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Sardinien: Warum auf der Insel so viele Menschen über Hundert werden

Sardinien: Warum auf der Insel so viele Menschen über Hundert werden

Weshalb es auf Sardinien eine überdurchschnittliche Häufung von Menschen gibt, die hundert oder mehr Jahre leben, ist Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Zu Besuch in einer sogenannten Blue Zone.

Im Jahr, als Pietrino Culurgioni geboren wurde, hatte Österreich noch einen Kaiser und Russland einen Zaren. Der Erste Weltkrieg wütete in Europa, auf den Strassen fuhren Pferdekutschen, in den Kinos f lackerten die ersten Charlie-Chaplin-Stummfilme zu Klaviermusik.

Heute sitzt Pietrino Culurgioni aufrecht im Sessel neben dem Holzofen und strahlt uns mit wachen Augen an. Er zupft seine Schiebermütze zurecht und begrüsst uns mit festem Handschlag. «In den Armen habe ich viel Kraft, weil die Krücken sie trainieren. Aber seit diesem Jahr wollen die Beine nicht mehr so richtig», sagt er mit etwas zu lauter Stimme.

Culurgioni ist 106 Jahre alt. Wenn er spricht, holt er weit mit den Armen aus und gestikuliert mit den grossen Händen. Mit neun Jahren fing er an zu arbeiten, sein Leben lang war er Ziegenhirte. Bis er hundert wurde, führte er noch jeden Tag seine Herde selbst auf die Weide, melkte und versorgte die Tiere. Mit 103 begleitete er noch seinen 75-jährigen Sohn, um ihm über die Schulter zu schauen. Seit ein paar Jahren lässt Pietrino Culurgioni es ein bisschen gemütlicher angehen: «Ich trinke jeden Tag sechs Espresso und geniesse wirklich jeden Schluck davon, denn mehr als sechs erlauben meine Töchter mir nicht.» Er lacht. Als wir gehen, sagt Culurgioni zum Abschied: «Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie so alt werden wie ich!», und hält seine knorrigen Hände in die Höhe wie für eine Segnung.

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Auf Sardinien gibt es viele energiegeladene Superalte wie Pietrino Culurgioni. Im Süden der Insel liegt eine der fünf sogenannten Blauen Zonen der Welt. Das sind Langlebigkeitscluster, wo besonders viele Menschen hundert Jahre oder älter werden. Das fiel in den Neunzigerjahren einem jungen sardischen Arzt und Epidemiologen auf: Gianni Pes. In Eigenregie klapperte er die Gemeinden ab, sprach mit den Hundertjährigen und durchforstete die historischen Gemeindearchive und Kirchenbücher nach Geburts- und Sterbeurkunden, auf der Suche nach wissenschaftlich belastbaren Daten. Gianni Pes’ Recherche zeigte, dass die Region Ogliastra einen hohen Extreme Longevity Index hat, also eine besonders hohe Dichte an Hundertjährigen im Vergleich zur Einwohnerzahl: durchschnittlich hzehnmal mehr Hundertjährige als im restlichen Europa.

1999 präsentierte Gianni Pes seine Ergebnisse auf einem internationalen Kongress in Montpellier. «Als ich meine Daten auf den Overheadprojektor beamte, standen einige Kollegen auf und protestierten lautstark: ‹Das ist unmöglich! Diese Daten können nicht stimmen!› Ich kann mich noch erinnern, wie sie wütend mit den Unterlagen fuchtelten», erzählt Pes, 65 Jahre alt, weisser Schnurrbart und immer ein etwas ironisches Lächeln auf den Lippen.

Die Dörfer, die er untersucht hatte, umrandete Pes damals auf einer Faltkarte mit einem blauen Filzstift. «Als ich im Mai, Juni 2000 von Weitem auf die Karte blickte, sah ich eine Häufung der blauen Kreise, die sich wie eine blaue Wolke in der Region Ogliastra abzeichnete, und nannte den Cluster deshalb Zona Blu.»

