Beat (65): «Ich kämpfe mit (Very)-Long-Covid»
- Text: Helene Aecherli
- Bild: Stocksy (Symbolbild)
Nach seiner Covid-19-Infektion wird Beat ins künstliche Koma versetzt, ringt 17 Tage lang mit dem Tod. Er überlebt, erkämpft sich mühsam, was vorher selbstverständlich war, lernt wieder zu atmen, zu schlucken und zu gehen. Doch das Zurück ist ein anderer Ort als jener, den er kannte.
«Es ist jetzt über zwölf Monate her, seit ich erkrankt bin. Gemäss Milo Puhan, dem Epidemiologen und Long-Covid-Forscher am Unispital Zürich, sind 25 von hundert Personen noch sechs Monate nach ihrer Covid-Infektion beeinträchtigt, vier von ihnen mittelschwer, drei schwer. Nach weiteren sechs Monaten haben sich neun der 25 Betroffenen vollständig erholt, die anderen zumindest teilweise. Eine Person aber ist noch immer stark eingeschränkt. Diese Person bin ich. Ich bin das Schlusslicht.»
Beats Leben vor Covid
Beat ist 65, lebt mit seiner Partnerin in der Innerschweiz, war Lehrer und IT-Koordinator und wünscht, seine Geschichte nur unter seinem Vornamen zu erzählen. Er ist 1.80 Meter gross und wiegt noch knapp 67 Kilo, bei Anstrengungen und an schlechten Tagen benötigt er bis zu drei Liter zusätzlichen Sauerstoff pro Minute. Kurz vor Ausbruch der Pandemie bestieg er zum letzten Mal einen Viertausender, er war ein passionierter Berggänger, machte im ersten Corona-Sommer ausgiebige Wanderungen und Biketouren. Er hatte etwa vier Kilo Übergewicht und leicht erhöhten Blutdruck, den er mit Medikamenten jedoch gut im Griff hatte. Anfang März 2021 bekam er dank dieser Diagnose den ersten Impftermin für Mitte April. Er fühlte sich fit.
19. März 2021: Der Bundesrat entscheidet, die Einschränkung für Treffen im Familien- und Freundeskreis in Innenräumen von fünf auf maximal zehn Personen zu lockern. Für weitere Öffnungen ist das Risiko eines unkontrollierten Anstiegs der Fallzahlen zu gross, denn seit Februar steigt die Zahl der Corona-Infektionen kontinuierlich an. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) meldet für diesen Tag 1549 neue laborbestätigte Fälle, siebzig Hospitalisationen und neun Todesfälle. Noch sind zu wenig Menschen geimpft, um einen starken Anstieg der Hospitalisationen zu vermeiden.
«Eine Person von hundert ist ein Jahr nach der Erkrankung noch stark eingeschränkt. Das bin ich»
«Hier herrscht jetzt ein anderes Regime»
Am Donnerstag vor Ostern wird Beats Partnerin positiv getestet, sie hat sich während einer Skitour angesteckt. Das Virus erwischt sie mittelschwer, sie begibt sich innerhalb der Wohnung in Isolation, Beat stellt ihr das Essen vor die Zimmertür. An Ostern treten bei ihm erste Symptome auf, er ist müde, hat Kopfschmerzen, aber er sorgt sich deswegen nicht gross. Am 6. April macht Beat einen PCR-Test. Er ist positiv. Ein Homöopath, der ihm empfohlen wird, verschreibt Globuli. Der Nachbar fährt in die Stadt, um die ersten Chügeli zu holen, und die scheinen bei Beats Partnerin tatsächlich anzuschlagen, es geht ihr rasch besser.
Doch Beats Zustand verschlechtert sich. Er liegt nur noch im Bett, kann nicht mehr schlafen, hat keinen Appetit. Er telefoniert täglich mit dem Homöopathen, spricht mit ihm über die Symptome. Der Homöopath schickt ihm weitere Globuli. Beat aber geht es immer schlechter. Irgendwann findet er: «Jetzt muss etwas passieren.» Seine Partnerin fährt ihn ins Kantonsspital Luzern. Er schafft es zu Fuss vom Parkplatz in die Notaufnahme. Dort sagt man ihm: «Gut, sind Sie gekommen.» Die Sauerstoffsättigung in seinem Blut liegt nur noch bei 85 Prozent, bei einem gesunden Menschen beträgt der Normwert etwa 97. Während des Eintrittsgesprächs wird er gefragt, wie weit man im Ernstfall mit lebenserhaltenden Massnahmen gehen solle, denn Beat hat keine Patientenverfügung. «Was, wenn wir Sie finden und Sie atmen nicht? Möchten Sie, dass wir versuchen, Sie wieder zu beleben?»
