Vor vier Jahren entdeckte unsere Autorin Julia von Weber einen Knoten in ihrer Brust. Die Journalistin war mit ihrer Familie gerade in Spanien angekommen für eine Auszeit. Zwei Jahre später der nächste Schock: Bei ihrer Schwester wurde ebenfalls Krebs diagnostiziert. Was das mit ihr machte – und wie sie damit umging.
Es begann unscheinbar. Ein intuitiver Griff zur Brust, während ich im Meer im nordspanischen Santander schwamm. Ein kleiner Knoten, wie eine Erbse unter der Haut. Zwei Wochen später verkündete mir ein spanischer Gynäkologe den niederschmetternden Satz: «Lo siento, es cáncer.» Ich, Brustkrebs? Mit gerade mal 45 Jahren? Das durfte nicht wahr sein. Wir waren doch hierhergekommen, um Spass zu haben und Familienzeit zu geniessen.
Schock und Unglauben lähmten mich. Zuerst rief ich meinen Mann an. Etwa im ähnlich sachlichen Ton wie der Arzt zuvor sagte ich ihm: Krebs, aber früh entdeckt, OP, Bestrahlung und Hormonbehandlung, vermutlich keine Chemo nötig. Dann Velofahrt nach Hause, völlig neben mir. Die Altstadt, das Meer – alles zog an mir vorbei, als wäre ich nur Beobachterin. Erst als ich mit meiner Schwester telefonierte, brach es aus mir heraus. Tränen, Trauer, das Gefühl, versagt zu haben. Ich kämpfte nicht nur mit der Diagnose Krebs, sondern auch damit, das lang ersehnte Sabbatical ruiniert zu haben.
Nach Tagen der Lähmung kam etwas Bewegung rein. Ich begann zu handeln. Dank meiner früheren Recherchen für einen Dokumentarfilm über Onkologie und alternative Heilmethoden wusste ich einiges. Aber die Unsicherheit blieb: Soll ich mich in Spanien behandeln lassen? Ich holte eine Zweitmeinung am Unispital Zürich ein. Da wurde mir versichert, ich könne mich bedenkenlos da behandeln lassen. Gutes Spital, zertifiziertes Brustzentrum, alles nach europäischem Standard. Doch konnte ich das wirklich durchziehen? In einem fremden Land, mitten in der Pandemie, ohne mein soziales Umfeld ausser meinem Mann und unseren zwei Kindern?
Wir entschieden uns, zu bleiben. Unsere Kinder waren damals sieben und elf Jahre alt. Als der OP-Termin feststand, erklärte ich ihnen vorsichtig, was passieren würde. «Stirbst du, Mami?», fragte mein Sohn. Ich verneinte und damals glaubte ich fest daran. Der Tumor war nah an der Haut und konnte brusterhaltend entfernt werden. Doch dann der nächste Schock: «Es ist ein Hockrisiko-Tumor.» Eine sechsmonatige Chemo wurde empfohlen. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Bis dahin hatte ich funktioniert, doch jetzt wurde mir klar, was das alles bedeutete.
Die Chemo- und Bestrahlungstherapie sowie deren potenziellen Nebenwirkungen hörten sich für mich so brutal an: Haarausfall, Übelkeit, Schwäche, ein stark geschwächtes Immunsystem, Erbrechen, Chemo-Brain, Blutbildungsstörungen, Polyneuropathie, Lymphödeme, Wechseljahresbeschwerden. Die Begriffe wirbelten durch meinen Kopf: War das wirklich der Weg? Ich fühlte mich gar nicht krank!
Wie hatte sich dieser Krebs so unauffällig in mein Leben geschlichen? Warum hatte mein Körper überhaupt Krebs entwickelt? War es einfach Zufall, ein statistisches Schicksal im Würfelspiel der Natur, das jede achte Frau trifft? Spielten gar Aspekte meines Lebensstils oder mein Stress eine Rolle dabei, dass ich nun auch zu den rund 6500 Frauen gehörte, die laut Krebsliga Schweiz jährlich an Brustkrebs erkranken? Hatte ich gar unterbewusst bereits eine Vorahnung gehabt, als wir die Entscheidung für die Auszeit in Spanien ein Jahr davor getroffen hatten?
