die Liebe nicht als gefährlich bezeichnen. Liebe hat nichts mit Gewalt zu tun und Gewalt nichts mit Liebe. Aber wenn man von Liebe spricht und damit Beziehungen meint, muss man tatsächlich sagen: Sie kann gefährlich sein oder gefährlich werden.

Für viele Frauen ist der Partner der bedrohlichste Mensch in ihrem Leben.
Ja, das lehrt uns einerseits die Statistik der verübten Tötungsdelikte. Andererseits müssen wir davon ausgehen, dass in der Schweiz mindestens jede fünfte Frau schon mal Gewalt durch einen Beziehungspartner erlebt hat.

Wie kann eine Beziehung so aus dem Ruder laufen?
Nehmen wir den Fall aus der Tiefgarage in Dietlikon: Nach der Trennung fühlte sich der Mann offenbar so gekränkt und gedemütigt, dass er im Tod seiner Frau oder sogar im gemeinsamen Tod die einzige Möglichkeit sah, eine aus seiner Sicht «gute» Situation zu schaffen. Der Präventionssatz «Gewalt ist keine Lösung» stimmt für gewaltbereite Menschen in solchen Ausnahmesituationen oftmals nicht.

Hätten bessere Gesetze die Frau schützen können?
Leider schützt kein Gesetz hundertprozentig. Der Mann in Dietlikon hatte ein Kontaktverbot: Er hätte sich seiner Frau gar nicht nähern dürfen. Unser Regelwerk für Fälle von häuslicher Gewalt hängt leider nach wie vor sehr davon ab, wie kooperativ die Täter sind und wie schnell und konsequent ein Fehlverhalten von den Behörden sanktioniert wird.

Wo fängt Gewalt an?
Mit dem Lyriker Erich Fried gesagt: «Gewalt fängt nicht an / wenn einer einen erwürgt. / Sie fängt an / wenn einer sagt: / Ich liebe dich: / Du gehörst mir.»

Gewalt fängt also an, wenn sich Besitzansprüche breitmachen.
Ja, wenn jemand über mich bestimmt und mir vorschreibt, wie ich mich verhalten soll. Dann gibt es Befehle, Kontrollen, Einschränkungen. In gewaltbelasteten Beziehungen finden wir häufig ein solches Machtgefälle: Ein Partner setzt seine Bedürfnisse rigoros durch und versucht, den anderen zu dominieren.

Und der andere hat Angst?
Wer Angst hat, ordnet sich unter, passt sich an. Angst verhindert auch, dass die Opfer ihren Partner verlassen, weil sie befürchten, es könnte dann noch schlimmer kommen. Anderen kommt wieder die Liebe in die Quere: als Hoffnung, dass die Gewalt niemals wieder vorkommen wird – genährt von den Beteuerungen des Partners, sich zu bessern.

Wie ist es möglich, aus dieser Gewaltspirale herauszukommen?
Je länger eine Gewaltbeziehung andauert, desto schwieriger wird es. Denn wer ein Auge zudrückt und sich sagt, dieser Gewaltausbruch war einmalig und kommt nie mehr vor, fühlt sich häufig auch mitverantwortlich dafür, wenn es wieder passiert. Je öfter sich solche Situationen wiederholen, desto kleiner wird das Selbstwertgefühl der misshandelten Person. Sie fühlt sich schuldig, schämt sich und traut sich immer weniger zu. Und sie schweigt – auch, weil sie die Reaktion derer vorwegnimmt, denen sie sich doch vielleicht einmal anvertrauen könnte: «Warum hältst du das schon so lange aus?» Diese Frage kommt leider immer vor der anderen, viel wichtigeren Frage: «Warum schlägt ein Mann seine Frau?»

Nicht nur Frauen, auch Männer werden Opfer häuslicher Gewalt. Zunehmend?
Aktuelle Polizeiberichte gehen davon aus, dass zirka bei jedem fünften Fall von häuslicher Gewalt nicht die Frau, sondern der Mann das Opfer ist. Leider ist diese Tatsache in der Schweiz noch eher ein Tabuthema.

Wie unterscheiden sich die Motive der Täterinnen von denjenigen der Täter? Wann und in welcher Beziehungskonstellation fängt eine Frau an zu schlagen?
Die Motive unterscheiden sich nicht gross: Auch bei Frauen geht es um verdrängte eigene Ohnmacht, um Machtansprüche, Kontrolle, Eifersucht, psychische Erkrankungen. Im Rahmen von verübten Tötungsdelikten lässt sich jedoch eine Tendenz beobachten: Männer wollten mit einer Tötung der Partnerin eine Trennung verhindern, währenddessen Frauen, die ihren Partner töteten, sich eher aus der Beziehung befreien wollten.

Sie sind spezialisiert auf Deeskalations-Beratung.
Worum geht es da? Darum, gemeinsam mit den Betroffenen Schlimmeres zu verhindern. Gewaltausübende Personen müssen sich oft erst einmal bewusst werden, wie sie in solche Situationen kommen und was überhaupt vor sich geht.