Beat sagt Ja. Er ruft den Homöopathen an, erklärt, dass er im Spital sei. Er solle die Globuli noch weiter nehmen, meint der Homöopath, sie könnten das mit der Schulmedizin zusammen lösen. Beat antwortet ihm: «Hier herrscht jetzt ein anderes Regime.» Beat erhält eine Nasenbrille, die ihm kontinuierlich Sauerstoff zuführt. Das bringt ihm Erleichterung, es geht ihm sofort besser. Er wird untersucht, man macht ein CT. Beats Lunge ist schon stark infiziert, doch sind nicht alle Lungenlappen gleich befallen. Man rät ihm, etwas seitlich auf dem Bauch zu liegen, die bessere Lungenhälfte nach unten, um leichter atmen zu können. Doch bald reicht die Sauerstoffzufuhr über die Nasenbrille nicht mehr aus.
Auf der Intensivstation
Beat benötigt ein anderes System: eine High-Flow-Sauerstofftherapie. Dafür wird er auf die Intensivstation verlegt. Er bekommt in jedes Nasenloch eine Düse, mit einem Klettverschluss um den Kopf befestigt. Die Luft des Sauerstoffgeräts wird vorgewärmt und befeuchtet, da sie sonst die Atemwege austrocknet. Als Beat gefragt wird, wie es ihm geht, antwortet er: «Prächtig!» Er hat sogar Appetit, isst alle Mahlzeiten auf. Er glaubt, dass er nun über den Berg ist, nicht intubiert werden muss, er fühlt sich geradezu euphorisch. Man erklärt ihm, dass die massive Sauerstoffzufuhr für seine Glücksgefühle verantwortlich ist:«Oxi High», so nennen sie das Phänomen. In seinem Zimmer hat es vier Betten, sie sind durch Vorhänge voneinander abgetrennt. Es ist eng, überall stehen Computer und Monitore. Beat hat Glück, er hat einen Fensterplatz mit Morgensonne.
Von seinem Bett aus sieht er, wie ein Vogel sein Nest baut; er sieht auf den Friedhof, auf die Schrebergärten, die Bahngleise und auf die Hügelkette bei Hildisrieden. Die Beatmungsmaschine stösst rundum die Uhr Luft in die Nasenlöcher. Sie sind mit Bepanthen eingesalbt, damit sie nicht wund werden.Der High Flow pfeift nonstop. Beat trägt Ohropax, hört Radio übers Tablet. Ihm ist bewusst, dass er nur dank dieser Maschine überlebt.
«Dann geht alles schnell …»
«Auf der Skitour damals hätte niemand gedacht, dass es so schlimm kommen würde. Der Hüttenwart, bei dem meine Partnerin mit ihrer Gruppe übernachtete, hatte seinen Gästen gesagt: ‹Hier oben müsst ihr keine Maske anziehen. Wir sind hier auf über 3000 Metern. Sonst bekommt ihr ja keineLuft.› Als meine Partnerin von der Tour zurückkam, hätte ich ihr sagen müssen: ‹Jetzt gehst du in Quarantäne.› Wir hätten beide daran denken sollen. Aber wir haben es nicht getan. Das war unser gemeinsamer Fehler.»
Manchmal bekommt Beat mit, was in den anderen Nischen auf der Intensivstation vor sich geht. Im Bett gegenüber liegt Frau F., so nennt er sie. Wenn die Vorhänge mal offen sind und er sich aufsetzt, sieht er sie. Sie ist einiges älter, und als sie eingeliefert wurde, soll sie die tieferen Sauerstoffwerte gehabt haben als er. Frau F. ist wehleidig, schimpft, will nachhause. Mit den Pflegenden springt sie derart unfreundlich um, dass ihr ein junger Arzt eines Morgens «die Kappe wäscht». Sie sei schwer krank, sagt er, sie könne jetzt nicht einfach gehen, alle gäben hier ihr Bestes. Sie wird erst erträglich, als man ihr einen jungen, schnittigen Pfleger zur Seite stellt. Zwei Tage später darf Frau F. auf die allgemeine Abteilung. Beat hingegen bleibt auf der Intensivstation. Er annulliert seinen Impftermin.
