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Geist ist geil: Wie die Lifestyle-Branche unser Hirn erobert hat

Gesundheit

Geist ist geil: Wie die Lifestyle-Branche unser Hirn erobert hat

  • Text: Sarah Lau
  • Illustration: Abbey Lossing

Identitätsstiftendes Superfood, Fitnessstudios, die Muskeln und Mind gleichermassen stählen, und Neuropsychologie in den Wellness-Ferien: Die Lifestyle-Branche hat unser Hirn entdeckt. Genial oder voll bescheuert?

Wer heutzutage einkaufen geht, müsste eigentlich als eine Art Dalai-Einstein aus dem Supermarkt stolpern. Regale und Webshops zumindest bersten vor entsprechenden Helferlein: Nervennahrung in allen Aggregatszuständen und Produktneuheiten, die wahlweise stimmungsaufhellend oder intelligenzfördernd sein wollen. Vor allem dort, wo früher Leinsamen, Nüssli und Müesliriegel standen, toben sich die Marketingabteilungen aus: Bei Alnatura heisst die Packung mit Trockenfrüchten und schoggiüberzogenen Haselnüssen «Gute-Laune-Mix» und wer Lust hat, sich «neue Energie und Nährstoffe fürs Gehirn zu holen», greift am besten zum «Goodme Mind Snack», Superfood-Energiekugeln aus Datteln, Mandeln und Zimt.

Apropos: In diesem Zusammenhang sollte kurz klargestellt werden, dass der Begriff Superfood nicht geschützt ist und laut der deutschen Ernährungswissenschafterin und Konsumentenschützerin Angela Clausen «vor allem Lebensmittel mit einer super Werbung» umfasst. Hier versammeln sich eben auch oft pflanzliche Exoten wie Acai, Chia, Goji oder Moringa, die von Natur aus reich mit Nährstoffen, Enzymen und Pflanzenstoffen gesegnet sind und dazu mit einer Top-Geschichte von fernen Ländern und Superkräften ausgestattet werden. Heimischen Samen und Früchten haben sie in punkto Nährstoffgehalt zwar selten etwas voraus, sind dagegen vergleichsweise umweltschädlich und teuer – aber was tut man nicht alles für das Hipster-Lebensgefühl.

Hirnschmeichlerprodukte: Was steckt dahinter?

Es geht allerdings um mehr als nur um Imagefragen. Wenn Energieriegel explizit damit werben, dank Nüsschen und dem zum «Powerpilz» hochstilisierten Löwenmähnen-Gewächs «gesunde Nerven und Neuronen zu stimulieren», die kognitive Funktion zu fördern und gleichzeitig neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer zu bekämpfen, dann betreten wir die Bühne der neuen Hirnschmeichler-Produkte, die zunehmend auch die Schweiz fluten. Begrüssenswert an dieser Entwicklung sind die vielen, oft zuckerfreien und in der Tat gesunden Snacks, die auf dem Vormarsch sind.

Ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge steigern Lecithin und Vitamin B aus (ungesalzenen, nicht gerösteten) Nüssen in der Tat die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns und schützen nachweislich vor Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Und wenn von kognitiver Funktion gesprochen wird, bezieht sich das auf Aktivitäten, die eine höhere Hirnleistung erfordern (Lernen, Problemlösen, Entscheiden …), und diese wird durch den Verzehr von Nüssen nun mal ganz grundsätzlich unterstützt.

Psychokrise und Peace-Tee

Dass intelligente Snacks boomen, ist gerade in diesen Zeiten naheliegend. Befeuert durch die Pandemie wurde die Bevölkerung flächendeckend in eine Psychokrise gestürzt, die Hilfestellungen aller Art nötig macht. Selbst mental stabile Menschen geraten durch Isolation, Homeoffice-Stress und apokalyptische Ängste aus dem Gleichgewicht und gefühlt kennt jede:r jemanden, die oder der von Burnout, Suchtproblemen, Panikattacken oder Depressionen betroffen ist.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO prognostizierte bereits vor der Pandemie aufgrund steigenden Stresslevels und wachsender Klimaangst bis zum Jahr 2030 den Aufstieg von Depressionen zur Volkskrankheit Nummer eins, und das Schweizer Gesundheitsobservatorium Obsan zitiert eine Studie, nach der sogar jede zweite Person hierzulande einmal in ihrem Leben eine psychische Erkrankung erleidet.

Positiv zu vermerken ist, dass sich durch den Ernst der Lage eine Menge in puncto Enttabuisierung getan hat. In Talkshows, auf Magazin-Covers, Social Media und in Spitalbroschüren, überall geht es um unser seelisches Gleichgewicht, sprechen Celebrities von Nora Tschirner über Selena Gomez hin zu Naomi Osaka über Depressionen und Erschöpfungszustände. Kein Wunder also, dass die geschäftstüchtige Lifestyle-Branche auf den Bedarf reagiert.