Das wissen sie nicht?
In der Regel nicht. Für sie schaukelt sich die Gewalt manchmal in fünf Minuten, manchmal über Tage hoch. Es geht darum herauszufinden, wo Eskalation beginnt, wie sie sich steigert und wie man aus diesem Prozess aussteigen könnte. Nach der Gewalttat sagen einige Täter: «Mir ist der Kragen geplatzt.» Solche Sätze passen in die sogenannte Dampfkesseltheorie. Wir fragen uns in der Arbeit mit gewaltbereiten Personen, in welchem Moment der Dampfkessel überhaupt zu kochen anfängt.

Konkubinat, Ehe, Patchworkfamilie: Nie zuvor hatten wir so viele Möglichkeiten, unsere Beziehungen zu gestalten. Warum ist für manche Menschen eine Trennung trotzdem keine Option?
Wo häusliche Gewalt im Spiel ist, begegnet man häufig eng gefassten Vorstellungen darüber, was es heisst, verheiratet zu sein, und wie eine Familie auszusehen hat. Die Vielfalt der Optionen entspricht nicht dem Ideal eines Misshandlers. Der funktioniert anders.

Wie denn?
Jemand, der sich mit Gewalt in Position bringt und behauptet, ich weiss, was gut ist für dich, mich und für uns, der hat seine festen, oft auch rigiden Vorstellungen und versucht, sie mit allen Mitteln durchzusetzen. Optionen interessieren ihn nicht. Auch für Frauen mit Migrationshintergrund heisst es oft: einmal verheiratet, immer verheiratet. Eine Scheidung liegt nicht drin, es sei denn, sie verzichtet auf ihre Kinder.

Warum betrifft häusliche Gewalt oft Frauen mit Migrationshintergrund?
Das hat mehrere Gründe: Eine Migration in ein fremdes Land ist nicht einfach, und es kann zu einem Statusverlust, zu Arbeitslosigkeit, zu erhöhtem Stress und Verunsicherung kommen. Solche Faktoren können Gewalt begünstigen. So gibt es viele Migrantinnen, die von ihren Männern erst in der Schweiz geschlagen werden. Andere haben hingegen schon in ihrem Heimatland Gewalt erlitten. In jedem Fall sprechen wir nicht von kultureller Prägung, sondern vielmehr von überlieferten rigiden Familienbildern – und diese kommen unabhängig von der Herkunft vor.

In jüngster Zeit suchen mehr Frauen aus ländlichen Gebieten Beratung und Schutz. Wie kommt das?
Wir stellen fest, dass sich das Frauenbild auf dem Land verändert und sich längst nicht mehr alle Frauen alles gefallen lassen. So melden sich heute häufiger Bäuerinnen, die sich trennen oder scheiden lassen wollen. Oder sie nehmen Beratungsangebote in Anspruch. Denn gerade auf dem Land, wo jeder jeden kennt und man fast alles voneinander weiss, ist es viel schwieriger, sich jemandem aus dem privaten Umfeld anzuvertrauen und aus eigener Kraft aus einer gewaltbelasteten Beziehung auszubrechen.

Spielt der soziale und ökonomische Status eine Rolle bei häuslicher Gewalt?
Nein, grundsätzlich kommt häusliche Gewalt unabhängig von Nationalität, Herkunft, Religion, Bildung und sozialer Schicht vor. Doch Geld kann eine Rolle spielen. Es wird zum Beispiel dann wichtig, wenn die Frauen ihre misshandelnden Ehemänner verlassen. Da hilft eigenes Geld, eine eigene Kreditkarte, vielleicht sogar eine Ferienwohnung als Ausweichmöglichkeit sehr. Aber gerade bei gut situierten Paaren kommt es immer wieder vor, dass die Frau keine eigene Kredit- oder Bankkarte hat und nicht über eigenes Geld verfügen kann.

Lernen Sie auch eigenständige, selbstbewusste Frauen kennen, die häusliche Gewalt erleiden?
Man kann noch so selbstbewusst sein und trotzdem einen gewalttätigen Mann kennen lernen. Ist das Selbstbewusstsein der Frau jedoch intakt, verfügt sie über eigene Mittel und hat sie einen Beruf, so ist es leichter für sie, sich aus so einer Partnerschaft zu lösen. Viele Opfer sind allerdings emotional ambivalent: Sie wollen nur die Gewalt, nicht aber die Beziehung beenden oder den Kindern den Vater wegnehmen.

Warum spricht ihnen das Umfeld denn nicht mehr Mut zu?
Isolation ist charakteristisch für gewaltbelastete Beziehungen. Oft verbietet der gewalttätige Partner den Kontakt zu Freunden und Familie. Oder die Isolation ist eine Folge von Schuld und Scham: Wer nicht mehr die Kraft hat, die erlittene Gewalt zu verheimlichen, will sich auch nicht mehr mit anderen treffen.