11. April 2021: Hunderte Kritiker:innen der nationalen Corona-Politik versammeln sich mit Treicheln zu einer nicht bewilligten Kundgebung in Altdorf, Uri. Die Polizei greift zwar ein, kann die Demonstration aber nicht verhindern. Derweil führt der Bundesrat seine Strategie einer vorsichtigen, schrittweisen Öffnung fort. Der Sieben-Tage-Schnitt liegt bei 2167 laborbestätigten Fällen.
Ab Montag, 19. April, können Restaurants ihre Terrassen wieder öffnen. Am Morgen des 15. April, es ist ein Donnerstag, eröffnet ihm ein Arzt, dass die Therapie mit dem High-Flow-Gerät ausgereizt sei. Er muss nun doch ins künstliche Koma versetzt und intubiert werden. Das künstliche Koma ist ein medikamentös herbeigeführter Tiefschlaf, der nötig ist, damit sich die Patient:innen von der Maschine beatmen lassen. Das soll die Lunge entlasten. Laut Studien liegt die Sterberate von schwerkranken beatmeten Covid-Patient:innen bei bis zu fünfzig Prozent. Der Arzt fragt ihn: «Wollen Sie?» Beat hätte ablehnen können. Doch er ist für die Alternative – Organschäden riskieren oder gar sterben – nicht bereit. Dann geht alles schnell, so schnell, dass für Angst keine Zeit bleibt. Seine Partnerin informiert die Familie und den Arbeitgeber. Beat schreibt noch ein paar SMS:
«Jetzt ist der Worst Case eingetreten!»
Permanente Pflege
«Nur wenn man diese Geschichte aus unserer damaligen Zeitperspektive liest, kann man unser Verhalten verstehen. Auch unsere relative Unbeschwertheit. Ich empfand mich nie wirklich einer Risikogruppe zugehörig, mein Blutdruck war ja unter Kontrolle. Meine Schwester hatte Corona einen Monat vor mir. Sie war nicht sehr krank. Ihr Mann wurde nicht einmal angesteckt. Hätten sie einen schweren Verlauf gehabt, wären wir vielleicht vorsichtiger gewesen. Vielleicht aber auch nicht. Wir gehen ja alle täglich Risiken ein.»
Mindestens 16 von 24 Stunden liegt Beat auf dem Bauch. In seiner Halsvene steckt ein zentraler Venenkatheter, über den Medikamente laufen, unter anderem Steroide. Sie halten die Entzündungsreaktionen in der Lunge in Schach und verbessern damit die Sauerstoffaufnahme. Am Mittelfinger hängt der Pulsoximeter zur Sauerstoffmessung, auf seinem Brustkorb klebt ein Sensor zum Monitoring der Herzfrequenz, das EKG. Sein Blutdruck wird direkt über eine Kanüle in einer Pulsschlagader gemessen, jeder Schlag ist am Monitor sichtbar.
Seine Arme und Beine werden mit Polstern abgestützt, sein Gesicht liegt auf einem weichen U-Kissen. Bei schweren Covid-Verläufen ist die Lunge so sehr geschädigt, dass sie zu wenig Sauerstoff aufnehmen und CO2 abgeben kann. Fachleute sprechen von einem Acute Respiratory Distress Syndrome, kurz ARDS. Dabei sammelt sich Flüssigkeit in der Lunge, zudem wird in vielen Fällen das Lungengewebe vernarbt und verdickt. In der Bauchlage wird aufgrund der Schwerkraft die Blutzufuhr im vorderen, gesünderen Teil der Lunge verbessert. So können Sauerstoffaufnahme und CO2-Abgabe gesteigert werden. Die Maschine arbeitet am Limit, gibt hundert Prozent Sauerstoff ab, jeder Atemstoss klingt wie ein Blasbalg.
Beat wird täglich ein bis zwei Mal umgelagert. Dafür benötigt es mindestens vier Pflegende – und je etwa eine halbe Stunde Zeit. Sie müssen auf den Kopf und die Beatmungsschläuche achten, auf die Ernährungssonde, den Schlauch zur Drainage der Lungenflüssigkeit, den Blasenkatheter, sie müssen die Schultern sauber polstern, Genick und Augen sorgfältig lagern. Das funktioniert gut.