Geht man etwa durch die Tee-Abteilung, meint man, alles sei erleuchtet. Zwei Favoriten aus dem Pukka-Sortiment gefällig? «Tulsi-Klarheit» etwa, ein Bio-Kräutertee mit dem indischen Basilikum Tulsi preist sich als «Deine Oase der Weisheit» an. Kollege «Peace-Tee» wirbt für die chillende Wohlfühlpause mit Hanf und Ashwagandha: «Lehn dich zurück, atme tief ein und hülle Körper und Geist in den Zauber dieses Naturgeschenks.» Die internationale Kiffervereinigung hätte nicht schöner für sich werben können. Während Haschisch hierzulande verboten bleibt, sei der Gedanke erlaubt, dass es durchaus absurd erscheint, gleichzeitig mit ähnlich bewusstseinserweiternden Versprechungen werben zu dürfen.

Kann man Intelligenz trinken?

Einen anderen Schwerpunkt setzen Durstlöscher wie das Schweizer Focus Water oder auch das neue Evian+ – hier wird Mind gross geschrieben, auf den Dosen wörtlich. Konzentration, Energiesteigerung, Performance lauten hier die Schlüsselwörter. Was die isotonischen Energydrinks in den Muskelmanie-Jahren warenist heute die Brain-Brause, die uns ganzheitlich vital halten soll. «Auch wir stellen fest, dass vermehrt die geistige Gesundheit in den Fokus der Konsument:innen rückt. Körperliche und geistige Gesundheit sind miteinander verbunden; dem wollen wir künftig mit unseren Innovationen noch mehr Rechnung tragen», sagt Philippe Aeschlimann, Head of Corporate Affairs bei Danone.

Dass eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr elementar für einen gesunden Körper und Geist istist bekannt. Dass Wasser dafür ausreicht auch. Tee geniesst indes zu Recht einen besonderen Stellenwert: 2019 haben Wissenschafter:innen der National University of Singapore herausgefunden, dass bei Tee-Fans bestimmte neuronale Netzwerke im Hirn besser verbunden sind, die Informationsverarbeitung entsprechend effizienter ist und Tee demnach vor altersbedingten kognitiven Einschränkungen schützt. Dabei ist es allerdings wurst, wie wohltönend der Name klingt, entscheidend ist, dass es sich um grünen, schwarzen oder Oolong-Tee handelt, der die Hirnstruktur verbessernden Catechine enthält.

Ein Paradigmenwechsel

Doch nicht nur im Bereich der Nahrungsindustrie – von den auf Hirnleistungssteigerung ausgerichteten Nahrungsergänzungsmitteln von Vita-Gehirn aus dem Haus Viva Victurs bis hin zu den Produkten der Linie Holistic Health von La Prairie – tut sich etwas. Auch Wearables, tragbare Biosensor Geräte wie Smartwatches und Fitness-Tracker, haben Hochkonjunktur und bilden den steigenden Bedarf an Unterstützung im Bereich Mental Wellness, sprich unserem geistigen Wohlbefinden, ab.

Die explosionsartige Verbreitung von Meditations-Apps wie «Calm» oder «Headspace» – Letztere hat sogar für Netflix eine eigene Serie produziert – zeigt, dass Achtsamkeitsübungen und Atemtraining im Alltag gefragt sind. Zudem boomen digitale Sprachassistenten, Avatare und cloudbasierte Anwendungen für künstliche Intelligenz, die durch Panikattacken führen und Suizidgefährdete aufspüren sollen.

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«Was die isotonischen Energydrinks in den Muskelmanie-Jahren waren, ist heute die Brain-Brause»

Sarah Lau

Wir erleben gerade einen Paradigmenwechsel, der dazu führt, dass mentaler Gesundheit ein neuer Stellenwert in unserer Gesellschaft zuteilwird. Gleichzeitig avanciert Selfcare, also die Selbstfürsorge, zum Statussymbol. Der neue «Sanitas Health Forecast», erschienen im Wörterseh-Verlag unter dem Titel «Der neue Optimismus», widmet sich trendgerecht dieser ganzheitlichen Gesundheitsoptimierung. Schliesslich habe eine entsprechende Studie ergeben, dass inzwischen achtzig Prozent der Schweizer Bevölkerung die Pflege der mentalen Gesundheit als Bestandteil ihres Alltags ansehen. Kurz: Unser ganzheitliches Wohlbefinden rückt zunehmend in den Mittelpunkt unseres Lebens, und Psychohygiene erhält ein neues, frisches Image.

Psychohygiene als Ferienaktivität

Das wiederum wirkt sich auch auf unsere Ferienplanung aus. Gefragt sind Konzepte, bei denen sich die Grenze zwischen hochspezialisierter medizinischer Klinik und Spa-Hotel immer mehr auf löst. Selbst wenn die einen nach wie vor eher der Behandlung, die anderen der Prävention psychischer Malaisen dienen. «Mentales Wohlbefinden und ein ganzheitlicher Ansatz sind auch in unserer Klinik der Schlüssel», sagt beispielsweise Adrian Heini, medizinischer Leiter der Clinique La Prairie in Montreux. Und fügt an: «Die mentale Gesundheit ist Teil des medizinischen Check-ups unserer Gäste, der Medical-Spa-Behandlungen sowie des Ernährungs- und Fitnessmanagements. Psychiater:innen, Psycholog:innen und verhaltenstherapeutische Ernährungsfachleute arbeiten bei uns Hand in Hand.»