Sowohl der Attentäter von Zug wie auch der Todesschütze von Menznau waren schon in ihren Beziehungen gewalttätig. Zufall?
Bis vor einigen Jahren ging man davon aus, dass die Mehrzahl der misshandelnden Männer nur in den eigenen vier Wänden Gewalt ausübt. Das Bild dieses Tätertyps, des «family only batterer», hat man aufgrund verschiedener Studien revidiert. Viele Beziehungstäter verüben auch Betäubungsmittel- oder Verkehrsdelikte. Schon lange fragen wir gewaltbetroffene Frauen deshalb in der Beratung, ob ihre Partner auch anderweitig straffällig werden. Im Weiteren interessiert uns, wie es im Umfeld aussieht, wenn jemand zum Beispiel am Arbeitsplatz auffällt.

Bei dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise setzt das sogenannte Bedrohungsmanagement ein; ein Begriff, der unter Experten gerade in aller Munde ist.
Beim Bedrohungsmanagement als Methode geht es darum, erstens potenzielle Risikosituationen besser zu erkennen, sie zweitens bezüglich ihrer Gefährlichkeit einzuschätzen und drittens adäquate Massnahmen zu ergreifen, damit man präventiv intervenieren kann. Damit eine Gewalttat verhindert werden kann, müssen sich alle Involvierten auf eine gemeinsame Strategie einigen.

Strafrechtsexperte Alain Joset nannte das Bedrohungsmanagement «eine ziemlich hilflose Reaktion der Behörden auf die Nulltoleranz- Stimmung der Bevölkerung».
Bedrohungsmanagement ist eine eigene und bewährte Fachdisziplin. Gerade zur Prävention von Amoktaten an Schulen wird Bedrohungsmanagement als Methode unterdessen als «best practice», als optimales Verfahren bezeichnet. Von einer gesellschaftlichen Ächtung der häuslichen Gewalt sind wir meiner Meinung nach leider noch weit entfernt, sie wäre ja wünschenswert.

Aber der Haken ist doch, dass es jede Menge Menschen gibt, die hin und wieder einen Ausraster haben. Anzeichen für Gewalt gibt es überall. Massenhaft. Jeden Tag neu. Kann man aus diesen die echten Bedrohungen herausfiltern?
Bedrohungsmanagement stützt sich vorwiegend auf die Beurteilung von gewalttätigem und gewaltbereitem Verhalten: Jemand muss sozusagen «beweisen», dass er gefährlich ist. Es geht also nicht darum, voreilig Menschen zu kriminalisieren und sie zu stigmatisieren, sondern darum, Menschen vor zielgerichteter Gewalt zu schützen – Opfer wie Täter.

Manchmal können Sie trotz aller Schutzmassnahmen eine schwere Gewalttat nicht verhindern. Wie leben Sie damit?
Jedes Tötungsdelikt ist für uns professionell Beteiligte ein Schock. Es führt uns vor Augen, dass unsere Arbeit Grenzen hat. Je nach Gewaltpotenzial eines Täters ist ein hundertprozentiger Schutz des Opfers manchmal nicht möglich. Trotzdem müssen wir weiterhin alles unternehmen, um die Opfer und ihre Angehörigen zu schützen.

HILFE! Infos, Adressen, Hilfs- und Beratungsangebote

Was tun, wenn man selber häusliche Gewalt erleidet?
Mit Vertrauten darüber sprechen. Unterstützung suchen bei Opferberatungsstellen, Frauenhäusern und anderen Schutzeinrichtungen.

Was tun, wenn jemand im eigenen Umfeld häusliche Gewalt erleidet?
– Die Person darauf ansprechen, nicht aber im Beisein der gewalttätigen Person.
– Die Person ernst nehmen, für sie da sein.
– Auf Institutionen hinweisen, wo Beratung und Schutz angeboten werden. Anbieten, die Person zur Beratungsstelle zu begleiten.
– Wissen, dass sich die Ohnmacht der Betroffenen auf einen selbst übertragen kann, und sich davor schützen. Es nützt nichts, ebenfalls zu verzweifeln.
Im Notfall: Hilfe holen, bei einer Beratungsstelle oder der Polizei (Tel. 117).
Die Definition: Unter häuslicher Gewalt versteht man die Anwendung oder Androhung von Gewalt unter Paaren in bestehender oder aufgelöster ehelicher oder partnerschaftlicher Beziehung, zwischen Eltern (auch Stief-/Pflegeeltern) und Kind oder zwischen weiteren Verwandten.

Infos, Adressen, Hilfs- und Beratungsangebote:
www.opferhilfe-schweiz.ch
www.frauenhaus-luzern.ch
www.frauenhaus-schweiz.ch
www.mann-als-opfer.com
www.pallas.ch (Pallas – IG frauen- und mädchenspezifische Selbstverteidigung)

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76 % aller Fälle häuslicher Gewalt ereigneten sich 2013 in einer bestehenden oder ehemaligen Paarbeziehung