Gianni Pes ist heute Professor für Epidemiologie an der Universität Sassari. Im Laufe der vergangenen dreissig Jahre konnte er mit anderen Wissenschafter: innen weltweit insgesamt vier weitere solcher Langlebigkeitscluster identifizieren: Okinawa in Japan, Ikaria in Griechenland, Nicoya in Costa Rica und jüngst kam noch der Ort Loma Linda in Kalifornien dazu. In den weltweiten Blue Zones kommen statistisch auf jeden hundertjährigen Mann vier hundertjährige Frauen. In Sardinien hingegen werden laut den von Pes gesammelten Daten genauso viele Männer wie Frauen hundert Jahre plus. Was ist das Geheimnis der Insel der Hundertjährigen?

«Als ich mit den Untersuchungen anfing, war man überzeugt, die Erklärung dafür liege im sardischen Genpool. Dieser lässt sich 4000 Jahre zurückverfolgen und war durch die Insellage lange von äusseren Einflüssen abgeschirmt», sagt Pes. Früher ging man davon aus, dass Gene zu mindestens 25 bis 30 Prozent für Langlebigkeit verantwortlich sind. Inzwischen haben Studien aber gezeigt: Statistisch haben die Ehe- oder Lebenspartner:innen von Hundertjährigen eine höhere Wahrscheinlichkeit, selbst hundert zu werden, als die Geschwister der Hundertjährigen. Das spricht dafür, dass der Lebensstil mehr ins Gewicht fällt, als bisher angenommen. «Heute ist der wissenschaftliche Konsens, dass die Genetik nur zu zehn Prozent für extreme Langlebigkeit verantwortlich ist. Die restlichen neunzig Prozent sind auf Faktoren wie Umgebung und Lebensstil zurückzuführen», erklärt Pes.

«Oh! Auf wen willst du denn schiessen, junger Mann?», sagt Efisio Taccori aus Teulada amüsiert, als der Fotograf das Stativ vor ihm aufbaut. Taccori ist zum Zeitpunkt unseres Besuchs erst vor ein paar Tagen hundert geworden. Er zeigt uns stolz ein Foto von sich, vor einer riesigen Torte, beide Daumen in die Höhe gestreckt. Dann kauert er sich wieder in den Sessel. Mit eingezogenem Kopf und verschränkten Armen, die Hände unter die Achseln geschoben, um sie warm zu halten, lehnt er seitlich an der Armlehne. Seine Tochter erklärt uns, diese kauernde Haltung sei die Position gewesen, in der Wanderhirten wie er Unwettern trotzten.

Wenn man Efisio Taccori nach einer schönen Erinnerung fragt, wird er hellwach, richtet sich auf und erzählt von den Festen, die die Wanderhirten abends zusammen feierten. «Ab und zu liessen wir ein Zicklein aus der Herde ‹verschwinden›», erzählt Taccori und versteckt mit einer kreisenden Geste eine Hand hinter der anderen. Seine Augen blitzen, er schmunzelt.

«Da das niemand mitkriegen durfte, legten wir das ganze Zicklein gut eingepackt in Holzglut und vergruben es unter der Erde. So garte es langsam vor sich hin und wenn wir abends alle zurück an den Schlafplatz kamen, war es perfekt», schwärmt er. Taccori ist ein Feinschmecker geblieben: Laut seiner Tochter sei keine Packung Glace in der Tiefkühltruhe vor ihm sicher. «Wenn es nach ihm ginge, würde er den ganzen Tag Glace essen. Wir haben uns auf zweimal am Tag geeinigt», sagt sie. Efisio Taccori nickt zufrieden.

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«Hundertjährige sind vor allem eines: Expert:innen der Bewältigung und der Umdeutung»

Altersforscherin Daniela Jopp

Tatsächlich zeigt der Lebensstil der Hundertjährigen in allen Blue Zones der Welt gewisse Gemeinsamkeiten: ein Leben lang ein moderates Kaloriendefizit, nur sporadischer Fleischverzehr, aber kein totaler Vegetarianismus; besonders viele Hülsenfrüchte auf dem Speiseplan sowie auch Sauerteig beziehungsweise fermentierte Nahrungsmittel, die das Mikrobiom im Darm fördern; natürlich vorkommende Antioxidantien wie etwa das Resveratrol im Rotwein oder die Polyphenole im grünen Tee.

