Gesundheit
Von der Eso-Ecke in den OP-Saal: Hypnose ist in der Schulmedizin angekommen
- Text: Sarah Lau
- Bild: Unsplash
Sie hilft bei seelischen Krankheiten, lässt Wunden besser heilen – und sie kann sogar eine Narkose ersetzen: Die Schulmedizin setzt immer mehr auf Hypnose. Wohin wird uns die Kraft der Suggestion noch führen?
Als Steven Maurer an diesem Morgen das Skalpell ansetzt und das Bein seines Patienten mit einem zehn Zentimeter langen Schnitt öffnet, sitzt dieser auf einer sonnigen Waldlichtung, umgeben von Nebel und friedlich grasenden Tieren. Als der orthopädische Chirurg Muskeln und Faszien durchtrennt, um Metallplatten und Schrauben zu entfernen, die Daniel Gisler nach einem Schien- und Wadenbeinbruch eingesetzt worden waren, lauscht dieser beruhigendem Vogelgezwitscher. Er spürt einzig ein leichtes Ziehen in seinem linken Bein.
Erst als der Arzt gegen Ende der rund vierzigminütigen Operation Strom in das Gewebe leitet, um Kapillaren zu veröden und Blutungen zu stoppen, verzieht sich Gislers Gesicht. Er stöhnt leise, bis seine Begleiterin zu ihm auf die Waldlichtung tritt und leise auf den 55-Jährigen einredet. Gisler entspannt sich umgehend und spaziert weg vom Schmerz, eine Treppe hoch ins Weltall, wo er durch ein Wurmloch an einen weissen Sandstrand am tiefblauen Meer reist.
Wenige Minuten später beendet das Team des Kantonsspitals Baden seine Arbeit. Daniel Gisler ist einer der ersten Menschen, die erfolgreich ohne jegliche Anästhesie mittels Selbsthypnose in der Schweiz operiert worden sind.
Was passiert im Gehirn?
Immer mehr Spitäler in der Schweiz setzen medizinische Hypnose ein, schulen Pflegekräfte wie Mediziner:innen. Hypnose wird zur Schmerztherapie eingesetzt oder bei Geburten, um der Angst vor Spritzen zu begegnen oder bei Panikattacken und Depressionen, um Traumata aufzulösen, gegen Wechseljahrsbeschwerden, zur Wundheilung. Um Nebenwirkungen wie Übelkeit bei Chemotherapien zu lindern. Und im Fall von Gisler sogar, um eine Narkose zu vermeiden.
Jüngst gelang dem Neurowissenschafter Philipp Stämpfli in Zürich ein echter Durchbruch: Mit seinem Team konnte der Leiter des Magnetresonanztomographie-Zentrums der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich sichtbar machen, was im hypnotischen Zustand im Gehirn passiert.
Wer Stämpfli besucht, wird geradezu euphorisch in die Materie eingewiesen. Zwischen farbenfrohen Gehirnscans und einem giftgrünen Hirnmodell aus dem 3D-Drucker stellt Stämpfli voran, dass das Projekt Hypnoscience «wirklich das mit Abstand spannendste Projekt meiner Karriere war».
Er erklärt: «Wenn jemand hypnotisiert wird, verändert sich das gesamte Netzwerk im Gehirn. Die Bereiche, die normalerweise für die kritische Bewertung und Entscheidungsfindung verantwortlich sind, werden moduliert.» Gleichzeitig nehmen bei der Hypnose die Verbindungen zwischen den sensorischen und emotionalen Arealen zu.
Logik und Analyse verabschieden sich
«Das Gehirn ist in einem Zustand, in dem Logik und Analyse keine dominante Rolle mehr spielen, was den Zugang zum Unterbewusstsein erleichtert.» Trotzdem bleibe die Person vollständig bei Bewusstsein und behalte die Kontrolle über ihre Handlungen und Entscheidungen.
Eine der faszinierendsten Beobachtungen in seinen wissenschaftlichen Versuchen zur Hypnose, erzählt Stämpfli, sei gewesen, dass auch der Hirnbereich aktiviert worden sei, der Emotionen und Schmerzverarbeitung reguliert. «Dieser wird aktiv, wenn wir unter Hypnose beispielsweise suggerieren, dass Schmerz in einem Körperteil gar nicht mehr existiert oder er in eine andere Empfindung wie Wärme oder Kribbeln umgewandelt wird.»
