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Schriftstellerin Paula Fürstenberg: Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft krank zu sein

Gesundheit

Schriftstellerin Paula Fürstenberg: Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft krank zu sein

Mit 16 Jahren wurde bei Paula Fürstenberg eine Angststörung diagnostiziert; danach folgten viele weitere Diagnosen. Die Schriftstellerin ist chronisch krank, ihre Lebensqualität dauerhaft eingeschränkt. In ihrem Essay erklärt sie, warum Krankheit nicht nur Privatsache ist, sondern auch politisch.

Ich bin 14 Jahre alt, wache nachts schweissgebadet und am ganzen Körper zitternd auf, renne durch die Wohnung, werfe mich auf den Boden und lasse mir kaltes Wasser über die Arme laufen. Nichts hilft gegen den beängstigenden Zustand. Ich wähle zum ersten Mal in meinem Leben die 112. Bis ich in der Notaufnahme bin, lassen die Symptome nach. Ich werde untersucht, es wird keine Ursache gefunden, ich werde ohne Diagnose oder Weiterbehandlungsempfehlung nach Hause geschickt.

Nach meinem zweiten Besuch in der Rettungsstelle bekomme ich einen Fragebogen zugeschickt, auf dem ich Angaben zu Gründen und Ablauf des Notarzteinsatzes machen muss. Ich stehe unter Verdacht, die 112 zum Spass gerufen zu haben. Würde es sich um einen Kinderstreich handeln, müsste meine Mutter die Kosten für den Notarzteinsatz zahlen. Erst beim dritten Mal empfiehlt mir die Notärztin, mich das nächste Mal in die psychiatrische Rettungsstelle fahren zu lassen, wo mir vielleicht besser geholfen werden könne.

Die Unruhezustände ereilen mich inzwischen auch tagsüber in der Schule. Eine Freundin wirft mir vor, ich würde mich wichtig machen, Aufmerksamkeit heischen wollen. Die Erkrankung wird mir als Charakterschwäche ausgelegt.

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«Die Diagnose ist die Eintrittskarte ins Gesundheitssystem, von dem ich glaube, dass es das Problem für mich lösen wird»

Mit 16 bin ich zum ersten Mal in der psychiatrischen Rettungsstelle. Ich bekomme ein Medikament, das nicht wirkt, und ein Wort, das wirkt: Angststörung. Ich erlebe das Wort als grosse Erleichterung. Dass es ein Wort gibt, bedeutet gleich zwei gute Nachrichten. Die erste: Ich bin nicht allein. 20 Prozent der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens daran, sagt der Arzt. Die zweite: Wenn es ein Wort gibt, gibt es auch eine Behandlung. Die Diagnose ist die Eintrittskarte ins Gesundheitssystem, von dem ich glaube, dass es das Problem für mich lösen wird.

Weil ich auch glaube, dass das Wort Mitgefühl und Verständnis erzeugt, geht es mir leicht von der Zunge. Die Schulfreundin sagt, damit sei ja wohl auch medizinisch bewiesen, dass ich gar nichts hätte und mir das nur einbilde. Ich begreife, dass das Wort im Gesundheitssystem eine Eintrittskarte sein mag, aber draussen in der echten Welt einen Stempel bedeuten kann. Jede Krankheit bringt ihre eigenen Stempel mit sich, bei einer psychischen lautet der gängigste: eingebildet. Im doppelten Wortsinn.

Wenn sich ein Angstzustand anbahnt, begebe ich mich auf schnellstem Weg ins Bett. Das ist schon deshalb skurril, weil psychische Symptome gar kein Hinlegen erforderlich machen. Sonnenlicht, Frischluft und Bewegung gelten sogar als förderlicher. Aber wer krank ist, gehört ins Bett. Das Bett wiederum ist ein Ort, der sinnbildlicher nicht sein könnte für alles Intime, das nur hinter vorgehaltener Hand besprochen werden soll.

Susan Sontag schreibt in «Krankheit als Metapher», dass alle Menschen zwei Staatsbürgerschaften besässen, eine im Land der Gesunden und eine im Land der Kranken. Das Land der Kranken liegt im Privaten, das Land der Gesunden im Öffentlichen.