Hinzu kommt in allen Blue Zones ein Leben lang tägliche Bewegung in konstant niedriger Intensität, wie etwa Gartenarbeit oder lange Strecken zu Fuss. Da nur in der sardischen Blue Zone gleich viele Männer wie Frauen hundert werden, studierte Gianni Pes deren Lebensstil genauer, auf der Suche nach messbaren Faktoren. Dabei kristallisierten sich drei Variablen heraus, die die Mehrheit von ihnen gemeinsam hatten: der Beruf des Hirten oder der Hirtin, die Entfernung der Arbeitsstelle vom Wohnort und die Steigung des Geländes in und um ihr Heimatdorf.

«Wir stellten fest: Die Hundertjährigen in der Ogliastra-Region und in Teulada waren fast alle Wanderhirten, die ein Leben lang jeden Tag bis zu 35 Kilometer zu Fuss in hügeligem Terrain zurücklegten, immer wieder bergauf und bergab. Und das führte uns zur nächsten Frage: Was haben diese Wanderhirten noch gemeinsam?» Die Antwort war: reichlich Ziegenmilch. 2021 haben Pes und sein Team eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass einige in der sardischen Ziegenmilch enthaltenen Stoffe das Mikrobiom im menschlichen Darm dazu anregen, bestimmte Fettsäuren zu produzieren.

Diese Fettsäuren aktivieren wiederum besondere Enzyme im Körper: die Sirtuine. Sirtuine stimulieren in den Körperzellen den Prozess der Autophagie, also die «Müllabfuhr» der Zellen. Beschädigte Zellteile werden getilgt und so wird vermieden, dass sich fehlerhafte Informationen weiter vermehren. Die Zellen bleiben länger gesund und der Alterungsprozess des Körpers schreitet insgesamt langsamer voran.

Wie Trophäen hängen in der Küche neben den Fotos von Gross- und Urgrosskindern Salvatore Deiddas goldene Geburtstagskerzen: 99, 100, 101. Auch er war sein Leben lang Wanderhirte. Bis er 99 war, fuhr er noch jeden Tag mit dem Moped auf die Weiden, um nach seiner Herde zu sehen.

Als wir kommen, isst er gerade. Er freut sich über den Besuch, fragt laut «Wer ist da?». Salvatore Deidda ist schwerhörig, letztes Jahr wurde er zusätzlich blind. Aber er ertastet das Glas und schenkt sich selbst ein. Zum Abschied scherzt er: «Wenn ich 102 werde, sage ich weiterhin, ich bin 101, das wirkt deutlich attraktiver.» Dann lacht er laut und zufrieden über sich selbst. Wer hundert werden will, braucht Humor.

«Hundertjährige sind vor allem eines: Expert:innen der Bewältigung und der Umdeutung», sagt Altersforscherin Daniela Jopp. Sie ist Psychologin und Professorin an der Universität Lausanne. Dort forscht sie zu den psychischen und sozialen Aspekten der extremen Langlebigkeit. «Wir unterscheiden in der Psychologie zwischen aktiven und passiven Coping-Strategien. Active Coping, also aktive Bewältigung, ist, wenn man proaktiv versucht, ein Problem zu lösen, anstatt nur die Auswirkungen des Problems zu ertragen. Diese Art von Coping ist bei jungen Menschen verbreiteter. Mit zunehmendem Alter wird aber auch das passive Coping wichtiger. Dazu gehören etwa Akzeptanz der Dinge, die man nicht ändern kann, und das Reframing, also das Uminterpretieren einer Situation.»

Aus einer Studie, die Daniela Jopp 2023 veröffentlichte, ging hervor: Hundertjährige haben besonders gute Fähigkeiten bei den anpassenden, passiven Coping-Strategien. «Natürlich haben diese sehr alten Menschen alle mindestens drei bis zehn schwerwiegende gesundheitliche und sensorische Beeinträchtigungen, aber wenn man sie fragt: ‹Wie fühlen sie sich gesundheitlich?›, sagen sie alle: ‹Super! Was soll ich mich beschweren, alle anderen sind ja schon tot!›. Das ist ein sehr gutes Beispiel für gelungenes Reframing.» Das Reframing geht also Hand in Hand mit einem gewissen Optimismus und einer Gelassenheit, die zu mehr psychischer Resilienz führt und vor Depressionen schützt. Letzteres wirkt sich wiederum auf die Langlebigkeit aus.