Während der Pandemie sei die Nachfrage nach psychologischer Beurteilung und Therapie gestiegen, so Heini, der «in naher Zukunft eine noch höhere Nachfrage» erwartet. Neben Aktivitäten im Freien und medizinischen Spa-Behandlungen (von Meditation über Akupunktur bis zu Ernährungsprogrammen), die eine körperliche und geistige Entspannung herbeiführen sollen, seien genetische und epigenetische Tests als zukünftige Präventionswerkzeuge bei der Erstellung eines gesünderen Lebensstils auf dem Vormarsch.

Gute Nacht mit Brain Echos?

Einer der wichtigen Trends, nicht nur am Genfersee: personalisierte Schlafprogramme, die die Gäste lehren sollen, therapeutisch wirksame Nachtruhe zu finden. Die nämlich ist gerade seit Corona bei den wenigsten gegeben, und so heisst es nicht mehr Augen zu und durch, sondern wieder schlafen lernen, und zwar richtig. Dabei dürfte der grösste Schlaf-Hack der Zukunft das Wissen um zirkadiane Rhythmen sein. Eigentliches Ziel ist es, sicherzustellen, dass unser Körper sich in der Nacht auf nichts anderes als Erholung und Regeneration konzentriert und so Stimmungsschwankungen, das Depressionsrisiko und Stress reduziert werden. So kann die optimale zirkadiane Beleuchtung durch zeitlich abgestimmte Lichtdosen bestimmt werden, zusätzlich sollen zirkadiane Diätpläne – alle Mahlzeiten gibt es in den aktiven acht Stunden zwischen 11 und 18 Uhr – dem Verdauungsapparat Nachtruhe gewähren, und auf den Rhythmus der Hautzellen abgestimmte Crèmes versprechen ein ausgeruhtes Antlitz.

Sogar die Wellness-Musik wird optimiert: Nach der Erfassung biometrischer Daten sollen personalisierte, digital programmierte Klanglandschaften beispielsweise die Wirkung von Massagen verstärken. Und im Basler Cereset-Studio in Reinach werden «dank patentierter Brain-Echo-Technologie» die Gehirnströme gemessen und in Töne umgesetzt, so dass man ganz entspannt seinem eigenen Gehirn zuhören könne. Auch hier lockt das Versprechen, sich so «von den Auswirkungen von Stress erholen zu können».

Ein neues Gesundheitsbewusstsein

Was die Wissenschaft immer differenzierter belegt, ist auch im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen: Laut «Sanitas Health Forecast» sind drei Viertel der Schweizer:innen überzeugt, dass ihre körperliche Gesundheit von der mentalen abhängt. Studien rund um diese Wechselwirkungen weisen Alternativen zu rein medikamentösen Behandlungen auf. Meditative, neurowissenschaftlich inspirierte physische Workouts wie Yoga fördern nachweislich die Hirnaktivität – was insbesondere bei der Prävention von Krankheiten wie Alzheimer und Demenz eine wichtige Rolle spielt, aber auch sonst Konzentration und Kreativität fördert.

Dabei hat der Ganzheitlichkeitstrend auch die Fitnessstudios erfasst, wo immer mehr Anbieter neben Ernährungs- auch eigene Mental-Coaches anstellen. Im Winterthurer Z4P-Studio etwa sollen per Sporthypnose Blockaden gelöst werden, um so zu psychischer Stärke und körperlicher Höchstleistung zu gelangen. Dank Youtube bereits in der Schweiz angekommen ist auch der kalifornische Trend der In-Trinity-Workouts. Dabei wird auf einem schrägen Brett ein Trainingsmix aus Yoga, Pilates, Meditation und Kampfsport absolviert, während durch bestimmte Musik meditative Gehirnströme angeregt werden sollen – maximale Fitness für Hirn und Herz.

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«Dass die Gesellschaft einen neuen Umgang mit ganzheitlicher Gesundheit finden muss, steht ausser Frage»

Sarah Lau

Dass die Gesellschaft einen neuen Umgang mit ganzheitlicher Gesundheit finden muss, steht ausser Frage. Dabei sind neue Therapien und unterstützende Angebote grundsätzlich begrüssenswert – man sollte einfach nur immer den gesunden Menschenverstand einsetzen, wenn es um Preis-Leistungs-Verhältnis, Notwendigkeit und Werbeversprechen geht. An den kleinen «Super Brain»-Fruchtgummihirnen von Trolli lässt sich das prima üben. Ob diese aufgrund ihres «soften Schaumzuckerbodens und des Plus an Traubenzucker» wirklich ein «cleverer Gaumenschmaus» sind? Mal scharf nachdenken…

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