Gesundheit
Alles nur eingebildet? Das müsst ihr zu «Medical Gaslighting» wissen
- Text: Noemi Harnickell
- Bild: Stocksy
Susanne Gedamke, Geschäftsführerin der Schweizerischen Patientenorganisation, erklärt das Phänomen des «Medical Gaslighting» – und wie man sich dagegen wehren kann.
annabelle: Susanne Gedamke, der Begriff «Gaslighting» stammt aus dem Dating-Vokabular. Was genau bedeutet nun «Medical Gaslighting»?
Susanne Gedamke: Damit bezeichnen wir Situationen, in denen Patient:innen und ihre Symptome von ihrem Arzt oder ihrer Ärztin nicht ernstgenommen werden. Obwohl sie zum Teil seit Jahren Krankheitsanzeichen und Schmerzen haben, die sie bisweilen arbeitsunfähig machen, erhalten sie keine Diagnose – und dadurch auch keine geeignete Therapie. Dieses Phänomen ist zwar nicht neu, dass es nun aber einen relativ neuen Begriff dafür gibt, zeigt, dass viel mehr darüber gesprochen wird und die Leute ein Bewusstsein dafür entwickeln.
Wie viele Menschen sind in der Schweiz von Medical Gaslighting betroffen?
Das wissen wir nicht genau, die Dunkelziffer ist gross. Was wir aber mit Bestimmtheit sagen können: Für viele ist es ein Leidensweg zur Diagnose, der viele Jahre dauern kann.
Wie kommt es überhaupt zu Medical Gaslighting?
Wenn jemand zum Beispiel unspezifische Symptome hat, etwa Kopfschmerzen oder anhaltende Müdigkeit. Dem können viele Dinge zugrunde liegen, vom Eisenmangel bis zu Long Covid. Unser Gesundheitssystem ist stark auf Standardisierung ausgerichtet, zudem steht das medizinische Personal unter massivem Zeitdruck. Ärzt:innen arbeiten ihre Standardfragen ab, und wenn Symptome nicht ins Schema passen, werden sie von manchen medizinischen Fachpersonen sodann als Bagatellen abgetan oder sie unterstellen den Patient:innen, dass sie sich die Symptome einbilden. Dabei müssten sie den Betroffenen auf Augenhöhe begegnen.
Ärzt:innen haben doch aber ein Interesse daran, die Ursachen für ein Leiden zu erkennen. Wie erklären Sie sich diese Haltung?
Unser Gesundheitssystem ist nach wie vor sehr antiquiert. Das zeigt sich daran, dass vor allem einzelne Symptome wahrgenommen werden und weniger der ganze Mensch. Zudem herrscht noch immer eine männliche Optik vor, auch in dem Sinne, dass sich Forschung, Behandlungsmethoden, Medikamentendosierung – oder auch nur schon die Wahl der Medikamente – am männlichen Körper orientieren.
In dieser Beziehung geschieht aber gerade eine gewaltige Sensibilisierung.
Ja, aber noch nicht genug. Weibliche Krankheitsbilder sind immer noch weitgehend unbekannt. Das sieht man allein schon bei der Endometriose, von der in der Schweiz zwischen 190 000 und 280 000 Frauen betroffen sind. Ihnen wird oft gesagt, sie hätten bloss Stress, seien psychisch angeschlagen oder es seien halt normale Periodenschmerzen. Das heisst, die Diagnose bleibt aus, was wiederum bedeutet: kein Medikament, keine Therapie, keine Krankschreibung.
Sind Frauen also öfter von Medical Gaslighting betroffen als Männer?
Ja. Erstens kommen Frauen mit geschlechtsspezifischen Krankheiten zum Arzt, die zum Teil nicht gut erforscht sind. Zweitens, und das ist ganz wichtig, dominiert in vielen Köpfen noch immer das Bild der hysterischen Frau, die aus jedem Wehwehchen ein Riesendrama macht.
Worum handelt es sich bei diesen «Wehwehchen» tatsächlich?
Letztes Jahr wandte sich zum Beispiel eine junge Frau an uns. Sie war Anfang dreissig und litt seit der Geburt ihres Kindes an starken Beschwerden. Das schränkte sie in ihrem Alltag so stark ein, dass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte. Sowohl Ärzte als auch Ärztinnen taten sie aber als überempfindliche junge Mutter ab. Erst ein Arzt, der in einer Forschungsgruppe in den USA mitarbeitete, erkannte, dass es sich um ein post-punktionales Liquorverlust-Syndrom handelte. Das ist ein Hirnwasserverlust über ein Leck, der nach der Geburt bei Müttern auftreten kann und in der Regel von selbst heilt. Bei dieser Frau aber hielten die Kopfschmerzen an. Als sie schliesslich vom besagten Arzt operiert wurde, war sie innert kürzester Zeit beschwerdefrei.
Medical Gaslighting kann für Betroffene ernsthafte Folgen haben.
Und zwar nicht nur körperliche, sondern auch finanzielle. Denn ohne Diagnose zahlt die Krankenkasse nicht. Im Extremfall erhält man auch keine IV-Rente. Das wiederum führt nicht selten zu psychischen Beschwerden, die bis zu posttraumatischen Belastungsstörungen reichen können.
Lässt sich juristisch gegen Medical Gaslighting vorgehen?
Nur, wenn ein bleibender Schaden vorliegt, der auf ein wirkliches ärztliches Fehlverhalten zurückzuführen ist. Dieser Schaden kann sowohl körperlicher als auch psychischer oder finanzieller Natur sein. Oft ist es aber leider so, dass wir trotz Kaskaden an Misskommunikation und schlechter Erfahrung, die jemand im Gesundheitswesen erlebt hat, keinen kausalen Zusammenhang zum Schaden finden.
Was können Betroffene tun?
Sich sorgfältig auf den nächsten medizinischen Termin vorbereiten und Unterlagen aus früheren Behandlungen mitnehmen. Ich würde zudem Tagebuch darüber führen, wie infolge der Erkrankung psychische Veränderungen auftreten. Das ist rechtlich nicht relevant, aber hilft vielleicht im Gespräch. Ausserdem rate ich dazu, eine Begleitperson mitzubringen, die die Symptome bezeugen kann. Und dann kann man die Fachperson auch einfach mal fragen, wie sie selbst in der Situation vorgehen würde. Erfahrungen von ehemaligen Betroffenen zeigen, dass es sich lohnt, beharrlich zu bleiben. Und wenn alles nichts nützt, sollte man den Arzt oder die Ärztin wechseln.