Beat hat am Körper keine bleibenden Druckstellen. Seine Partnerin und sein jüngerer Bruder Franz wechseln einander mit Besuchen ab. Sie tragen Schutzkleidung. Franz besucht ihn meistens am Abend. Als er ihn zum ersten Mal sieht, erschrickt er. Beats Gesicht, vor allem die Augenpartie, ist von der Lagerung geschwollen. Franz fragt sich: «Bekommt Beat etwas mit?» Die Hand seines Bruders ist eiskalt. Sein Körper nur mit einem dünnen Hemd bedeckt. Die Kälte, so erklärt man Franz, solle das Fieber senken. Langsam fängt er an, die Geräte zu verstehen, Puls und Blutdruck von den Monitoren abzulesen. Es tröstet ihn, dass sein Bruder so gut betreut ist. Einmal kommt die Rega, ein Notfall, da sind für kurze Zeit fast alle weg. Sonst aber ist permanent eine Pflegeperson an Beats Bett.
«Ein schwarzes Loch in meinem Bewusstsein»
«Ich habe keine Erinnerungen an die Zeit im Koma. Sie ist nichts als ein schwarzes Loch in meinem Bewusstsein. Es existiert zwar ein Tagebuch, das auf der Intensivstation für mich erstellt worden ist, doch das habe ich mir noch nicht angesehen. Meine Partnerin hat mir erzählt, sie hätte mich manchmal mit Musik von Leonard Cohen beschallen lassen, meinem Lieblingssänger. Wir waren 2013 in Zürich an einem seiner letzten Konzerte.» Beat erleidet während des Komas eine bakterielle Lungenentzündung. Er erhält im grossen Stil Antibiotika. Ohne Erfolg. Man prüft den Einsatz einer ECMO, einer Herz-Lungen-Maschine, fragt nach einer Patientenverfügung. Lang ist ungewiss, ob er es schaffen wird.
Seine Partnerin hat Mühe mit Schlafen, ohne Medikamente geht es kaum mehr, sie versucht aber, eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten. Einmal kommt sie hinzu, als ein Covid-Patient eben verstorben ist, und hört, wie dessen Ehefrau klagt, dass sie nun allein mit dem Camper in die Ferien reisen müsse. Beat aber überlebt. Das dritte Antibiotikum hat angeschlagen.
Am 27. April wird der Beatmungsschlauch aus Beats Rachen entfernt und durch eine Trachealkanüle ersetzt. Hierfür punktiert eine Ärztin seine Luftröhre, setzt einen Kunststoffschlauch in den Schnitt ein und schliesst ihn an die Beatmungsmaschine an. Die Trachealkanüle reizt viel weniger, deswegen kann die Narkose sukzessive reduziert und Beat dazu gebracht werden, schnellstmöglich wieder selber zu atmen, das Zwerchfell zu trainieren, den wichtigsten Atemmuskel, und auch die Nerven, die ihn versorgen. Am 5. Mai, es ist ein Mittwoch, ist Beat wieder wach. Nach 17 Tagen. Er wird mit der Ambulanz auf die Intensivstation des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) in Nottwil verlegt. Dort hat es ein nationales Beatmungs-Kompetenzzentrum für besonders schwere Covid-Fälle. Er sei dem Beelzebub vom Karren gefallen, meint ein Pflegender später.
Zwischen Delirium und Albtraum
Zwar bin ich einem Leben im Rollstuhl oder gar dem Tod entronnen, wenn auch nur knapp. Doch viele hatten dieses Glück nicht. Wie man einen schweren Verlauf mit all seinen Risiken wissentlich in Kauf nehmen kann, so wie es Impfverweigerer:innen tun, verstehe ich nicht. Was, wenn die Krankheit mit voller Wucht zuschlägt? Manche argumentieren, das sei dann halt Schicksal, von Gott bestimmt. Alle müssten ja schliesslich mal gehen. Wäre ich jetzt gestorben, wäre ich gemäss dieser Logik nicht an Covid gestorben, sondern weil ich an der Reihe war. Eine eigenartige, ja, antiquierte Denkweise angesichts der Möglichkeiten der modernen Medizin.»
Beat driftet tagelang zwischen deliriösen und luziden Momenten. Dass er wieder wach ist, nimmt er nicht bewusst wahr. In einem klaren Augenblick erinnert er seine Partnerin daran, dass sie unbedingt eine Rechnung bezahlen müsse. Er isst zum ersten Mal: Himbeersorbet. Damit er sprechen kann, wird ein Sprechventil auf die Trachealkanüle gesetzt. Er ist zwar oft zu müde oder zu verwirrt, um etwas sagen zu können, doch kann er wieder spüren, wie er durch Mund und Nase ausatmet. Immer wieder gehen die luziden Momente in Albträume über. In seinen Delirien tauchen Nazi-Kommandoposten auf, SS-Offiziere in Uniformen, eine Alp und Episoden in Italien.