«Frisst mich der Krebs auf oder machen mich eher die Behandlungen kaputt?»
Ich suchte weiter nach Alternativen und sprach erneut mit dem Brust-Zentrum in Zürich. Nach Besprechung der Biopsie kam die erlösende Nachricht, die Ärzt:innen gaben Entwarnung: Es ist doch keine Chemo nötig. Eine Hormontherapie würde reichen. Doch auch der Preis für diese Behandlung würde hoch sein: künstlich herbeigeführte Wechseljahre und all ihre möglichen Nebenwirkungen – von Herzrasen, Gelenkschmerzen, Hitzewallungen, Schlafproblemen über Libidoverlust bis Depression. Ein massiver Eingriff in meine Weiblichkeit und mein Leben.
Ich war wütend, fühlte mich alleingelassen. Der Fokus der Ärzte lag klar auf der Beseitigung des Tumors und Verhinderung eines Rückfalls – auf meinem Überleben. Krebsfrei, ja. Aber was war mit meiner Lebensqualität?
Frisst mich der Krebs auf oder machen mich eher die Behandlungen kaputt? Es folgten kräftezehrende Auseinandersetzungen mit mir selbst und meinem Mann. Während mich die Angst vor den Therapien mehr lähmte als die Furcht vor dem Krebs, konnte er nicht nachvollziehen, dass ich Therapien ablehnen würde, die mich heilen könnten. Immer wieder kam der verzweifelte Gedanke auf: Wo bitte schön war nur der «Undo-Button» für das Krebsgeschehen in meinem Körper?
Unterstützung für die Seele
Ich entschied mich für die Strahlentherapie und fuhr jeden Tag mit dem Velo hin zum Spital in Santander und zurück. Ich joggte, spazierte am Strand und praktizierte Yoga. Das tat mir gut und wirkte dem ganzen Stress durch die Diagnose entgegen. Aber ich spürte, dass es damit alleine nicht getan war. Dass meine Seele ebenfalls dringend Unterstützung brauchte. Ich fand einen Psychologen, der auch Qi Gong und Reiki in seine Arbeit einfliessen liess.
Er half mir beispielsweise mit Visualisierungstechniken, die Bestrahlung besser annehmen zu können. Vor jeder Strahlentherapie-Sitzung griff ich zu einer musikalischen Glückspille: dem Song «Jerusalema», der wie ein kraftvoller Stimmungsaufheller wirkte. Dabei stellte ich mir vor, wie Lichtstrahlen wie ein Laserschwert gezielt verbliebene Krebszellen auflösten.
Ich holte mir auch Hilfe bei einer TCM-Therapeutin, die mich akupunktierte und meine Ernährung umstellte: Zucker und Alkohol wurden gestrichen. Dazu kamen viel Gemüse, Beeren, Samen, Körner, Hülsenfrüchte, Pilze, Algen, Kräuter und Grüntee. Ich begann diszipliniert, zu meditieren, und schaute, dass ich zu genügend Schlaf kam.
Aktive Gestalterin meiner Genesung
Diese ganzheitliche Herangehensweise half mir, Körper und Geist zu synchronisieren. Ich lernte, auf meinen Körper zu hören. Ihn ernst zu nehmen. Der Krebs zwang mich dazu, mich um meine Gesundheit und meine Bedürfnisse zu kümmern. Mich wieder an erster Stelle zu setzen. Durch diesen Prozess fühlte ich mich nicht mehr als Opfer, sondern als aktive Gestalterin meiner Genesung. Die enge Zusammenarbeit mit Ärzt:innen und Therapeut:innen gab mir das Gefühl, das Ruder selbst in der Hand zu halten.