Philipp Stämpfli, Neurowissenschafter«Hypnose ist keine Magie. Es handelt sich dabei um messbare neuronale Prozesse»
Diese neuronalen Veränderungen, also die Art, wie die Nervenzellen miteinander kommunizieren, und die veränderte Zusammenarbeit der Hirnareale ermöglichen es, dass Menschen unter Hypnose tatsächlich weniger Schmerz empfinden, so wie Daniel Gisler während der Operation.
«Hypnose ist keine Magie. Es handelt sich dabei um messbare neuronale Prozesse, die die Wahrnehmung und das Bewusstsein verändern», sagt Stämpfli, der inzwischen selbst als Hypnosetherapeut tätig ist. Wenn diese gezielt angesprochen werden, kann das Schmerzempfinden moduliert, Stress abgebaut und dadurch die Regeneration gefördert werden. «Hypnose ist weit mehr als nur eine Entspannungsübung. Sie ist ein Werkzeug, um gezielt auf die Selbstheilungskräfte des Gehirns einzuwirken.»
Um jemand anderen oder sich selbst in diesen Zustand der Gedankenverlorenheit zu versetzen, gibt es verschiedene Techniken, die teils in nur wenigen Stunden erlernbar sind. Dafür werden Hypnose-Protokolle verwendet, die Sätzen folgen, die man aus Meditationsübungen kennt: «Richte nun die Aufmerksamkeit gegen innen, folge deinem Atem.»
So gleitet die Person in einen entspannten Zustand unterschiedlicher Tiefen ab. Dieser kann als solcher genutzt werden oder er wird zur Ausgangslage, um therapeutisch zu intervenieren. Die Schweizerische Ärztegesellschaft für Hypnose (SMSH) beschreibt es so: «Die hypnotisierte Person kann ihre Probleme und Symptome auf einer anderen Bewusstseinsebene erleben: nicht rational und analytisch, sondern fantasievoll und intuitiv.»
Der bewusste Wille werde dabei in keiner Weise gebrochen, sondern eher beiseitegestellt. Die Fähigkeit, in Trance zu gehen, ist in allen Menschen angelegt und in leichten Formen im Alltag präsent: etwa bei Tagträumen oder bei monotonen Tätigkeiten.
Ohne Nebenwirkungen
Schon vor 4000 Jahren sollen Menschen Trancezustände heilend eingesetzt haben. Im 19. Jahrhundert definierte dann der britische Chirurg James Braid den Begriff Hypnose. Er hielt fest, dass Hypnose kein Schlafzustand, sondern ein veränderter Bewusstseinszustand sei.
Im 20. Jahrhundert entwickelte der US-amerikanische Psychiater Milton Erickson das Konzept weiter. Er definierte Hypnose als natürliche Trance, in der das Unbewusste für Veränderung und Heilung besonders empfänglich ist. Heute sei die therapeutische Wirkung der Hypnose, so schreibt es die Schweizerische Ärztegesellschaft für Hypnose, wissenschaftlich einwandfrei belegt. Sie gilt gemäss SMSH auch als weitgehend frei von Nebenwirkungen, sofern sie von qualifizierten Fachpersonen angewandt wird.
«Filzlatschen und Räucherstäbchen»
Daniel Gisler, der Mitte Januar 2023 im Kantonsspital Baden lediglich hypnotisiert auf dem OP-Tisch lag, hätte sich bis vor wenigen Jahren nie vorstellen können, dass ausgerechnet er sich mal zum Hypnosetherapeuten ausbilden lassen würde. «Hypnosekurs, das klang für mich so nach Filzlatschen und Räucherstäbchen», grinst der Privatier im Videocall.
Er arbeitete damals als Finanzexperte etwa bei der Schweizer Börse und war Chief Risk Officer beim London Clearing House. «Wie es dann eben so häufig ist, stellte auch ich mir in der Lebensmitte die Frage nach dem Sinn meines Daseins und öffnete mich für neue Ideen.»
Gisler lässt sich als Friedensrichter wählen und stösst über den Sohn einer Bekannten auf die Hypnose, vor allem als Schmerztherapie. «Das hat mich interessiert.» Gisler schreibt sich für die Onlineausbildung der Omni-Hypnose ein, einer aus den USA stammenden Vereinigung, die auch in der Schweiz einen Sitz hat und nach einem standardisierten Protokoll lehrt, wie man sich selbst und andere in Hypnose versetzt.
