Gesundheit
Autorin Katrin Seyfert: «Nach der Alzheimer-Diagnose war mein Mann ein anderer»
- Text: Marah Rikli
- Bild: Marianne Moosherr
Drei schulpflichtige Kinder – und der Mann erkrankt mit Anfang fünfzig an Alzheimer: Diese fordernden Jahre hat die Journalistin Katrin Seyfert in ihrem Buch «Lückenleben» verarbeitet.
annabelle: Katrin Seyfert, Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie keine Fragen beantworten wollten, als Ihr Mann ins Heim kam. Und heute, nach seinem Tod?
Katrin Seyfert: Ehrlich gesagt, habe ich mich damals schon nicht konsequent an diesen Vorsatz gehalten. Ich wollte für einen Moment vermeiden, zu viel nachzudenken. Viele Fragen von anderen führten nämlich dazu, dass ich mir selbst noch mehr Fragen stellte. «Meistere ich die Situation gut?» «Halte ich durch?» «Was passiert, wenn ich zusammenbreche?» Und ich wollte nicht nach Gründen für mein Schicksal suchen oder mich bemitleiden. Heute kann ich gut mit Fragen umgehen. Ich werde nur wütend, wenn meinen Kindern Fragen gestellt werden, die zu persönlich sind.
Sie pflegten Ihren Mann, arbeiteten und zogen drei Kinder auf, die zum Zeitpunkt der Alzheimer-Diagnose acht, zehn und zwölf Jahre alt waren. Sie waren in gewisser Weise unersetzbar.
Ich wäre ersetzbar gewesen, die Kinder hätten auch ohne mich überlebt, davon bin ich überzeugt. Ich hatte ein sehr gutes Umfeld und viele Menschen unterstützten uns, was mich von der Einzigartigkeit und alleinigen Zuständigkeit entlastete. Wir führten aber sicherlich eine sehr überfüllte Ehe zu dritt: mein Mann, ich und die Krankheit Alzheimer. Wir versuchten, darin so viel Normalität wie möglich zu leben, was natürlich schwierig war. Ich war plötzlich Alleinverdienerin, musste Vater und Mutter sein, waschen, Kindergeburtstage allein organisieren, allein zum Elternsprechtag und meinem Mann die Medikamente bereitstellen.
Wie begann die Krankheit Ihres Mannes?
Er hatte viele Aussetzer, vergass Daten oder Dinge im Haushalt. Etwa 18 Monate vor seiner Diagnose hatten wir einen Streit, weil ich sagte, er müsse zum Arzt. Daraufhin ging er zu allen erdenklichen Ärzt:innen – die aber allesamt keine Alzheimer-Diagnosen stellten. Er ging zu Magen-Darm-Spezialist:innen, er liess seine Lunge röntgen und seine Füsse untersuchen. Er war selbst Arzt; ich bin überzeugt, er wusste über seine Alzheimer-Erkrankung Bescheid und wollte sich noch einen kurzen Aufschub verschaffen.
Die Diagnose kam dann trotzdem. War sie ein Schock?
Hätten Sie zehn Jahre zuvor erzählt, mein Mann erkranke an Alzheimer, hätte ich es nicht geglaubt. Er hatte keine Risikofaktoren. Es gab keine genetische Vorbelastung, er hatte einen akademischen Beruf, bei dem flexibles Denken und Bewegung wichtig ist, er war normalgewichtig, trank wenig Alkohol und nahm keine Drogen. Wir gingen mit der Diagnose manchmal verzweifelt, manchmal pragmatisch um. Er sagte, seine Krankheit könne man sich nicht aussuchen, nur annehmen.
«Plötzlich konnte er sagen, wenn es ihm schlecht ging, und musste die Fassade nicht mehr wahren»
Wann sagten Sie es den Kindern?
Wir warteten zwei Tage ab. Mein Mann sagte immer, die Kinder werden einen Weg damit finden. Der Älteste hat später seine Perspektive im Alter von fünfzehn Jahren ebenfalls in einem Buch verarbeitet: «Vom Privileg, einen kranken Vater zu haben». Der mittlere Sohn war erst dagegen, dass wir über den Vater schreiben und ihn so verletzlich zeigen. Der Kompromiss war ein Pseudonym, daher heissen wir beide als Autor:innen anders als im richtigen Leben.
Ihr Sohn hat dieses Buch im jungen Alter von fünfzehn Jahren geschrieben? Wie kam es dazu?
Ursprünglich aus einer Laune heraus. Er kam morgens in die Küche und sagte: «Mama, ich werde jetzt auch ein Buch schreiben. Ich weiss auch schon den Titel.» Und dann sagte er: «Siehst du, Mama, ich sehe es dir an, du findest den Titel auch toll.» Und das fand ich auch. Und vor allem den Mut, sich dieses Themas anzunehmen. Dafür bewundere ich ihn sehr.
Wie war es für Sie ethisch vertretbar, über die Krankheit und das Sterben Ihres Mannes zu schreiben?
Ich überlegte mir beim Schreiben immer, ob mein Mann sich mit diesen Sätzen wohlfühlen würde. Ich hätte zum Beispiel nicht über Details unserer Konflikte geschrieben. Mein Mann war es gewohnt, Teil meiner persönlichen Texte zu sein, was es einfacher machte. Er lernte mich als Schreibende kennen, bereits nach dem ersten Treffen kam er in einem Text vor. Ausserdem sprachen wir zuhause durch seine medizinische Arbeit viel über Gesundheit, Heilung und Krankheit. Diese medizinische, aufklärende Perspektive von ihm blieb auch, bis er starb.