Sie vermischen sich mit dem «Pfüüüh» der Beatmungsmaschine, mit den blinkenden Monitoren, den Schutzmasken. Das Delir ist eine Funktionsstörung des Gehirns: Die Betroffenen wissen nicht mehr, wo sie sind, was sie sind. Ein Delir kann durch die Grundkrankheit ausgelöst werden, durch Fieber, aber auch, wie es bei vielen Covid-Erkrankten der Fall ist, durch die vielen Medikamente und die maximal tiefe Sedierung über eine lange Zeit. Dennoch sind es nur fünf Prozent, die es so schwer erwischt wie Beat.
15. Mai 2021: Das BAG vermeldet 805 neue Fälle, 29 Hospitalisationen und zwei coronabedingte Todesfälle. In Urnäsch versammeln sich rund 500 Teilnehmende zu einer unbewilligten Corona-Demonstration. Der Anlass wurde kurzfristig von Zürich ins Appenzellerland verlegt. In der Berner Innenstadt geht die Polizei gegen nichtmaskierte Gegner von Corona-Massnahmen vor, kesselt gut zwanzig Personen ein. Sie hat die Demonstrationswilligen zuvor per Lautsprecher aufgefordert, die Örtlichkeit zu verlassen, ist mit einem Grossaufgebot präsent. Im Einsatz stehen auch Kastenwagen mit Gitteraufsätzen und ein Wasserwerfer.
«Was, wenn wir Sie finden und Sie atmen nicht? Möchten Sie, dass wir versuchen, Sie wieder zu beleben?»
«Help!»
In einem Anfall reisst sich Beat die Ernährungssonde heraus. Seine Hände müssen fixiert werden, damit er sich nicht alle Schläuche aus dem Körper zieht, was umgehend als Zerrbild in seinen Albträumen erscheint. Er hört schlecht, leidet an Verfolgungswahn: Einmal fleht er seinen Bruder an, zur Polizei zu gehen, es gäbe auf der Abteilung zwei Gruppen, die eine sei ihm gut gesinnt, die andere wolle ihn umbringen. In seiner Angst zeigt er auf ein Hämatom auf dem Oberschenkel, er hätte dort «Help!» eingeritzt. Franz macht sich grosse Sorgen, dass Beat kognitive Schäden davontragen könnte.
Trotzdem herrscht Routine, eine Form von Normalität: Um 7.30 Uhr isst er Frühstück, dann kommt Physio- und Ergotherapie, er übt, sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Jede Bewegung braucht viel Zeit, strengt ihn an. Eine der Pflegenden geht mit ihm erstmals duschen. Sie verwenden dafür einen speziellen Duschstuhl – mit all den Schläuchen eine Riesenübung. Zum Essen nehmen sie ihn immer öfter aus dem Bett. Er muss an den Bettrand sitzen. Dann vorsichtig hoch, zwei zitterige Schritte zum Rollstuhl, drehen und wieder runter. Manchmal sitzt er auch bloss am Fenster, versucht zu lesen oder schaut auf den Sempachersee hinaus. Wenn er Glück hat, kann er von da aus eine junge Tennisspielerin beobachten, die ab und zu auf dem nahen Court trainiert. Selten hat er jemanden so gut spielen sehen.
Alles auf Anfang
Freunde und Familienangehörige haben den Rosenkranz gebetet und Kerzen für mich angezündet. Ein Arbeitskollege ging ins Kloster, um mit einer Klosterfrau zu reden. Es komme wieder gut, habe sie ihm gesagt. Andere sind extra von Zürich nach Nottwil gefahren und haben am Eingang des Spitals einen tönernen Schutzengel für mich deponiert. Jemand schlug sogar vor, ich solle als Therapie eine letzte Ölung machen lassen. Und in England wurden zu meinem Schutz Druiden aufgeboten! Solche Gesten haben mich bewegt. Doch wem soll ich dafür danken, dass ich noch lebe? Ich muss da an eine Szene aus der TV-Serie ‹Dr. House› denken: Wie fast immer kann House den Patienten retten.