Pietrina Puccioni, 97 Jahre alt, ist eine Meisterin dieser Umdeutung. «Ich habe keine Zähne mehr, aber der liebe Gott hat mir einen guten Magen geschenkt, ich verdaue alles!», sagt sie und grinst breit. Oder wenn sie erzählt: «Als junges Mädchen ging ich jeden Tag drei Stunden zu Fuss zu unserem Feld unten am Fluss. Dort holte ich mir Malaria. Jeden Sommer kam das Fieber zurück und ich lag einen Monat schwerkrank im Bett. Aber umgebracht hat es mich nicht», sagt sie und kichert zufrieden, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie dem Tod eins ausgewischt.

Ihr Vater hatte keinen Sohn und brachte Pietrina die Arbeit mit dem Pflug bei, die normalerweise den Männern vorbehalten war – denn von den vier Schwestern war sie die Einzige, die keine Angst vor den grossen Ochsen hatte. Wenn man sie nach einer schönen Erinnerung fragt, erinnert sie sich, wie in einem Sommer Diebe durchs Tal streiften und Flachsbündel klauten. «Mein Vater war nicht da. Ich habe schnell die Ochsen vor den Wagen gespannt, bin runter zum Feld gefahren und habe unsere gesamte Ernte, ein Bündel nach dem andern, auf den Wagen geladen und mit hoch ins Dorf genommen. Ich habe die Ernte des ganzen Jahres gerettet. Da war ich zwölf Jahre alt.»

Daniela Jopp sagt dazu: «In vielen Erzählungen der Hundertjährigen kann man heraushören, welch starke, resiliente Persönlichkeiten diese Menschen von klein auf waren. Hundertjährige sind oft ‹Überlebende›, die sich von nichts haben unterkriegen lassen und eine gewisse Gelassenheit besitzen. Das ist gut für die Stressbewältigung.» Sprich: Wer mit Stress umgehen kann, lebt länger. Daniela Jopp fährt fort: «Ebenfalls einen Effekt auf das Altern hat das sogenannte Self Stereotyping, also die eigene Einstellung gegenüber dem Altern. Auch hier zeigen Studien: Negative Gefühle gegenüber dem eigenen Altern scheinen dazu beizutragen, dass der Körper wirklich schneller abbaut.»

Die Tochter von Adelia Belci öffnet uns die Haustür mit Gips und Krücken, sie hat sich einen Fuss gebrochen und ist für die Rekonvaleszenz zu ihrer Mutter gezogen, die ihr gern aushilft. Adelia, 101, trägt eine modische Brille und ein blaues T-Shirt mit mehreren Schlitzen an den Oberarmen, durch die ihre gebräunte, feste Haut durchscheint. Das weissgraue Haar mit violettem Schimmer legt sich in Wellen schwungvoll um ihr Gesicht. «Ich wasche und frisiere mir die Haare noch selbst. Ich war früher Coiffeuse», sagt sie. «Ich bin nicht mehr so gut zu Fuss. Aber wenn ich sitze, spüre ich die hundert Jahre überhaupt nicht.»

«Ich hatte nie vor, hundert zu werden. Ich hab einfach immer weitergelebt»

Adelia Belci (101)

Adelia ist seit 45 Jahren Witwe und hat sechs Kinder. Nur einmal im Leben war sie im Krankenhaus, für die Geburt des letzten Kindes. Sie spielt jeden Tag Sudoku und Karten und machte bis vor Kurzem bei grossen Familienfesten noch hausgemachte Gnocchi für alle. «Ich hatte nie vor, hundert zu werden. Ich hab einfach immer weitergelebt. Aber ich hab niemandem was getan und keine Angst zu sterben. Ich werde schon nicht in die Hölle kommen», sagt sie und lacht.