Sie sagen, Ihr Mann war ein Dissimulant. Er wollte nicht krank sein. War die Diagnose dennoch eine Erleichterung?
Nach der Diagnose war mein Mann ein anderer. Plötzlich konnte er sagen, wenn es ihm schlecht ging, und musste die Fassade nicht mehr wahren. Mit der Diagnose war für ihn der Kampf gegen Alzheimer umgehend beendet. Seine Bedingung war schnell gestellt: dass er in ein Heim kommt, wenn er den Kindern nicht mehr guttut, und er gab mir seine Bankkarte, weil er wusste, dass er nicht mehr mit Geld umgehen konnte. Wir haben die Krankheit nicht zerredet, aber pflegten eine offene Kommunikation darüber.
«Einmal im Monat holte ich Leben und Genuss ins Haus mit einer Party»
Woraus schöpften Sie Kraft während dieser Zeit?
Einmal im Monat holte ich Leben und Genuss ins Haus mit einer Party. Dabei wurde es regelmässig laut und lustig. Ich kochte, ab 19 Uhr hatten wir ein offenes Haus. Wir sangen, tranken Wein und Rum und ein befreundeter Pianist begleitete unsere zum Teil furchtbaren Lieder. Daran denke ich bis heute zurück, das waren grosse Momente des Glücks. Das grösste Glück ist allerdings, dass sich keiner aus dem Hausmusikabend traute, die Runde aufzulösen, als mein Mann gestorben ist. So singen wir noch heute und denken bei den schlechten Schlagern jedes Mal ein bisschen an ihn.
Wann kam die Entscheidung für ein Heim?
Die männlichen Ärzte rieten mir schon früh zu einem Heim. Die Frauen unterstützten eher eine Pflege zuhause. Auch ich hatte lange das Gefühl, es müsse zuhause zu schaffen sein. Am letzten Wochenende vor der Heimeinweisung passte eine Nachbarin auf ihn auf, die bereits mehrere Menschen bis in den Tod zuhause gepflegt hatte. Ich war mit den Kindern im Kino und erhielt laufend SMS. Sie sagte mir danach, dass in ihren Augen kein Weg am Heim vorbeiführe. Diese Ehrlichkeit einer so toughen und erfahrenen Frau war für mich sehr wichtig. Wenn sie es nicht schaffte, wie sollte ich es denn schaffen?
Warum holten Sie sich nicht früher Hilfe mit einem Heim?
Wie viele Menschen hatte ich eine romantische Vorstellung vom Umgang mit Krankheit. Ich hatte die Bilder verinnerlicht von der alten, dementen Grossmutter, die am warmen Kachelofen sitzt und von der Familie liebevoll begleitet wird. Früher ging die Gesellschaft liebevoller mit Kranken und Alten um, das hätte ich auch gewollt. Dazu kam das Geld. Ein Heimplatz kostet in Deutschland und der Schweiz etwa zehntausend Franken pro Monat. Unser Erspartes hätte der Ausbildung der Kinder zukommen sollen, nicht der Pflege ihres Vaters.
In Ihrem Buch schildern Sie, wie Ihr Mann bereits beim Eintritt ins Heim sehr glücklich war. Er mochte zum Beispiel die vielen Desserts.
Für meinen Mann war das Heim eine Erleichterung. Er wurde dort mehr verwöhnt, musste weniger Rücksicht nehmen und sich für nichts schämen. Er fühlte sich vom ersten Tag an sehr wohl, damit hätte ich nicht gerechnet. Es ist mir jedoch wichtig, zu betonen, dass es sehr individuell ist, ob ein Heim die richtige Lösung ist. Vor Kurzem hat mir eine Bekannte erzählt, wie sie es ganz anders erlebte – und das sogar in der gleichen Institution.
Wie hat Sie die Erfahrung mit der Krankheit und dem Tod Ihres Mannes verändert?
Ich arbeite in der Berufsberatung; meine Klientinnen sind Mütter, die wieder arbeiten möchten. Durch die Erfahrung mit meinem verstorbenen Mann frage ich heute weniger zurückhaltend, direkter und ohne Tabus. Manche Menschen sagen mir auch, ich hätte einen offeneren Blick bekommen und ich sei authentischer, könne mich nicht mehr verstellen. Es ist verrückt: Obwohl ich heute als Alleinerziehende mehr Dinge im Blick behalten muss, bin ich in der Jobfindung für andere fokussierter, schärfer, kreativer und besser geworden. Schlimm eigentlich, wenn man sagen muss, dass auch die Alzheimer-Erkrankung meines Mannes daran Anteil hatte. Aber vielleicht ein klitzekleiner Ausgleich.
«Lückenleben: Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich» von Katrin Seyfert ist heute im Spiegel-Buchverlag erschienen und kostet ca. 35 Franken.
Ein toller und sehr bewegender Bericht, der einem die Tränen in die Augen treibt. Vermutlich, weil ich (keine Demenz, aber perspektivisch auch nicht viel besser) einer ähnlichen Situation gegenüberstehe.
Trotz allem gut zu lesen. Danke für einen solchen Bericht.