Er ist überglücklich und dankt Gott. Dr. House murrt: ‹Warum bekommt ER eigentlich immer alle Lorbeeren? ICH habe ja die richtige Diagnose gestellt!› So ähnlich war es eigentlich auch bei mir: Letztlich waren es die furchtlosen jungen Ärzt:innen, die mir buchstäblich an die Gurgel gingen, mir die Luftröhre aufschlitzten und mich an die Maschine anschlossen, die mir das Leben gerettet haben. Klar, das ist ihr Job. Aber sie mussten zulangen. Dafür bin ich ihnen dankbar – und zolle ihnen grössten Respekt.»
Damit die Ernährungssonde entfernt werden kann, muss Beat wieder schlucken lernen. Das geschieht mit einfachen Nahrungsmitteln, mit pürierter Pouletbrust etwa. Sehr viel schwieriger sind Brot, Nüsse, Mais oder Biskuits, das darf er nur unter Aufsicht essen. Flüssigkeiten trinkt er mit dem Röhrchen. Eine Herkulesaufgabe: Da zu Beginn der Schluckvorgang mit der Beatmungsmaschine koordiniert werden muss, verschluckt sich Beat häufig, was in üblen Hustenanfällen endet.
Mit einem Endoskop wird schliesslich untersucht, ob er richtig schluckt. Über die Nase führt ihm ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt im Beisein der Logopädin eine Sonde mit einer winzigen Kamera ein, es fühlt sich an wie beim Corona-Test, nur dauert die Prozedur einige Minuten. Am Monitor sieht die Logopädin, wie ihr Patient die Stimme einsetzen kann, wo der Speichel liegt, wie er ihn schluckt. Damit auch der Schluckvorgang der unterschiedlichen Konsistenzen im Endoskop gesehen werden kann, muss Beat teelöffelweise blaugefärbtes Wasser trinken, grünes Apfelmus und ein Stück Brot essen. Er macht es gut. Bei ihm geht alles durch die richtige Röhre.
«Wie man einen schweren Verlauf in Kauf nehmen kann, verstehe ich nicht»
Daheim aber nicht gesund
«Das mit dem Essen habe ich mir vorher noch nie überlegt: Dass für den Schluckvorgang sechs Hirnnerven und fünfzig Muskelpaare zuständig sind, die sich durch die künstliche Ernährung so stark zurückgebildet haben, dass du beim Schlucken die Knochen spürst. Dass du wieder lernen musst, den Essensvorgang, die Atmung und ein allfälliges Husten bewusst zu timen: Du beisst ein Stück ab. Legst die Gabel hin. Kaust. Vermischt es mit Speichel zu einem Brei. Du entscheidest, wann du den Atem anhältst, und wann du runterschluckst. Dann der nächste Brocken. Es ist wie ‹divide et impera›.»
Ende Mai feiert Beat Geburtstag, er wird 65. Es ist der Tag seiner Pensionierung, ein trauriger Moment. Nicht wegen des Ruhestands, sondern weil er sich die Zeit danach anders vorgestellt hat: Er hätte noch ein kurzes Teilmandat an der Schule innegehabt, hätte seinen Nachfolger in der Informatik unterstützt. Dennoch wird er von diesem Tag an kooperativer, das Delir verebbt. Es scheint vorwärts zugehen: Die Trachealkanüle wird entfernt, die Wunde in seiner Kehle mit einem Pflaster überdeckt.
Beat nimmt zum ersten Mal wieder sein Handy in Betrieb und richtet sein Tablet ein. Er darf auf die allgemeine Abteilung des SPZ, trägt wieder eine Nasenbrille und einen Fingerclip für die Messung der Sauerstoffsättigung. Es sind warme Tage, zudem ist Fussball-Europameisterschaft. Zum Rollstuhl bekommt er noch einen Rollator. «Ein geniales Ding.» Es bringt ihm etwas Freiheit zurück, er kann selber auf die Toilette, trainiert unter Aufsicht der Physiotherapeutin. Bald schafft er es, den ganzen Korridor zurückzulegen. Etwa vierzig Meter. Ein Erfolgserlebnis. «Jetzt gehts obsi!» Er wird ungeduldig, will in die Reha, will wissen, welchen Knopf er drücken muss, um wieder gesund zu werden. Anfangs Juli wird er zur Rehabilitation nach Montana verlegt. Am Nachmittag des 10. August darf er nachhause. Nach vier Monaten ist er wieder daheim. Aber nicht gesund.