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«Ich richte einen Ort für meine Angststörung ein, weil sie an allen anderen Orten sanktioniert wird, Erklärungsbedarf und Scham auslöst»

Chronisch kranke Menschen entwickeln oft ausgetüftelte Strategien, um ihre Krankheit geheim zu halten. Sie sind Meister:innen im Kleinreden und Ausreden, Notlügen und Überspielen. Kennedy zum Beispiel ging wegen einer Osteoporose am Stock, der Öffentlichkeit aber machte er weis, es handele sich um Kriegs- und Sportverletzungen. An Krieg und Sport sind heroische Narrative geknüpft, mit einer Osteoporose aber kann man niemanden beeindrucken.

Was mich betrifft, funktioniere ich fortan bestens in der Aussenwelt und sacke komplett in mir zusammen, sobald ich nach Hause komme: Ich richte einen Ort für meine Angststörung ein, weil sie an allen anderen Orten sanktioniert wird, Erklärungsbedarf und Scham auslöst. Im Rückblick fasziniert mich besonders, dass sich der Körper zu einem gewissen Grad dressieren lässt. Bis heute werde ich auffallend oft im Urlaub krank. Wenn ich es mir leisten kann.

Im Laufe der Jahre bekomme ich weitere Diagnosen: Pulpitis, cranio-mandibuläre Dysfunktion, polyzystisches Ovarialsyndrom, Endometriose und Depressionen, um nur die chronischen zu nennen, die dauerhafte Einschränkungen meiner sogenannten Lebensqualität bedeuten. Ich bekomme die doppelte Staatsbürgerschaft als Jugendliche und bleibe eine vielreisende Grenzgängerin.

Dass ich mich unbemerkt zwischen beiden Ländern hin und her bewegen kann, hat mit einer Gemeinsamkeit meiner Diagnosen zu tun: Sie sind für Aussenstehende unsichtbar. Wenn ich das möchte, kann ich als gesund durchgehen. Passing nennt das die Soziologie. Mein Körper ist zwar das, was man gemeinhin als kränklich bezeichnet – irgendwas ist immer. Aber er hat das Privileg, beiden Welten anzugehören. So bin ich zu einer Diplomatin zwischen zwei Ländern geworden, deren diplomatische Beziehungen, diplomatisch formuliert, angespannt sind.

Als Schriftstellerin und Diplomatin interessiere ich mich für Sprache als Möglichkeit der Vermittlung. Zur Beschreibung von Körperlichkeit treffe ich auf zwei vorhandene sprachliche Register: die medizinische Sprache und die Umgangssprache.

«Im Krankenhaus verliere ich einmal meinen Namen, dort bin ich der Blinddarm in Zimmer 3»

Die medizinische Sprache hat eine Überdosis Latein und Altgriechisch, sogenannte tote Sprachen; Sprachen, die nicht mehr gesprochen werden. Der Körper, Inbegriff des Lebendigen und der Gegenwart, wird mit einem ausgestorbenen Vokabular, Inbegriff des Toten und der Vergangenheit, beschrieben.

Zeitnot und professionelle Distanz tun ihr Übriges, sodass wir das Gesundheitssystem und seine Sprache oft als bürokratisch, kalt und unmenschlich erleben. Im Krankenhaus verliere ich einmal meinen Namen, dort bin ich der Blinddarm in Zimmer 3. Ich bestehe nur noch aus dem zu verarztenden Körperteil und meiner Position innerhalb der Institution.

In der Umgangssprache werden Körper und Krankheit oft abgewertet. Wir sind blind vor Liebe und stossen auf taube Ohren, beschimpfen einander mit Diagnosen wie Idiot und Krüppel. Dazu geben wir Kranken die Schuld an ihren Erkrankungen, wenn wir meinen, sie hätten zu wenig Sport gemacht oder zu viel gearbeitet. Hauptsache gesund behauptet im Umkehrschluss eben auch, dass Kranken die Hauptsache im Leben entgeht.

Ich bin zu einer Diplomatin zwischen dem Land der Kranken und dem Land der Gesunden geworden, deren diplomatische Beziehungen, diplomatisch formuliert, angespannt sind.

«Die chronische Krankheit erweist sich als narrative Herausforderung»

Mit der Arbeit am zweiten Roman beginne ich, über Krankheit und den Körper zu schreiben, und stehe vor einigen Schwierigkeiten. Ich muss Wege finden, weder die kalte medizinische noch die abwertende Umgangssprache zu verwenden. Ausserdem erweist sich chronische Krankheit als narrative Herausforderung.