Bei vollem Bewusstsein
Schon Wochen vor der Operation habe er geübt, sagt Gisler und hält eine kleine silberne Zange hoch. Mit der habe er sich immer wieder selbst im hypnotischen Zustand gekniffen, um sein Schmerzempfinden zu überprüfen. Tatsächlich ist man auch unter Hypnose bei vollem Bewusstsein.
Und so hat Gisler während seiner Operation damals gespürt, wie die Krankenhausmitarbeitenden ihn auf den OP-Tisch gelegt und sein Bein desinfiziert haben. Und er hat gehört, dass Steven Maurer Anweisungen gab. «Als der rund zehn Minuten vor Ende sagte, dass gleich alles geschafft sei, bin ich einfach zu früh aus dem tiefen Entspannungsstadium wieder aufgestiegen. Da war es super, dass meine Begleiterin wusste, was zu tun war.»
Lajla Tahic, gelernte Dentalassistentin und Kauffrau, hatte Gislers Anfrage nach einer Hypnose-Begleitung im gemeinsamen Omni-Klassenchat erhalten und umgehend zugesagt. Heute hypnotisiert sie beruflich.
Der orthopädische Chirurg Steven Maurer hatte vor dem Eingriff weder von Omni noch von Hypnose als Narkosemittel überhaupt gehört. «Mir war Hypnose ein wenig suspekt, im Studium kam das nicht vor und als praktizierender Schulmediziner stand ich dem Ganzen erstmal skeptisch gegenüber», sagt Maurer.
Nach Gislers Anfrage begann er aber, sich schlauzumachen, schaute Dokumentationen, sprach mit Kolleg:innen und vertraute auf seine Fähigkeiten – bei dem Eingriff handelte es sich um einen Routinefall und falls nötig, wäre eine lokale Betäubung rasch möglich gewesen.
Chirurg Steven Maurer«Die Hypnose schien meinem Patienten eine Kontrolle über seinen Körper zu geben, die ich so noch nie erlebt habe»
«Die Hypnose schien meinem Patienten eine Kontrolle über seinen Körper zu geben, die ich so noch nie erlebt habe. Was mich besonders erstaunt hat, war die Tatsache, dass er kaum Blut verlor. Normalerweise wäre bei einem solchen Eingriff mehr Blut geflossen, aber es schien, als hätte die Hypnose auch hier einen Einfluss gehabt», erzählt Maurer.
Eine Stunde nach dem Eingriff war sein Patient bereits auf dem Heimweg und Maurer vermutet, dass es die Hypnose gewesen war, die einen positiven Einfluss auf den Heilungsverlauf und das Schmerzempfinden hatte. Auch die Übelkeit, eine typische Begleiterscheinung der Narkose, fiel weg.
Ob Maurer eine solche Operation nochmal machen würde? «Ja sicher. Allerdings sehe ich nicht, dass die Hypnose zum Standardverfahren werden kann – zum einen muss der Wille dazu bei den Patient:innen vorhanden sein. Darüber hinaus eignen sich auch nicht alle Eingriffe.»
Auch für die Gesellschaft für Anästhesiologie und Perioperative Medizin (SSAPM) bleibt die alleinige Hypnose ohne Narkosemittel eine Ausnahme für kleinere Operationen: Für besonders lange, komplizierte Operationen oder solche, bei denen der Bauchraum mit Gas gefüllt werden müsse, wie etwa bei Blinddarm- oder Gallenblasenentfernungen, sei Hypnose nicht geeignet.
Weniger Medikamente, schnellere Heilung
Grundsätzlich aber «haben sich die anästhesiologischen Fachgesellschaften schon immer für Hypnose interessiert» und es gäbe durchaus geeignete Felder, neben Eingriffen an Extremitäten wie bei Daniel Gisler beispielsweise bestimmte Hirnoperationen. Bei Wachkraniotomien etwa, bei denen mit Patient:innen kommuniziert werden muss, um zu prüfen, welche Hirnareale stimuliert werden, biete die Hypnose – zusammen mit einer Lokalanästhesie während der Schädelöffnung – klare Vorteile.
