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Ein Erfahrungsbericht: Wie es ist, Antidepressiva abzusetzen

Gesundheit

Ein Erfahrungsbericht: Wie es ist, Antidepressiva abzusetzen

Vor zwei Jahren nahm unsere Autorin Celina Euchner zum ersten Mal ein Antidepressivum. Ein Jahr später setzte sie es ab. Wie sich das anfühlt – und worauf man dabei achten sollte.

Inhaltshinweis: Psychische Erkrankungen, Suizidgedanken

 

Mir ist kotzübel, alles dreht sich und in mir tobt Panik: Fühlt sich so das Leben ohne Antidepressiva an? Zwei Wochen nach dem Absetzen des Medikaments prasseln Gefühle auf mich ein. Ich mutiere zum Gewittersturm: Mal blitzt eine Gemeinheit aus mir raus, dann donnert mir ein Lachen über die Lippen und plötzlich regnet es. Ich bin glücklich und traurig, nur passiert das alles gleichzeitig.

Ein Jahr zuvor schluckte ich die erste Pille des Antidepressivums Sertralin. Kleiner als eine Linse, hellgrün und vielversprechend, glitt sie meine Speiseröhre hinab. Ein paar Wochen später wechselte ich zu Escitalopram, weil Sertralin kaum Besserung brachte. Das war 2022, ich war depressiv, wohnte in den USA und kannte dort kaum jemanden, der noch nie Antidepressiva genommen hatte.

«Wir machen glücklich und gesund»

In den USA nehmen laut der Gesundheitsbehörde CDC rund 13,2 Prozent der Bevölkerung Antidepressiva. Die Daten wurden allerdings bis 2018 erhoben und könnten mittlerweile höher liegen. In der Schweiz nehmen deutlich weniger Menschen Antidepressiva. Laut des Bundesamts für Gesundheit hatten im Jahr 2023 etwa vier Prozent der Menschen ab 15 Jahren in den letzten sieben Tagen Antidepressiva genommen.

In Amerika wird überall für die Pillen geworben. Bei Streamingdiensten flimmern dazu Werbeslogans wie «Wir machen glücklich und gesund» über den Bildschirm. Ich entschied mich, die Medikamente auszuprobieren. Meine Depressionssymptome hatten sich zu dem Zeitpunkt trotz Therapiefortschritten nicht sonderlich gebessert – und meine suizidalen Gedanken machten mir Angst.

Ich erwartete nicht, dass sich das steile Werbeversprechen erfüllte. Nach einigen Wochen der Einnahme war ich nicht glücklich und gesund, bekam aber, was ich wollte: Stabilität. Ich kriegte wieder Luft, es war nicht mehr ganz so dunkel um mich herum. Und das für mich Wichtigste: Meine suizidalen Gedanken und das ständige Angstgefühl, das mich seit Monaten begleitet hatte, verschwanden.

Plötzlich war mir vieles egal

Insgesamt ging es mir mit den Medikamenten okay. Nur merkte ich, dass mir vieles plötzlich vollkommen egal war. Dinge, die mich berühren sollten, liessen mich kalt. Das sah so aus: Ich kündigte meinen Traumjob und es juckte mich kaum. Ich zog von New York zurück in mein Kinderzimmer und auch das war mir schnuppe. Ich fand einen neuen Traumjob und auch das tat ich nur müde schulterzuckend.

Aber: All das hätte ich ohne das Escitalopram in meinem Körper nicht geschafft. So depressiv wie ich vor der Einnahme war, konnte ich mich kaum um mich selbst kümmern, geschweige denn um einen transatlantischen Umzug. Genauer: Ich konnte nicht mal meine Post öffnen, ohne zusammenzubrechen.

Doch je länger ich es einnahm, desto mehr Dinge fielen mir auf, die ich als negativ wahrnahm: Ich schwitzte viel mehr als vorher, fühlte mich mir selbst irgendwie fremd. Beides sagte ich meiner verschreibenden Ärztin. Ich sagte ihr auch, dass meine Lust auf Sex kaum noch existierte. Sie meinte, dass all das eben vorkomme und fragte, ob ich ein anderes Medikament ausprobieren wolle. Wollte ich nicht.

Ich akzeptierte meinen neuen Zustand: Meine Lows waren endlich weniger tief, dafür fühlten sich meine Highs jetzt ganz schön flach an. Alles war zwar dumpf und abgeschwächt, aber hey, ich war stabil. Trotzdem, ganz ehrlich: Auf Antidepressiva fühlte ich mich wie labberiger Toast.

«Emotional blunting» als Nebenwirkung

Solche Gefühle sind wohl nicht so ungewöhnlich, wie ich damals dachte. Dr. med. Natalija Gavrilovic Haustein, Chefärztin der Akutpsychiatrie für Erwachsene in der Integrierten Psychiatrie Winterthur, erklärt mir: «Das Phänomen, sich unter der Einnahme von bestimmten Antidepressiva emotional abgestumpft zu fühlen, wird von Patient:innen häufig berichtet.»

Eine Studie aus Grossbritannien zählt gar vierzig bis sechzig Prozent der Patient:innen mit solchen Gefühlen. Sie sagt: «Dieses sogenannte ‹emotional blunting› wird als Nebenwirkung von den Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) gesehen.» Escitalopram und Sertralin gehören zu dieser Gruppe der Antidepressiva. Laut der Expertin könnte es als Teil der Wirkungsweise angesehen werden: Unangenehme Gefühle werden reduziert, allerdings eben auch ein Teil der angenehmen.