Wir stellen uns Krankheit als vorübergehenden Ausnahmezustand vor, für den wir das Land der Gesunden verlassen und eine Auszeit im Land der Kranken nehmen. Ausnahme, Auszeit, aussätzig – wir sind dann mal raus. Der Ausnahmezustand kann gut oder schlecht ausgehen, mit der Rückkehr zu den Gesunden oder dem Verbleib bei den Kranken. Es gibt genau zwei Optionen, Heilung oder Tod. Erzählerisch haben wir es mit einem klassischen Spannungsbogen zu tun: Es gibt ein Hindernis, das überwunden wird oder sich als unüberwindbar erweist.

Der vorübergehende Ausnahmezustand mag auf einige Krankheitserfahrungen zutreffen, für chronische Krankheiten und Behinderungen gilt er nicht. Sie sind erzählerisch besonders zäh, ihr Plot ist von Wiederholung geprägt und hat keine Pointe. Von einem Ausnahmezustand und seiner Überwindung kann keine Rede sein, stattdessen muss vom Alltag erzählt werden, der auf kein Finale zusteuert.

Es geht auf und ab und auf und ab und immer so weiter. Das ist erzählerisch nicht gerade mitreissend, weder im Roman noch im echten Leben, in dem wir auf Durchzug schalten, wenn die Älteren von ihren Gebrechen zu reden beginnen.

Viele Betroffene erfinden eigene Wendungen für ihren Körper, die weder kalt sind wie das Fachlatein noch schuldzuweisend und abwertend wie die Umgangssprache. Churchill nannte seine Depressionen einen schwarzen Hund, der ihm überall hin folgt. Ich höre eine Frau die Hitzewallungen in den Wechseljahren als ihren persönlichen Sommer bezeichnen.

«In meiner Betroffenensprache bürgere ich Körperteile aus. Das macht den Schmerz erträglicher»

Mit 15 sterben mir drei Schneidezähne ab. Die Nerven erzeugen dabei einen Schmerz, der sich anfühlt, als würde mir eine Nadel ins Hirn geschossen werden. Die toten Zähne werden mit der Zeit grau, ich traue mich kaum noch, mit offenem Mund zu lachen. Dazu knirsche ich mein Gebiss um einige Millimeter herunter, es müsste wieder aufgebaut werden. Fortan stirbt mir alle 10 Jahre ein weiterer Zahn ab.

Manchmal kann ich nicht anders, als das persönlich zu nehmen. Dann fluche ich auf den sterbenden Zahn, der es in meinem Mund offenbar unaushaltbar findet. Ich spreche von meinem Zahn als er, und er gehört nicht mehr dazu, wenn ich ich sage. In meiner Betroffenensprache bürgere ich Körperteile aus. Das macht den Schmerz erträglicher. Ich bin nicht der Schmerz, sondern habe diesen Schmerz. So bleibe ich mehr als der Blinddarm auf Zimmer 3.

Einmal bekomme ich von einem Lesungsgast gesagt, dass ich an meinen Zähnen wirklich was machen lassen müsse. Das beschämt mich, denn ich kann es mir nicht leisten. Wie kein anderes Fach ist die Zahnmedizin eine Frage des Geldes. 51 Prozent der Kosten werden in Deutschland privat abgerechnet, in anderen Bereichen sind es um die 30 Prozent. François Hollande bezeichnete die Armen einmal als die Zahnlosen.

Ich bin als Kind einer alleinerziehenden Mutter in Ostdeutschland gross geworden. Ich bin nicht in Bettelarmut, aber auch nicht in Wohlstand aufgewachsen. Heute gehöre ich als Schriftstellerin zum kreativen Prekariat, habe überschaubares ökonomisches, aber viel kulturelles Kapital. In den besseren Kreisen, in die man als Schriftstellerin gerät, möchte ich auf keinen Fall, dass man mir meine Herkunft ansieht. Ich möchte keine Zahnlose sein.

Heute ist in meinem Mund Zahnersatz im Wert eines Mittelklasseautos verbaut. Das Geld dafür aufzubringen, ist die grösste bürokratische und finanzielle Anstrengung meines bisherigen Lebens gewesen. Als ich zum ersten Mal ein gut dotiertes Literaturstipendium bekomme, ist mein erster Gedanke: Der nächste tote Zahn ist finanziert.

