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Milchpulver für Babys: Herzlichen Dank für diese Erfindung

Familie

Milchpulver für Babys: Herzlichen Dank für diese Erfindung

Weltweit werden zu viele Babys mit Milchpulver ernährt, warnt das Medizin-Fachblatt «The Lancet». Redaktorin Marie Hettich schreibt in ihrem Kommentar: Wir Eltern haben der Milchpulverindustrie auch vieles zu verdanken.

«Viele Mütter stillen zu wenig»: So der provokante Titel eines Artikels aus der «SonntagsZeitung». Die Kurzfassung: Nicht einmal die Hälfte aller Mütter weltweit stillen ihre Babys nach WHO-Empfehlung mindestens sechs Monate lang voll. Und grosse Mitschuld daran trägt – laut einer neu erschienenen Artikelserie im renommierten Medizin-Fachblatt «The Lancet» – die Milchpulverindustrie, die weltweit jährlich 55 Milliarden US-Dollar umsetzt.

«Seit Jahrzehnten wendet die Industrie manipulative Marketingstrategien an», wird in der «SonntagsZeitung» aus dem Fachblatt zitiert. Diese seien darauf angelegt, «die Sorgen und Ängste junger Eltern in dieser verletzlichen Phase auszunutzen und die Babyernährung in die Multimilliarden-Dollar-Industrie zu verwandeln».

Milchpulver dürfe nicht «normalisiert» werden

Die Milchpulverindustrie stelle in der Werbung Weinen und unruhige Nächte als abnormal dar – und verspreche den Eltern mit ihren Produkten Besserung. Auch würden einige Hersteller behaupten, die Gehirnentwicklung und Intelligenz des Kindes werde durch Pre-Milch gefördert, ohne dass dies je eine Studie bewiesen hätte.

Die Autor:innen von «The Lancet» fordern nun ein rechtlich bindendes internationales Abkommen zur Eindämmung des Marketings. Milchpulver dürfe nicht weiterhin auf diese Weise «normalisiert» werden; die Stillzahlen dürften nicht weiter zurückgehen – zu gross seien die wissenschaftlich erwiesenen Benefits des Stillens. Hierfür sei weltweit auch die Politik zuständig: Das Stillen müsse erwerbstätigen Müttern viel besser ermöglicht werden, als dies aktuell der Fall sei.

An der Lebensrealität vorbei

So sehr mir einiges, was «The Lancet» kritisiert, einleuchtet: Irgendwie scheint mir die allgemeine Aufruhr im Fachblatt auch an der Lebensrealität vieler Eltern vorbeizugehen.

Ich kenne etliche Mütter, die GOTTFROH darüber waren, dass Pre-Milch existiert – sei es direkt nach der Geburt oder erst ein paar Monate später. Weil sie sich beim Stillen immer unwohl gefühlt haben, zum Beispiel. Weil sie Zwillinge bekommen haben und ihnen das Vollzeitstillen von zwei Babys irgendwann zu viel wurde. Oder weil sich ihre Nippel vom vielen Nuckeln gar nicht mehr erholen konnten.

Eine Freundin von mir – Hebamme wohlgemerkt – hatte bei ihrem ersten Baby grosse Stillprobleme. Sie setzte sich unglaublich unter Druck, wollte auf gar keinen Fall Milchpulver hinzufüttern. Erst als sie ihrer Tochter dann ab und zu Pre-Milch gab, konnte sie aufatmen – und ihre Milch floss wieder.

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«Mich hat das entspannt: zu wissen, Leben und Tod hängt nicht von meinen Brüsten ab»

Als vor anderthalb Jahren mein Kind zur Welt kam, hat mich das von Anfang an entspannt: zu wissen, Leben und Tod hängt nicht von meinen Brüsten ab. Die Hebamme hatte damals im Geburtsvorbereitungskurs dazu geraten, einfach eine Packung Pre-Milch im Vorratsschrank zu haben – just in case, für alle Fälle.

Etwa fünf Monate lang habe ich unser Baby voll gestillt – und dies, nachdem ich mich irgendwann eingegroovt hatte, auch wirklich gern. Ich persönlich will die Erfahrung dieser innigen Stillbeziehung mit meinem Kind nicht missen.

Als ich dann langsam mit dem Zufüttern begann, tat sich für meinen Partner und mich aber eine neue Elternrealität auf: Weil so meine Milchproduktion zurückging und wir nicht mehr auf jeden Tropfen angewiesen waren, konnte ich wieder unterwegs sein, ohne dass ich alle paar Stunden abpumpen musste. Alle, die schon mal mit einer Pumpe und Krampf in der Hand auf einem Toilettendeckel sassen, wissen, was das für ein Stimmungskiller sein kann.

Vollzeitstillen ist ein Vollzeitjob

Nach sechs Monaten war ich zu 70% zurück im Büro – und beeindruckt von meinem Körper, der schnell verstanden hatte, dass ich nur noch am Morgen und am Abend Milch für mein Baby brauchte. Den ganzen Tag über hatte ich meine Ruhe und konnte mich auf meinen Job konzentrieren. Selbst unter anderen Arbeitsbedingungen – einer Selbstständigkeit zum Beispiel – hätte ich mit Sicherheit dankbar zugefüttert, um nicht konstant zwischen zwei Welten hin- und hergerissen zu sein.

