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Kinderarzt Oskar Jenni zum Schulstart: «Als Eltern sollte man auf seine Intuition vertrauen»

Familie

Kinderarzt Oskar Jenni zum Schulstart: «Als Eltern sollte man auf seine Intuition vertrauen»

Wie gelingt der Schulstart – und alles, was kommt? Der Zürcher Kinder- und Jugendarzt Oskar Jenni darüber, wie Eltern ihre Kinder am besten durch die Schulzeit begleiten und welche Kraft in Übergängen steckt.

annabelle: Wenn Kinder in die Schule übertreten oder die Klasse wechseln, ist das immer auch ein Loslassen, ein Abschied. Was bedeuten diese Schritte für die Beziehung zwischen Eltern und Kindern?
Oskar Jenni: Diese Schritte sind wichtig. Denn am Schluss der Kindheit ist genau dies das Ziel: Dass unser Kind selbstständig wird und das Familiennest verlässt, dass es andere Menschen kennenlernt, mit ihnen Beziehungen eingeht. Damit ein Kind diese Übergänge meistern kann, braucht es von seinen Eltern fünf Vs – Vertrauen, Verlässlichkeit, Verfügbarkeit, Verständnis und viel Liebe.

Wie kann man sein Kind so erziehen, dass es weiss: Meine Eltern vertrauen mir, sie lassen mich gehen?
Erziehung ist keine Einbahnstrasse, Kinder «erziehen» auch immer uns Eltern. Wir können nicht alles steuern und auch nicht alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Kinder sollen auch scheitern dürfen, damit sie lernen, wieder aufzustehen. Wichtig ist, einen verlässlichen Rahmen zu bieten, damit die Kinder spüren: Meine Eltern trauen mir viel zu und fangen mich auf, wenn nötig. Rituale wie gemeinsame Abendessen oder die Lesestunde abends – daran kann sich ein Kind festhalten.

In der Schule verbringen die Kinder den Grossteil ihrer Zeit ausser Haus, eine Blackbox für die Eltern.
Das kann ein unangenehmes Gefühl sein, ich erinnere mich selbst daran. Aber man muss wissen: Das Kind gehört nicht den Eltern, das Kind gehört nur sich selbst. Man hat also nie die volle Kontrolle und muss akzeptieren, dass in der Schule Dinge passieren, von denen man nichts weiss. Als Eltern sollte man da auf seine Intuition vertrauen: Kinder signalisieren uns, wenn es ihnen nicht gut geht.

In der Schule werden Kinder mit anderen Werten konfrontiert – vielleicht auch mit solchen, die man selbst ablehnt. Wie raten Sie, damit umzugehen?
Die Welt ist sehr vielfältig, und es ist wichtig, sich mit unterschiedlichen Werten auseinandersetzen zu können. Im Laufe der Entwicklung bildet das Kind seine eigene Identität und findet heraus, welche zu ihm passen. Dabei sind verschiedene Einflüsse notwendig. Als Eltern kann man diese Entwicklung am besten unterstützen, indem man seine eigenen Werte lebt. Wenn Kinder dann mit Aussagen kommen, die unseren Überzeugungen widersprechen, hängt die Reaktion vom Alter des Kindes ab: Entweder sagt man schlicht «So reden wir bei uns nicht» – oder man diskutiert gemeinsam darüber und erklärt, warum man anders denkt.

Eltern neigen dazu, ihre eigenen Schulerfahrungen auf das Kind zu projizieren. Wie schützt man sich davor?
Gerade wenn man selbst Negatives erlebt hat, will man für sein Kind eine bessere Schulzeit, das ist normal. Was man tun kann, ist, sich mit anderen darüber auszutauschen. Das Reflektieren der eigenen Gefühle ist ein bedeutender Schritt.

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«Im Verlauf der Schulzeit lernen sich die Kinder immer besser kennen, entwickeln ein Selbstkonzept»

Schule bedeutet auch Leistungsdruck. Wie hilft man Kindern, ihren Wert nicht an Noten festzumachen?
Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Im Verlauf der Schulzeit lernen sich die Kinder immer besser kennen. Sie entwickeln ein Selbstkonzept – also ein Bild davon, wie sie aussehen, was sie können und wer sie sind. Das ist eine wichtige Entwicklungsaufgabe in der Kindheit. Sie findet in der Interaktion mit der Umwelt statt – etwa mit Lehrpersonen und Kindern, die Feedback geben. Rückmeldungen zum eigenen Ich sind wichtig: unabhängig davon, ob sie in Form von Noten oder anders gegeben werden. Die meisten Kinder können dieses Feedback aufnehmen, ohne dass ihr Selbstwert darunter leidet.

Sorgen bereitet vielen Eltern auch der Medienkonsum. Man will nicht, dass die Kinder den Anschluss verlieren – aber auch nicht die Kontrolle. Was raten Sie ihnen?
Eltern sollten so lange wie möglich zeitliche sowie inhaltliche Grenzen setzen. Gleichzeitig ist es wichtig, dem Kind viele Gelegenheiten zu bieten, in der realen Welt aktiv zu sein. Solange das Kind genügend Erfahrungen im echten Leben macht – im Sportverein, in der Schule oder draussen beim Spielen –, soll es auch im digitalen Raum Erfahrungen sammeln dürfen. Eigene elektronische Geräte wie ein Smartphone sollten Kinder frühestens in der späteren Primarschulzeit oder sogar erst in der Oberstufe erhalten. Sobald ein Kind ein Gerät ständig bei sich trägt, wird die Kontrolle schwieriger. Deshalb ist es wichtig, dass Kinder früh lernen, kompetent mit Medien umzugehen. Auch die Schule trägt da Verantwortung.

Wann wird Medienkonsum problematisch, gibt es da eine Faustregel?
Nein, aber das Konzept der drei Cs bietet Orientierungshilfe. Das erste C steht für Context: Lebt das Kind in einem gesunden Familienumfeld mit klaren Regeln und Interesse für seinen Alltag – oder in einer schwierigen Umgebung, in der übermässiger Medienkonsum zu störendem Verhalten führt? Das zweite für Child: Kann sich das Kind bis zu einem gewissen Grad selbst regulieren oder leidet es an Entwicklungsauffälligkeiten wie ADHS, die ein höheres Risiko bergen, das Kind in digitale Welten hineinzuziehen? Das dritte steht für Content: Was genau wird konsumiert? Sind es harmlose Spiele, gewalttätige oder sexualisierte Inhalte? Das hilft, einzuschätzen, ob Handlungsbedarf besteht.

Um noch einmal auf die Schule zurückzukommen: Wie gelingt aus Ihrer Sicht eine gute Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern?
Eltern sollten sich im Allgemeinen zurückhalten und erst aktiv werden, wenn das Kind leidet oder sich die Lehrpersonen an sie wenden. Es ist wichtig, dass Eltern verstehen, dass die Schule nicht ausschliesslich den Interessen einzelner Kinder und Familien dient, sondern der Sozialisierung und Bildung von allen Kindern gemeinsam.

Oskar Jenni ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich und Professor für Entwicklungspädiatrie der Universität Zürich. Im Frühling 2024 erschien sein Buch «Kindheit – eine Beruhigung» mit Beiträgen von elf Fachpersonen im Verlag Kein & Aber, Zürich, 250 Seiten, ca. 29 Fr.

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