Dass in Zahnarztpraxen Hypnose gegen Schmerzen und Angst eingesetzt wird, gehört mittlerweile fast zum guten Ton und auf Hypnobirth spezialisierte Hebammen wie im Kantonsspital Freiburg und in der Frauenklinik des Luzerner Kantonsspitals sind keine Seltenheit mehr.
Auch in den zwei Brandverletztenzentren des Landes in Zürich und Lausanne, sozusagen den Epizentren der Schmerzen, wird täglich Hypnose eingesetzt. Etwa bei Menschen, deren Hautoberfläche bis zu neunzig Prozent verbrannt ist und deren Wunden nur behandelt werden können, wenn sie starke Medikamente eingenommen haben.
In einem Beitrag der Fachzeitschrift «Anästhesie-Journal» im März 2022 wird beschrieben, wie durch Hypnose Schmerzen und Angstzustände ebenjener Patient:innen gelindert werden konnten. Den behandelten Personen hätten durch die Hypnose drastisch weniger Medikamente verabreicht werden müssen und ihre Wundheilung sei schneller vonstattengegangen.
Woran das genau liegt, sei noch unklar. Die Verfasser:innen vermuteten, dass die Hypnose die Personen entspannte und so der schmerzfördernde Stress reduziert wurde.
Bis zu 200 Hypnosesitzungen pro Monat
Matteo Coen, Leiter des Programms für klinische Hypnose am Universitätsspital Genf (HUG) und Oberarzt in der dortigen Abteilung für Allgemeine Innere Medizin, will, dass noch viel mehr Menschen Hypnose für sich nutzen können. In dieser Klinik hat sie bereits eine lange Geschichte, die in den 1970er-Jahren begann, als ein Anästhesist die Technik in den USA entdeckte und ans Genfer Universitätsspital brachte.
Heute werden hier bis zu 200 Hypnosesitzungen pro Monat mit Patient:innen durchgeführt, etwa bei MRI-Untersuchungen, Chemotherapien und Knochenmarkpunktionen. Dafür wurden vor Ort Hunderte klinische Hypnosepraktiker: innen ausgebildet.
Matteo Coen, Oberarzt«Schon kleine Änderungen in der Wortwahl können Enormes bewirken»
Ausserdem haben 2500 Gesundheitsfachkräfte, darunter Pflegefachpersonen wie auch Physiotherapeut: innen und Ärzt:innen, hier die Ausbildung in hypnosebasierter therapeutischer Kommunikation durchlaufen. Diese kann man sich als sehr leichte Art der Hypnose vorstellen.
«Schon kleine Änderungen in der Wortwahl können Enormes bewirken», erklärt Coen. «Anstatt zu fragen: ‹Haben Sie Schmerzen?›, fragen sie: ‹Was kann ich tun, damit Sie sich wohler fühlen?›» So würden negative Erwartungshaltungen abgebaut und Stress während eines Krankenhausaufenthalts gesenkt, was nachweislich die Genesung beschleunige.
Wer zahlt?
Coen ist überzeugt, dass «Hypnose allen helfen kann, die offen dafür sind». Ob es immer noch Kolleg: innen gibt, die Hypnose für Humbug halten? «Als ich im Spital anfing, war ich schon als Hypnosetherapeut ausgebildet, habe mich aber bewusst erst zwei, drei Jahre später als solcher geoutet – ich wollte, dass man mich als richtigen Arzt wahrnimmt», sagt Coen.
Heute hingegen nehme er keinerlei Widerstände mehr wahr. «Unsere ausgebildeten Mitarbeitenden tragen mit Stolz ihr kleines Abzeichen ‹Hypnotherapeut:in› am Kittel.»
Auch die Krankenkassen anerkennen die Wirkung der medizinischen Hypnose. Auf Nachfrage beim Bundesamt für Gesundheit heisst es: Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt grundsätzlich die Kosten der von Ärzt:innen durchgeführten medizinischen Hypnose, nachdem man als Bezüger:in die Franchise erreicht hat.
Therapierende ohne ärztliche Ausbildung können hingegen nicht über die Krankenversicherung abrechnen. Manche Zusatzversicherungen bezahlen Hypnoseleistungen unter bestimmten Umständen. Im sogenannten Tarif 590 der komplementärmedizinischen Leistungen – zu denen etwa Klang-, Mal- und Lichtmedizin gehören – ist sie jedoch nicht enthalten.