Ein Schatten seiner Selbst
18. August 2021: Die Corona-Zahlen steigen erneut exponentiell an: Das BAG vermeldet 3291 Neuinfektionen und 95 Hospitalisationen in nur 24 Stunden. So viele neue Covid-Fälle in so kurzer Zeit gab es zuletzt im Januar. Grund sind laut Experten auch die vielen Rückreisenden, die die hoch ansteckende Delta-Variante aus den Ferien mitbringen.
Beat hat gut 18 Kilo verloren, darunter viel Muskelmasse, er sagt, er sei ein Schatten seines früheren Selbst. Beim Sprechen muss er zwischen den Sätzen pausieren, wird von Hustenanfällen unterbrochen. Noch immer trägt er eine Nasenbrille, der Schlauch des Sauerstoffgeräts, das so gross ist wie ein Handgepäckkoffer, reicht von seinem Schlafzimmer durch den Gang bis in die Stube. Es surrt ununterbrochen, ein Geräusch, das ihn daran erinnert, dass das Zurück ein anderer Ort ist als jener, von dem er herkam. Trotz allem versucht er, sich in seinem neuen Leben einzurichten. Mit Hilfe seiner Partnerin kauft er proteinangereicherte Lebensmittel, Proteinpulver fürs Müesli und Fleisch.
Schon am Tag nach seiner Heimkehr wagt er einen zaghaften Spaziergang. Kurz darauf geht er erstmals von der Wohnung zum See hinunter und die rund achtzig Höhenmeter wieder hinauf. Früher dauerte dies zehn Minuten, nun benötigt er über eine Stunde dafür. Doch er wird bald schneller, braucht weniger Pausen. Im November fährt er mit einem Cousin im Auto Richtung Napf. Sie legen die letzten 300 Höhenmeter zum Gipfel zu Fuss zurück. Das geht gut, wenn auch sehr langsam. Doch seither: kaum mehr Fortschritte. Beat hat das Gefühl, punkto Fitness an Ort zu treten.
«Morgens schleiche ich noch immer herum wie ein Zombie. Wenn ich mich zu sehr anstrenge, kann meine Lunge nicht genügend Sauerstoff liefern. Es ist dann so, wie wenn du als gesunder Mensch am Morgen zu schnell aufstehst und es dir schwarz wird vor den Augen. Aber wenn du kurz innehältst, normalisiert sich das. Mit Long-Covid hingegen bleibt es den ganzen Tag so. Derzeit habe ich kaum Hinweise darauf, dass sich mein Zustand verbessern wird. Aber das heisst nicht, dass ich meinen Zustand als the new normal akzeptiere. Vielleicht sind die Fortschritte infinitesimal klein, und ich bin einfach zu nah dran, muss versuchen, in grösseren Zeit-Intervallen zu denken.»
«Das Koma: schwarzes Loch in meinem Bewusstsein»
Die Angst bleibt
Beats Herz hat das Virus offenbar unbeschadet überstanden, meint seine Kardiologin. Das sind gute Nachrichten, immerhin. Doch hat das Virus seine Lunge beschädigt. Wie sehr sie sich wird regenerieren können – wenn überhaupt –, ist schwer zu sagen. Beat weiss, dass man die Lunge nicht trainieren kann, sondern nur die Muskeln, die sie bewegen. Er lebt zurückgezogen, obwohl er inzwischen geimpft und geboostert ist. Die erste Injektion erhält er im September, den Booster im Januar. Danach fühlt er sich erleichtert, die Nebenwirkungen, vor denen er sich gefürchtet hat, verlaufen milde. Trotzdem: Die Angst vor dem «Käfer» bleibt, gerade in dieser Zeit, da die Omikron-Variante grassiert.
Anfangs Februar liegt der Sieben-Tage-Schnitt bei 30 167 Fällen. Beat vermeidet öffentliche Verkehrsmittel, trifft Leute meist nur im Freien. In der Wohnung aber ist angstfreie Zone, das haben Beat und seine Partnerin so entschieden. «Wo kämen wir sonst hin?», sagt er. Seine Ansteckung, die Skitour vor einem Jahr, das ist längst kein Thema mehr. Dass es ausgerechnet ihn so bös erwischt hat, sei eine Verkettung unglücklicher Umstände.