«Meine Erkrankungen sind gar nicht nur mein privates Problem. Sie stehen in direktem Zusammenhang mit einer Gesellschaft, in der Körper unterschiedlich grosse Risiken tragen zu erkranken»

Ich recherchiere für den Roman. Ich lese, dass kaum in die Endometriose-Forschung investiert wird, obwohl rund 10 Prozent der Menschen mit Uterus weltweit betroffen sind. Ich lese, dass Frauen eine viel höhere Wahrscheinlichkeit haben als Männer, eine Angststörung zu entwickeln. Ich lese, dass arme Menschen eine bis zu 11 Jahre kürzere Lebenserwartung haben als reiche und ein deutlich höheres Risiko für alle möglichen Erkrankungen, darunter Depressionen.

Ich lese, dass der ostdeutsche Körper häufiger chronisch krank ist als der westdeutsche. Ich lese und lese und beginne, mir ein paar Fragen zu stellen. Hätte ich ein, zwei chronische Krankheiten weniger, wenn ich Westdeutsche wäre? Hätte ich keine Depressionen bekommen, wenn ich in Wohlstand aufgewachsen wäre? Hätte ich monatlich einen Arbeitstag mehr zur Verfügung, wenn die Medizingeschichte weibliche Körper ernst genommen und Endometriose ordentlich erforscht hätte? Hätte ich keine Angststörung, wenn ich ein Mann wäre? Ich werde es nie wissen. Aber die Statistik sagt, es wäre zumindest weniger wahrscheinlich.

Meine Erkrankungen sind gar nicht nur mein privates Problem. Sie stehen in direktem Zusammenhang mit einer Gesellschaft, in der Körper unterschiedlich grosse Risiken tragen zu erkranken. Manche Körper tragen schwerer als andere.

Es gibt erschütternde Studien dazu, dass Schwarze Personen und Frauen in Notaufnahmen bei gleicher Symptomatik durchschnittlich länger auf Behandlung warten müssen. Auch im Gesundheitssystem wiegen Körper unterschiedlich schwer.

Ich schreibe keinen Roman für die Gesunden, sondern für die Kranken, und ich schreibe über die politischen Implikationen von Krankheit. Blöderweise bin ich mit dem Dogma sozialisiert, dass Literatur alles sein darf, nur nicht therapeutisch und politisch. Den zweiten Roman zu schreiben, fühlt sich streckenweise an wie ein Hindernislauf vom Privaten ins Öffentliche, vom Bett auf die Strasse.

«Wieso bloss haben sich die Menschen, die alle einen Körper haben, einen öffentlichen Raum eingerichtet, der nicht dafür gemacht ist, einen Körper zu haben?»

Der Literaturbetrieb ist geprägt von einem intellektuellen Habitus, der mit einer Verneinung alles Körperlichen einhergeht. Je hochkultureller eine Veranstaltung ist, umso verpönter ist es, zu husten, dabei zu essen und zu trinken, zwischendurch aufs Klo zu gehen oder auch nur laut zu lachen. Die Descartes’sche Körper-Geist-Dualität hat uns eine Überhöhung alles Geistigen als vernünftig und eine Abwertung alles Körperlichen als schwach oder unzivilisiert beschert.

Das zentrale Versprechen öffentlicher Räume ist es, allen frei zugänglich zu sein. Es wurzelt in der griechischen Antike. Auf der Agora, dem Markt- und Versammlungsplatz, wurden Geschäfte gemacht und politische Entscheidungen getroffen. Doch das Bild trügt, denn hier berieten und entschieden nur erwachsene und freie männliche Bürger, während alle anderen ausgeschlossen waren.

Öffentlicher Raum war schon immer auch exklusiver Raum, stellt der Stadtsoziologie Walter Siebel fest. Jede Epoche hat ihre eigenen Mechanismen, wer auf welche Weise aus ihm ausgegrenzt wird. Heute sind das vor allem Obdachlose und Drogenabhängige. Ich möchte ergänzen: und Menschen mit Krankheit oder Behinderung.

Dem öffentlichen Raum fehlt es an Trinkwasserspendern, Toiletten, Bänken und abgesenkten Bordsteinen. Man muss nicht einmal eine chronische Erkrankung haben, um das fragwürdig zu finden. Schliesslich müssen auch kerngesunde Menschen trinken, aufs Klo, ausruhen und Kinderwagen schieben.

Ich lese Anne Boyers «Die Unsterblichen» und lerne: Alle Gesunden sind künftige Kranke. So etwas wie kerngesunde Menschen gibt es gar nicht.

Worüber ich einfach nicht hinwegkomme, ist das: Wieso bloss haben sich die Menschen, die alle einen Körper haben, einen öffentlichen Raum eingerichtet, der nicht dafür gemacht ist, einen Körper zu haben? Ich habe wirklich viel darüber nachgedacht. Es ergibt einfach keinen Sinn.