In den letzten Jahren gab es mehrere politische Initiativen, die das ändern wollten. 2018 wurden etwa im Nationalrat entsprechende Anfragen ebenso aus der SP-Fraktion wie auch von der SVP eingereicht. Bislang wurden sie jedoch mit dem Hinweis abgelehnt, dass der Bundesrat keine Möglichkeit habe, eine Ergänzung des Tarifs 590 vorzunehmen. Die Aufnahme neuer Leistungen sei Sache der Anbieter: innen und Krankenversicherungen.
Hypnose zahlt sich gesundheitspolitisch aus
Dass sich die Hypnose gesundheitspolitisch auszahlt, belegen indes mehrere Studien. Das Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV) etwa hat in seiner Abteilung für schwere Verbrennungen belegen können, dass durch Hypnoseanwendungen bis zu 25 000 Franken pro Patient:in eingespart werden konnten.
Die Technische Universität Braunschweig geht in einer Untersuchung davon aus, dass 78 Prozent der Angststörungen mit Hypnose gut behandelt werden könnten und damit deutschlandweit 12 Millionen Euro gespart würden.
Fatimah Saehrendt, Kinderärztin«Mit Hypnose geben wir Kindern mit Ängsten oder Depressionen ein Werkzeug an die Hand»
Gerade wegen der steigenden Zahlen psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher im Zeitalter mangelnder Therapieplätze sieht die Berner Kinderärztin Fatimah Saehrendt in der Hypnosetherapie die Zukunft. Die Fachärztin arbeitet sowohl in einer Gemeinschaftspraxis wie auch als Belegärztin im Spital Thun und stösst immer wieder an die Grenzen der Schulmedizin.
Vor allem psychosomatische Probleme, also durch die Psyche ausgelöste körperliche Beschwerden, in der kurzen Behandlungszeit zu lösen, sei herausfordernd. Heute behandelt Saehrendt auch am Medizinischen Hypnosecenter Bern und sagt: «Viele Kinder fühlen sich durch ihre Ängste oder Depressionen wie gelähmt. Mit Hypnose geben wir ihnen ein Werkzeug an die Hand.»
Schutz vor Burnouts
Viele der Symptome, die sich im Jugend- und Erwachsenenalter zeigen, hätten ihren Ursprung in frühkindlichen Erlebnissen, die oft im Unterbewusstsein gespeichert werden und durch spätere Trigger zu intensiven emotionalen Reaktionen führen, ohne dass die Betroffenen den Zusammenhang erkennen können. «Diese frühen Erlebnisse wirken wie ein volllaufendes Fass. Irgendwann läuft es über, und das kann sich dann in Symptomen wie Panikattacken oder Angststörungen manifestieren.»
Hypnose ermögliche es, diese tief verwurzelten Emotionen aufzuarbeiten. Fatimah Saehrendt betont, dass Kinder besonders gut auf Hypnose ansprechen, da sie eine starke Verbindung zu ihrer Fantasie haben und sich sowieso oft im hypnotischen Zustand befinden, ob tief versunken im Spiel oder während des Tagträumens.
Das legt auch eine Studie der australischen Griffith-Universität nahe. Der amerikanischen Psychiater Mark Jensen habe gesagt: «Wenn es eine Pille gäbe, die all die Vorteile von Hypnose hätte, wäre das ein Milliardenprojekt», erzählt Saehrendt.
Ihr Ziel ist es, entspannende Hypnoseübungen schon in Schulen und Kindergärten zu etablieren, um Kindern beizubringen, wie sie mit Stress und emotionalen Belastungen umgehen können, bevor sich ernsthafte Probleme manifestieren. Zudem sieht Saehrendt in der Hypnose ein Tool, um Menschen vor Burnouts zu schützen, etwa im Klinikalltag.
«Alle können Selbsthypnose lernen»
«Medizinisches Personal ist in seiner täglichen Arbeit oft hohen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt, die zu Erschöpfung führen. In Gruppenhypnosesitzungen helfen wir ihnen, zu lernen, wie man in kürzester Zeit regenerieren und wieder Freude an der Arbeit spüren kann.» Für sie ist klar: «Alle können Selbsthypnose lernen.»