16. Februar 2022: Der Bundesrat hebt die Massnahmen grösstenteils auf. Läden, Restaurants, Kulturbetriebe und öffentliche Einrichtungen sowie Veranstaltungen sind wieder ohne Maske und Zertifikat zugänglich. Aufgehoben sind auch die Maskenpflicht am Arbeitsplatz und die Homeoffice-Empfehlung. Die epidemiologische Lage entwickelt sich weiter positiv; dank der hohen Immunität in der Bevölkerung ist eine Überlastung des Gesundheitssystems trotz der hohen Viruszirkulation unwahrscheinlich.
«Ich kämpfe mit den vielen Fratzen von (Very)-Long-Covid, das sich bei mir in ein Eternal-Covid zu verwandeln scheint»
Langsam geht’s voran
Beat hat sich einen Bart wachsen lassen, dadurch wirkt sein Gesicht voller. Das grosse Sauerstoffgerät ist jetzt meist ausgeschaltet, wenn er einkaufen geht, lässt er die Rucksack-Variante davon manchmal zuhause. Sein Gewicht ist stabil. Morgens steht er spätestens um 7.30 Uhr auf, arbeitet halbliegend auf dem Sofa am Computer und mit dem 3D-Drucker. Das geht nicht schlecht, kognitiv hat er das Ganze gut überstanden. Er tüftelt seit Langem an einem neigbaren Tablet-Halter, den er zum Patent angemeldet hat – ironischerweise eine Halterung, die auch für Patient:innen im Spitalbett gedacht ist.
Nach dem Lunch ruht er sich aus, geht spazieren, arbeitet danach weiter, ergründet auf Twitter unter anderem die Einträge unter dem Hashtag #LongCOVIDPhysio. Doch noch immer schiebt ihm seine Atmung einen Riegel vor, in den vergangenen Monaten ist noch immer keine Verbesserung eingetreten, im Gegenteil. Bitter stellt er fest, dass er noch genauso langsam ist wie im November, vielleicht sogar noch langsamer.
In Nottwil haben mir damals alle gesagt: ‹Sie sind ja noch relativ jung und waren ein Bewegungsmensch. Jo, jo, bis Ende 2021 ist das wieder gut.› Als ich von der Intensivstation kam, war ichüberrascht, wie sehr der Überlebenswille reingekickt ist. Ich sagte mir: ‹Ich muss aus dem Rollstuhl raus. So will ich nicht leben!› Ich war voller Überzeugung, dass es schnell bergauf gehen würde. Doch seit etwa einem halben Jahr stehe ich an einer Wand. Das ist psychisch sehr schwer auszuhalten. Ich bin jetzt statistisch gesehen dieser eine von hundert Betroffenen, der zwölf Monate nach seiner Erkrankung noch immer schwer beeinträchtigt ist. Und ich frage mich: Kann ich überhaupt noch etwas erreichen? Oder mache ich mir etwas vor?»
Anstrengende Reise
Mitte März reisen Beat und seine Partnerin erstmals zusammen weg, machen ein verlängertes Wochenende in Wildhaus im Toggenburg. Sie fahren am Sonntag mit dem Bähnli 300 Höhenmeter hoch und wandern runter. Danach ist Beat müde, fühlt sich am Limit. Am Montag ist er völlig ausgelaugt, verbringt den Tag im Bett, ein herber Rückschlag. Aus seinen Recherchen schliesst er, dass er vom Post-Exertional Symptom Exacerbation, PESE, betroffen sein muss, eine Reaktion, die noch zwölf bis 15 Stunden nach einer körperlichen Anstrengung ein-treten und zu einer Verschlechterung des Zustands führen kann. Beat braucht Tage, um sich davon zu erholen. Er weiss nun, dass er beim Trainieren sehr vorsichtig sein muss.
1. April 2022: An diesem Freitag endet die Isolationspflicht für Infizierte und die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr und im Gesundheitsbereich. Der Bundesrat hebt die besondere Lage auf.
Zwei Wochen vor Ostern hat Beat einen Termin bei seinem Lungenarzt. Der Befund ist ernüchternd. Auf dem CT sind zwar Verbesserungen sichtbar, aber sie sind gering. Und aus unbekannten Gründen sinkt seine Sauerstoffsättigung noch immer schnell bei physischer Anstrengung. Es scheint nichts zu geben, was er dagegen tun kann, ausser sich weiterhin moderat körperlich zu bewegen. Und zu hoffen.
Danke für die Expertise: Luca Brendebach, leitender Arzt Intensiv und Beatmungsmedizin, und Sarah Stierli, Leiterin Logopädie, beide vom Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil, und Peter Steiger, stellvertretender Direktor des Instituts für Intensivmedizin des Unispitals Zürich