Die eigene positive Einstellung gegenüber dem Altern wird massgeblich vom eigenen Umfeld geprägt. Auf Sardinien fällt auf: In allen Dörfern, die wir besuchen, geniessen die Hundertjährigen Respekt und Wohlwollen. Wenn man auf der Strasse nach ihrem Haus fragt, merkt man: Die Bewohner: innen sind stolz auf «ihre» Hundertjährigen. Jeder nennt sie «Tziu» und «Tzia» plus ihren Vornamen, also «Tziu Pietrino» oder «Tzia Maria» als seien sie die Onkel und Tanten der gesamten Dorfgemeinschaft. Sie sind eingebettet in ein soziales Netzwerk aus Familie und Nachbarn.

Daniela Jopp betont die Wichtigkeit der sozialen Kontakte: «Menschen, die mehr Austausch und starke positive Beziehungen haben, geht es insgesamt besser. Wir wissen aus Studien: Wer einsam ist, stirbt früher. Die Auswirkungen von Einsamkeit auf die Lebensspanne sind statistisch vergleichbar mit Rauchen oder Übergewicht.»

«In welche Zeitung kommt denn das Foto?», fragt Antonietta Conchiero, 98, und streicht sich mit schlanken Händen die weissen Haare unters schwarze Kopftuch. «Wenn ich gewusst hätte, dass ein Fotograf dabei ist, hätte ich eine schönere Bluse angezogen und ein bisschen Lippenstift aufgetragen.» Dann setzt sie sich aufrecht in den Sessel, presst die Knie zusammen und legt die gefalteten Hände in den Schoss. In dieser steifen Pose wirkt sie wie die Schwarz-Weiss-Fotos, die man zur Jahrhundertwende beim Fotografen machen liess, die Frau sitzend, der Mann stehend daneben.

Antonietta Conchiero war die älteste von neun Geschwistern und hat früh mit anpacken müssen. Mit 23 Jahren wurde sie Witwe. Da war ihr erstes und einziges Kind gerade zwei Jahre alt und sie brachte es mit Gelegenheitsjobs alleine durch. «Ich habe mir Mut zugesprochen und einfach immer weitergemacht.»

Während Gianni Pes sie zu ihrer Ernährung und ihrem Lebensstil befragt, wippt Antonietta mit dem Fuss, wie ein ungeduldiger Teenager, der zu lange stillgesessen ist. Als Pes fragt, wie sie früher das Brennholz oder die Wäsche vom Fluss geholt hat, springt sie auf, schnappt sich ein Küchentuch vom Tisch, rollt es zu einem Kringel und legt ihn auf ihren Kopf. Dann nimmt sie einen Korb, so gross wie ein Sombrero, und setzt ihn auf den eingerollten Handtuchkringel. Stolz lächelnd spaziert Antonietta kerzengerade durchs Zimmer. «Und wenn uns etwas runterfiel, haben wir es aufgehoben, ohne den Korb abzusetzen.» Mit sichtlicher Genugtuung geht sie mit geradem Oberkörper tief in die Knie, hebt etwas auf und legt es in den Korb auf ihrem Kopf.

Als die Enkelin ein traditionelles sardisches Lied auf dem Handy laufen lässt, ist Antonietta nicht mehr zu halten. Sie hakt sich strahlend bei der Enkelin ein, hüpft vor, zurück und im Kreis. Dann versucht sie, uns allen die Schrittfolge beizubringen.

«Die Hundertjährigen auf Sardinien haben noch etwas gemeinsam: Sie sind nie in Rente gegangen und sie hatten alle auch im Alter einen ‹purpose›, also einen Lebenszweck. Das können Enkelkinder sein, die Ziegenherde, ein Hobby oder eine Leidenschaft. In Japan gibt es ein eigenes Wort dafür: Ikigai. Das ist der Grund, weshalb man morgens aus dem Bett aufsteht», sagt Gianni Pes. Für die 93-jährige Agostina Arzu etwa ist es ihr Garten, zu dem sie jeden Morgen fährt. Zuerst steigt sie in einen Bus, dann muss sie noch einen Kilometer weit laufen. Emsig setzt sie das Bewässerungssystem für ihre Bäume zusammen, als der Fotograf sie ablichtet und dabei kaum mit ihr Schritt halten kann.