Der Titel Hypnosetherapeut:in ist in der Schweiz nicht geschützt. Auf die Frage, ob das Therapieren an eine psychologische, zumindest aber medizinische Ausbildung geknüpft sein sollte, sagt Kinderärztin Saehrendt: «Hypnose sollte nicht nur in die Hände von Mediziner:innen gelegt werden. Es gibt viele Menschen mit einem Abschluss als Hypnosetherapeut: in, die ein Talent haben, anderen zu helfen und emotional zu heilen – unabhängig von einer medizinischen Ausbildung.» Ein Streit um die Kompetenz sei dem Ziel, Hypnosetherapie in der Gesellschaft salonfähig zu machen, nicht zuträglich.
Anders beurteilt das Chantal Berna Renella. Die Medizinerin leitet am Universitätsspital Lausanne das Zentrum für Integrative und Komplementäre Medizin. Ihre Forschungsgruppe führt verschiedene Projekte rund um Hypnose, eines untersucht, wie Hypnose bei der Schmerzbehandlung und dem Genesungsprozess nach Krebsoperationen helfen kann. Als Vorstandsmitglied bei der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Hypnose setzt sie sich dafür ein, dass Patient:innen auf Personal mit entsprechenden medizinischen oder psychologischen Fähigkeiten treffen.
Sie warnt: «Man kann nicht einfach ein Hypnose-Skript ablesen und glauben, das reicht. Wenn man nicht versteht, was im Hintergrund psychologisch beziehungsweise medizinisch passiert oder wie man im Falle einer unerwarteten Reaktion richtig interveniert, kann man die Patient:innen ernsthaft in Gefahr bringen.» Etwa bei Dissoziationen, Panik oder bei bereits bestehenden Schmerzen, die nicht genügend abgeklärt sind. In solchen Fällen könnten sich die Symptome verschlechtern oder notwendige Behandlungen zu spät angeordnet werden.
Ergänzung statt Alternative
Berna Renella empfiehlt, bei der Wahl der Hypnosefachperson kritisch zu sein und sich auf solche zu verlassen, die von anerkannten Gesellschaften wie der SMSH oder der Gesellschaft für klinische Hypnose und Hypnotherapie Schweiz (GHYPS) zertifiziert sind. «Würden Sie wirklich Ihr Trauma von jemandem behandeln lassen, der keine Psychologie- oder Psychiatrie-Ausbildung hat?», fragt sie. «Das ist, als würde man einem Hobbybastler das eigene Auto mit Motorschaden anvertrauen, statt es in eine professionelle Reparaturwerkstatt zu bringen.»
Matteo Coen vom Genfer Universitätsspital jedoch findet, dass eine nichtmedizinische Hypnosetherapie durchaus helfen könne, wenn es lediglich um eine unterstützende Form der Selbsthilfe gehe, ähnlich wie ein Coaching. «Als Ärzt:innen müssen wir mehr Offenheit an den Tag legen, damit Patient: innen frei über ihre Komplementär-Therapien sprechen können, ohne Angst haben zu müssen, nicht ernst genommen zu werden.» Sein Fazit: «Ich appelliere, Hypnose nicht als Alternative zur Schulmedizin anzusehen, sondern sie vermehrt in diese zu integrieren. Ich bin sicher, dass uns so noch ungeahnte Möglichkeiten erwarten.»
Eines jedenfalls fällt bei der Recherche auf: Egal ob in den Spitälern oder in der Winterthurer Axa-Arena, wo im Sommer eine Schulung in der Hypnosepraxis Omni stattfand – überall berichten Menschen, Hypnose noch bis vor kurzem für Hokuspokus gehalten zu haben. Ähnlich wie Veganer:innen, die gerade euphorisch die Vorzüge der Nahrungsumstellung propagieren, scheint die Entdeckung der Hypnosetherapie mit einem missionarischen Eifer einherzugehen.
Dass hier in der Tat bahnbrechende Möglichkeiten liegen, darin sind sich Ärzt:innen wie Nicht-Mediziner:innen einig. Geschichten von Hypnose als absolutem Heilsversprechen aus dem Kreis der Euphorisierten verdeutlichen jedoch auch, wie wichtig es ist, im Blick zu behalten, dass es noch weitere Forschung und entsprechend Gelder braucht, um wissenschaftlich umfassend zu belegen, was Hypnose alles kann – und abzustecken, was sie gesundheitspolitisch noch zu bewegen vermag.