«Wieso begehren die Kranken nicht auf gegen diese nicht für sie gedachte Welt? »

Auch Politik und Gesellschaft sind von Menschen für Menschen gedacht, die alle einen Körper haben. Dort werden aber die strukturellen Ursachen von Krankheit und verkürzter Lebenserwartung weder flächendeckend anerkannt noch effektiv bekämpft. Wir wissen, dass Armut krank macht, aber es kommt nicht die grosse Umverteilung.

Wir wissen, dass es jeden Tag einen Tötungsversuch an einer Frau gibt, aber wir schaffen das Patriarchat nicht ab. Wenn eine Krankheit als Volkskrankheit erkennbar wird, werden immer nur die kranken Körper behandelt, aber nicht die Qualität von Luft und Nahrungsmitteln und die sozioökonomischen Verhältnisse verbessert.

Wieso begehren die Kranken nicht auf gegen diese nicht für sie gedachte Welt? Wieso zum Beispiel habe ich damals im Krankenhaus meinen Namen nicht eingefordert? Ich begreife zweierlei. Erstens: Als Patient:innen befinden wir uns einem Abhängigkeitsverhältnis. Man legt sich schlicht nicht gern an mit Menschen, die einem gleich den Bauch aufschneiden. Zweitens: Revolution ist nicht Sache der Kranken. Revolutionen finden traditionell im Stehen und Öffentlichen statt, Krankheit im Liegen und Privaten.

In «Sick Woman Theory» fragt Johanna Hedva treffend: Wie wirft man einen Ziegelstein durch das Fenster einer Bank, wenn man nicht aus dem Bett hochkommt?

«Nirgends habe ich so viel Bereitschaft zur fundamentalen Veränderung erlebt wie bei Kranken»

Wenn wir aber Revolution als grosse Umwälzung begreifen, die Gepflogenheiten und Gewohnheiten fundamental verändert, dann sind Kranke grosse Revolutionär:innen. Sie stellen ihre Ernährung um, beginnen Sport zu treiben, hören mit dem Rauchen auf. Sie reduzieren ihre Arbeitszeit oder wechseln gar den Beruf, sie krempeln ihr soziales Umfeld um. Krankheit hat immer auch das Potenzial, begreifbar zu machen, dass das Leben endlich ist, und sich darauf zu fokussieren, was einem wirklich wichtig ist.

Nirgends habe ich so viel Bereitschaft zur fundamentalen Veränderung erlebt wie bei Kranken. Vielleicht ist Revolution also doch Sache der Kranken. Weil Krankheit ins Private verbannt ist, bleibt allerdings auch die Revolution privat.

Mein Roman endet mit der utopischen Vorstellung eines Liegestreiks, für den sich die chronisch Kranken dieser Welt verbünden und ein Bettenlager vor den Regierungsgebäuden ihrer Länder errichten, wo sie liegen bleiben, bis all ihre Forderungen erfüllt sind. Als der Roman Anfang 2024 erscheint, wird die Utopie Wirklichkeit: In zwölf Städten von Zürich bis Hamburg legen sich Menschen auf öffentliche Plätze. Sie fordern bessere Versorgung für Patient:innen des chronischen Erschöpfungssyndroms (ME/CFS), zu dem auch Long Covid gehört, und mehr Investitionen in die Erforschung dieser Krankheit.

Dieser Text hat im Bett begonnen.

Enden lassen möchte ich ihn genau hier: auf einem öffentlichen Platz an der Seite jener liegend, die die grösste Erschöpfung haben und ihre Körper trotzdem auf die Strasse tragen.

Paula Fürstenberg (37) ist Schriftstellerin und veröffentlichte Anfang 2024 «Weltalltage». Der Roman handelt vom Krank- und Gesundsein und einer engen Freundschaft, die deswegen vor eine Zerreissprobe gestellt wird. Paula Fürstenberg lebt in Berlin.

Der vorliegende Essay entstand im Rahmen der Ausstellung «Hauptsache gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen», im Stapferhaus in Lenzburg und ist Teil der Ausstellungspublikation «Hauptsache gesund? 33 Fragen, 111 Antworten». Der Essay wurde annabelle exklusiv zur Verfügung gestellt.

Die Ausstellung «Hauptsache gesund. Eine Ausstellung mit Nebenwirkungen» im Stapferhaus in Lenzburg dauert vom 10. November 2024 bis 26. Oktober 2025.

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