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«Ab der zweiten Woche des Absetzens war mir bei jedem Schritt schwindelig, teilweise kotzübel. Spaziergänge fühlten sich plötzlich an wie missratene Tänze, alles drehte sich»

Gibt es einen «richtigen Zeitpunkt»?

Nach einem Jahr entschied ich: Die Medikamente müssen weg. Ich will sie absetzen. Wie ich darauf kam? Meine depressiven Gedanken entfernten sich so weit von mir, dass ich das Gefühl bekam, das, was von ihnen übrig war, auch ohne Medikamente abwehren zu können. Der Zeitpunkt fühlte sich für mich richtig an.

Aber gibt es sowas, einen «richtigen Zeitpunkt»? «Solche Entscheidungen sollten immer in Rücksprache mit der behandelnden Ärztin erfolgen. Je nach Vorgeschichte, also Schwere, Dauer und Anzahl der depressiven Episoden, variiert die Empfehlung, wie lange Antidepressiva einzunehmen sind, um idealerweise einen Rückfall zu vermeiden», sagt Dr. Gavrilovic Haustein.

Ich persönlich hatte nach zwölf Monaten Antidepressiva-Schlucken das Gefühl, dass es mir gut genug geht, um abzusetzen. Ich wollte meine Antidepressiva bedingte Alles-Egal-Haltung ablegen, sprach wochenlang mit meiner Familie und meiner Psychologin darüber. Wann der sagenumwobene «richtige Zeitpunkt» nun ist, konnte mir niemand mit absoluter Sicherheit sagen.

Entscheidung abhängig von zahlreichen Faktoren

Dr. Gavrilovic Haustein, die auch Vorstandsmitglied der Zürcher Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie ist, sagt dazu: «In der Regel wird empfohlen, dass das Antidepressivum, wenn die Depression vorbei ist, noch mindestens weitere sechs Monate eingenommen wird. Das, damit ein Wiederauftreten der Depression verhindert werden kann.»

Die Entscheidung für das Absetzen ist individuell und abhängig von zahlreichen Faktoren. Das können laut der Expertin zum Beispiel sein: eine unzureichende Wirksamkeit, zu starke Nebenwirkungen oder eben das Behandlungsende, wenn die Depression schon seit mindestens mehreren Monaten vorbei ist.

Als ich entschied, das Medikament abzusetzen, bat ich die Ärztin, die mir die Antidepressiva verschrieben hatte, um konkrete Anweisungen. Die lauteten: Reduziere deine Dosis über zwei Wochen. Wie? Halbiere die winzig kleinen Tabletten. Zu dem Zeitpunkt war die Kommunikation nicht optimal, da ich bereits wieder in der Schweiz lebte, die Ärztin sich aber in den USA befand. Ich hielt mich an ihre Anweisung.

«Ausschleichen kann acht bis zwölf Wochen dauern»

Die Winterthurer Chefärztin Dr. Gavrilovic Haustein erklärt mir nun, was meine damalige Ärztin nicht ausführlich beleuchtete: «Bei zu schnellem Absetzen oder zu starker Reduktion der Dosis können bestimmte Absetzphänomene wie zum Beispiel Kopfschmerzen, Schwindel, Schlafprobleme, Übelkeit, Angst, Reizbarkeit oder ähnliches auftreten.»

Diese Phänomene treten meist kurz nach dem Absetzen auf und können für mehrere Wochen anhalten. Die Medikamente sollten laut Dr. Gavrilovic Haustein nach längerer Einnahme immer langsam und schrittweise reduziert werden. Sie sollten also ausgeschlichen und dann abgesetzt werden. Wie lange? «Das Ausschleichen kann unter Umständen acht bis zwölf Wochen dauern.» Das ist deutlich länger, als mir empfohlen wurde.

Damals dachte ich, ich hätte meine Dosis ausreichend langsam verringert. Heute weiss ich: Hatte ich nicht. Ab der zweiten Woche des Absetzens war mir bei jedem Schritt schwindelig, teilweise kotzübel. Spaziergänge fühlten sich plötzlich an wie missratene Tänze, alles drehte sich. Tagelang klammerte ich mich an diverse Arme und hoffte, dass all das wieder verschwindet. Und das tat es.

15 Prozent von 20’000 Patient:innen erlebt Absetzsymptom

Dr. Gavrilovic Haustein erklärt mir, was ich damals nicht wusste: «Escitalopram gibt es auch in Tropfenform, sodass dieses Präparat sogar Tropfen für Tropfen reduziert werden könnte, um unangenehme Symptome zu verhindern oder zu lindern.» Mein Absetzen hätte meine Welt also vielleicht nicht so sehr zum Schwanken bringen müssen.

Ganz grundsätzlich muss weder Schwindel noch meine Reizbarkeit oder irgendein Absetzsymptom aufkommen. Eine aktuelle Studie von deutschen Forschenden stellt fest, dass von über 20’000 Patient:innen jede sechste bis siebte Person eines dieser Symptome erlebt. Das sind 15 Prozent. Aber das heisst auch: Die anderen 85 Prozent haben das Absetzen ohne Probleme vertragen.

Nach insgesamt etwa drei bis vier Wochen hatten sich alle Reaktionen meines Körpers auf das Absetzen der Medikamente wieder beruhigt. Bald fühlte ich mich nicht mehr wie labberiger Toast und irgendwann war mir auch nicht mehr alles egal. Heute, zwei Jahre nach dem Schlucken der ersten Pille, fühle ich mich wieder wie ich – so wie vor der Depression und vor den Medikamenten, die mir halfen, überhaupt hierhin zu kommen.

Willst du mit jemandem reden oder kennst du Betroffene, die Hilfe benötigen? Hier findest du Hilfe und Infos:

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