In der Folge sog ich Wissen aus allen erdenklichen Bereichen auf. Und je mehr ich mir aneignete, desto grösser war auch der Drang, dieses Wissen an Frauen mit dem gleichen Schicksal weiterzugeben. Ich liess mich deshalb zum Gesundheits- und Ernährungscoach ausbilden und absolvierte einen besonderen Lehrgang für Cancer-Yoga. Heute helfe ich als Coach anderen Frauen mit Brustkrebs dabei, ihre Lebensqualität zu verbessern, und baue sie auf, damit sie selbstbestimmt und zuversichtlich aus ihrer Krankheit finden.
«Die Angst, sie zu verlieren, lähmte mich»
So weit, so gut. Doch dann kam schon der nächste Schlag: Meine zwei Jahre ältere Schwester erhielt die gleiche Diagnose. Meine Welt brach nochmals zusammen. Ein überwältigender Schmerz durchdrang jede Faser meines Körpers. Die Angst, sie zu verlieren, lähmte mich. In diesem Moment brachte auch die Tatsache wenig Trost, dass heute vier von fünf Frauen Brustkrebs überleben.
Unsere Familie schien vom Krebs verfolgt: Erst meine Cousine, dann ich und jetzt meine Schwester – wir alle erkrankten in ähnlichem Alter an Brustkrebs. Gentests brachten keine Erklärung und auch die Familiengeschichte bot wenig Anhaltspunkte. Was man weiss: Etwa bei einem Fünftel der Betroffenen kommt eine familiäre Häufung vor. War es unser Lifestyle? Unsere Umwelt? Trauma?
Zusammenhang von Stress und Krebs nicht nachgewiesen
Die Antwort einer der behandelnden Ärztinnen meiner Schwester, Dr. Constanze Elfgen, leitende Ärztin im Brust-Zentrum Zürich: «Wir wissen es nicht. Möglicherweise gibt es komplexe Kombinationen von Genen, die im Zusammenspiel mit Umwelt- oder Lifestyle-Faktoren wie zum Beispiel Rauchen das Risiko erhöhen, sodass mehrere Familienmitglieder betroffen sind.»
Die Frage nach psychischen Stressoren oder Traumata als Ursache von Krebs sei mit den heutigen Forschungsansätzen noch schwieriger zu beantworten. «Man weiss um den negativen physischen Effekt, aber ein klarer Zusammenhang von Stress, Trauma und Krebs konnte bislang nicht nachgewiesen werden.»
Ihr Krebs war aggressiv, die Behandlung hart
Meine Schwester trank seit Jahren keinen Alkohol, rauchte nicht, ernährte sich sehr bewusst und trieb regelmässig Sport. Ich verstand die Welt nicht mehr und spürte diese tiefe Erschütterung. Ihr Krebs war aggressiv, die Behandlung hart: Chemo, Bestrahlung, Immuntherapie, Mastektomie. Auch wenn mein Therapieplan nicht so anspruchsvoll war, fühlte es sich an, als würde ich meine eigene Krebsreise ein zweites Mal durchleben – diesmal als Zuschauerin. Die Angst, ich könnte rückfällig werden, kam wieder hoch.
Es gelang mir dennoch, in den Positiv-Modus und in die Rolle des Coaches zu wechseln, weil ich wusste: Sie braucht meine Unterstützung mehr denn je. Dabei realisierte ich, dass auch sie ihren eigenen Weg gehen muss. Was für mich funktionierte, war nicht automatisch auch ihr Weg. Das zu akzeptieren, war schwer für mich. Wenn ich andere Frauen coache, fällt mir das einfacher. Da grenze ich mich besser ab, obwohl ich mitfühle und mitleide.