Denn Vollzeitstillen ist genau das: ein Vollzeitjob. Und nein, im Normalfall kann man auch nicht die Uhr danach stellen, wann das Baby trinken möchte. Und auch nicht verhandeln: Warte, Schatz, mein Meeting dauert nur noch 15 Minuten! Für mich war das ein gutes Gefühl: Das Milchpulver und ich ernähren das Baby nun zusammen – genial.

Ein Beitrag zur Gleichstellung

Mein Freund konnte von nun an – ohne besorgten Blick in das Gefrierfach, ob noch genug abgepumpte Milch da war, ohne mühsames Auftauen und Wiederaufwärmen – ganz unabhängig von mir unser Baby füttern. Der Journalist Philipp von Essen schrieb einmal in der «Republik»: «Milchpulver hat gegenüber abgepumpter Mutter­milch den unschätzbaren Vorteil, dass es schnell verfügbar ist und haltbar (…) Milch­pulver ist ein echter Beitrag zur Gleichstellung.»

Ein echter Beitrag zur Gleichstellung, ein echter Beitrag zur Selbstbestimmung und zur psychischen Gesundheit vieler Mütter – und im «The Lancet» wird über Muttermilchersatzprodukte auf eine solch alarmierende Weise geschrieben, als handle es sich um Nikotin oder Alkohol, deren verheerende Auswirkungen auf die Gesundheit in etlichen Studien bewiesen wurden. Ein Zufall? Wenn man bedenkt, wie viel nach wie vor dafür getan wird, um den patriarchalen Status quo mit der klaren Rollenzuschreibung für Frauen aufrechtzuerhalten, wahrscheinlich nicht.

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«Am Beispiel Pre-Milch lassen sich grosse Vergehen unseres kapitalistischen Systems ablesen»

Und doch ist die Sache mit dem Milchpulver auch leider kompliziert: Deutlich wurde dies zum Beispiel 2018, als die USA Ecuador mit Handelssanktionen und dem Rückzug ihrer militärischen Unterstützung drohten, weil Ecuador – unter anderem durch eine verlängerte Elternzeit – mehr Müttern das Stillen ermöglichen wollte. Die Milchpulver-Lobby schlug Alarm, so «The Lancet»: Denn je mehr gestillt wird, desto weniger Milchpulver wird natürlich gebraucht.

Am Lebensmittelgiganten und Milchpulver-Pionier Nestlé haftet noch heute der Skandal aus den 70er-Jahren, als der Bericht «Nestlé tötet Babys» um die Welt ging. Darin wurde der Konzern beschuldigt, den Tod Tausender Säuglinge in Afrika und Südamerika zu verantworten. Nestlé hatte dort aggressiv Milchpulver beworben – ohne die teils erschwerten Hygienebedingungen der Zubereitung zu berücksichtigen oder die Eltern ausreichend darüber aufzuklären.

Aus dem anschliessenden Gerichtsprozess, in dem das Verhalten Nestlés vom Richter als «unethisch und unmoralisch» bezeichnet wurde, gingen Restriktionen hervor – unter anderem muss seither jede Packung Milchpulver mit dem Hinweis versehen sein, Stillen sei in den ersten sechs Monaten das Beste fürs Baby. Aber: Laut «The Lancet» sind diese Restriktionen weder streng noch verbindlich genug.

Von Fall zu Fall die bessere Alternative zum Stillen

Die NGO International Baby Food Action Network, die regelmässig die Verstösse gegen den Marketingcode auflistet, sieht das genauso: «Der Konzern hält sich überhaupt nicht an die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Und jedes Mal, wenn Nestlé sich nicht an die minimalen Marketingempfehlungen hält, riskiert der Konzern das Leben der Babys», so Patti Rundall, eine Mitautorin des Berichts, zu SRF.

Nestlé sagt auf Anfrage dazu: «Wir unterstützen die Empfehlungen der WHO zum ausschliesslichen Stillen in den ersten sechs Lebensmonaten und wir halten uns vollständig an den WHO-Kodex. Unsere weltweite Verpflichtung ist: Wir bewerben keine Muttermilchersatzprodukte für Babys von 0 bis 6 Monaten. In 163 Ländern, von denen die meisten eine hohe Unterernährungsrate aufweisen, verfolgen wir eine strengere Politik und bewerben keine Muttermilchersatzprodukte für Babys von 0 bis 12 Monaten.» Weiterhin exportiert Nestlé den grössten Teil seiner Muttermilchersatzprodukte in Länder mit einer hohen Geburtenrate.

Am Beispiel Pre-Milch lassen sich grosse Vergehen unseres kapitalistischen Systems ablesen; dies zu verkennen wäre naiv und ignorant. Gleichzeitig darf nicht vergessen gehen, dass die Erfindung des Milchpulvers auch eine Errungenschaft ist. Eine Errungenschaft, die von Fall zu Fall auch die bessere Alternative zum Stillen sein kann. Zum Wohle der Mutter, zum Wohle der Eltern – und damit auch zum Wohle des Babys.

In der Schweiz bezahlt die Grundversicherung drei Stillberatungen, die von ausgebildeten Hebammen angeboten werden – beispielsweise über den Berufsverband Schweizerischer Still- und Laktationsberaterinnen.

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Nicole

https://m.youtube.com/watch?v=8ovdmDRVvSY ein sehr eindrücklicher Film zur Thematik