Auf dem Friedhof von Teulada zückt Paolo Madeddu einen Stift und schreibt wie auf einen Einkaufszettel aus dem Stegreif 26 Namen auf. «Das sind allein die Hundertjährigen, die ich seit 1975 persönlich kannte.» Madeddu, 75 Jahre alt, gemütliche Figur, freundliche Augen und ein schallendes Lachen, führt uns vorbei an moosbewachsenen Grabsteinen mit Jugendstilschrift. Sie verraten, dass hier schon im letzten und vorletzten Jahrhundert viele hundert wurden.

Mit dem Zettel in der Hand führt uns Madeddu zu den Gräbern der Hundertjährigen, die er persönlich kannte. Zu jedem Namen hat er eine Anekdote parat. Vor dem Grab von Emanuele Garau – auf dem Grabstein steht 1917 bis 2022 – erzählt Madeddu: «Tziu Emanuele hatte bis zuletzt ein unfassbar gutes Gedächtnis, er war unser wandelndes Gemeindearchiv. Viele Bewohner:innen befragten ihn, wenn sie rekonstruieren wollten, in welchem Jahr etwas Bestimmtes passiert ist. Er war bis zuletzt mental voll da. Als er eine sehr attraktive Zugehfrau bekam und ich ihn besuchte, fragte er mich grinsend: ‹Na, Paolo, bist du wegen mir oder wegen ihr hier?› Da war er 105 Jahre alt. Er starb von einem Moment zum anderen, als hätte man eine Kerze ausgepustet.»

Am 4. November 2023 hat Gianni Pes die Gemeinde Teulada – im Süden Sardiniens, aber ausserhalb des bisherigen Clusters in der Ogliastra – zu einer weiteren Blue Zone erklärt. Pes analysiert momentan weitere Gemeinden und ist zuversichtlich, dass Sardinien in den nächsten Jahren noch weitere Blue Zones bekommen wird.

«Vor dem Einschlafen, wenn ich im Bett liege und alles ruhig ist, kommen mir die Gedichte in den Sinn, die ich als Junge auswendig gelernt habe»

Stefano Ballisai (100)

Paolo Madeddu begleitet uns zu Maresciallo Stefano Ballisai. Als wir in den Raum kommen, steht dieser kerzengerade da, Brust raus, wie in Habacht-Stellung. Ballisai ist gross und schlank, verliert sich ein bisschen im Tweed-Jackett. Für das Interview hat er eine dunkelrote Seidenkrawatte ausgesucht und ein Spitzentuch in die Brusttasche gesteckt. Stolz zeigt er die vielen bunten Orden, die er an die Brusttasche des Jacketts geheftet hat.

Stefano Ballisai, hundert Jahre alt, ist der Cousin von Pietrino Culurgioni, dem 106-jährigen Wanderhirten, der uns am Anfang unserer Reise gesegnet hatte. Zwei Leben, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: Denn Ballisai war kein Wanderhirte, sondern Soldat bei der italienischen Luftwaffe.

Stefano Ballisai spricht leise, wählt seine Ausdrücke sorgfältig. Er erzählt, wie er überall in Italien stationiert war. Wie er für Fortbildungen nach Chicago und San Francisco geschickt wurde. Wie er im Krieg dem Tod haarscharf entkam, als die sardische Hauptstadt Cagliari bombardiert wurde. Wie er mit 56 als zu alt galt und in den Ruhestand geschickt wurde.

Vielleicht ist Hundertwerden manchmal nicht nur eine Frage der Genetik, der Ernährung, des Lebensstils und der Einstellung. Vielleicht ist es manchmal einfach nur Glück. Das Glück, nicht gestorben zu sein, Krankheiten gut überstanden, die Sinne noch beisammen zu haben. Denn bei all dem, was Stefano Ballisai erlebt hat, gilt sein letzter Gedanke am Abend nicht seinen vielen Abenteuern: «Vor dem Einschlafen, wenn ich im Bett liege und alles ruhig ist, kommen mir die Gedichte in den Sinn, die ich als Junge auswendig gelernt habe. Es ist der schönste Moment des Tages.»

Er steht auf. Kerzengerade trägt er Verse von Giacomo Leopardi vor; nicht theatralisch, sondern selbstvergessen und ruhig, als würden die Worte innerlich nachhallen. Seine ernsten Augen leuchten, ein Lächeln flutet das ausgehöhlte Gesicht.

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