So nah wie noch nie zuvor
Meine Schwester war überzeugt: Die Chemo- und Immuntherapie wird ihr das Leben retten. Trotzdem war es hart zu ertragen, wenn es ihr nach der Chemo mies ging, ihre Haare ausfielen und ihr die Nebenwirkungen heftig zu schaffen machten, teilweise bis heute noch. Besonders schlimm war, dass uns auch noch gute 1000 Kilometer trennten, ich war schliesslich noch immer in Spanien. Stundenlang haben wir telefoniert, Sprachnachrichten und Whatsapp-Messages ausgetauscht. Ich wurde ihre grösste Unterstützerin, half ihr, wann immer sie es brauchte. Dabei kam ich ihr in jener Zeit so nah wie noch nie zuvor.
Am 80. Geburtstag unserer Mutter sah ich sie endlich wieder. Mit stylischem Turban. Wie sie darunter aussah, habe ich nie gesehen. Ihre Kinder nannten sie liebevoll «Glatzchöpfli». Ich sah dafür, wie schön sie war. Auch ohne Brauen und Wimpern. Ihre smaragdgrünen, schön geschminkten Augen strahlten und der rote Lippenstift dazu passte perfekt. Die Chemo war fast überstanden. Jetzt stand noch die OP an der Brust bevor – Mastektomie und direkter Wiederaufbau mit Eigengewebe. Auch das war nochmals happig. Nach der OP und noch Wochen danach hatte sie heftige Schmerzen.
«Du packst das, Süsse!», sagte ich ihr immer wieder. Ich ballerte meine Schwester voll mit positiver Energie und gab ihr das weiter, was zuvor für mich die Basis meiner Heilung war: gute, aufbauende Gefühle, Visualisierungen, Dankbarkeitsübungen, Meditation, Atemtechniken und den Fokus legen auf das, was funktioniert. Auch wenn die Situation oft alles andere als ermutigend war.
In unseren Gesprächen tauschten wir uns auch darüber aus, wie wir unsere Eltern als Kinder wahrgenommen hatten. Und welche der Eigenschaften wir an unsere eigenen Kinder weitergaben. Wir reflektierten unsere Mutterschaft, die Herausforderung mit unseren heranwachsenden Teenagern, das permanente Wirbeln im Hamsterrad. All dem konnten wir Raum geben. Je mehr ich ihr zuhörte, desto mehr sah ich auch in den eigenen Spiegel. Dabei vertiefte sich nicht nur unsere Beziehung, jede lernte sich dabei selbst noch besser kennen und verstehen.
Die Narben brauchen Zeit zur Heilung
Meine Schwester und ich sind heute krebsfrei. Die Nachwehen der Behandlungen machen ihr aber immer noch zu schaffen. Die körperlichen und seelischen Narben brauchen mehr Zeit zur Heilung als die Krankheit selber. Meine Frage nach der familiären Häufung von Krebs in unserer Familie ist bis heute offen. Ich bin dankbar für das, was wir beide durch diese Krankheit gelernt haben. Zum Beispiel, dass es keinen «Undo-Button» gibt, sondern nur den Weg nach vorn und den Fokus auf Dinge, die wir verändern können.
Einer meiner behandelnden Ärzte hat es mal so schön auf den Punkt gebracht: «Der Krebs muss nicht nur im Körper verschwinden, sondern auch im Kopf. Verabschieden Sie sich von ihm. Sagen Sie ihm: Du bist nicht mehr bei mir. Ich habe nichts mehr mit dir zu tun.» Diese Worte haben mir geholfen, nicht nur körperlich, sondern auch mental loszulassen und mich auf ein neues, bewussteres Leben einzulassen. Und sie erinnern mich daran, dass Heilung ein ganzheitlicher Prozess ist, der Körper, Geist und Seele gleichermassen umfasst.
Julia von Weber ist Fernsehjournalistin und Coach für Frauen mit Brustkrebs. Sie unterstützt Betroffene in der Krise und hilft ihnen, ihre Lebensqualität zu verbessern. Sie ist zertifizierter Gesundheits- und Ernährungscoach, Gluten-Free-Practitioner und gibt Cancer-Yoga.