
Entwicklungspsychologe: "Für hochsensible Kinder ist eine positive Kindheit entscheidend"
30 Prozent aller Kinder sind hochsensibel. Der Entwicklungspsychologe Michael Pluess forscht seit 15 Jahren zum Thema – und weiss, was hochsensible Kinder brauchen.
- Von: Marie Hettich
- Symboldbild: Stocksy
annabelle: Michael Pluess, der Begriff "Hochsensibilität" ist gerade überall. Was ist darunter zu verstehen?
Michael Pluess: Hochsensibilität beschreibt die Tendenz gewisser Kinder und Erwachsenen, stärker auf ihre Umgebung zu reagieren und sich mehr Gedanken darüber zu machen. Sie zeigen auch oft stärkere emotionale Reaktionen. Das liegt daran, dass sie die Sinnesreize aus ihrer Umwelt stärker wahrnehmen und verarbeiten.
Wie wirkt sich Hochsensibilität im Alltag mit Kindern aus?
In neuen Situationen brauchen hochsensible Kinder oft länger, um sich an etwas zu gewöhnen; zu Beginn sind sie oft zurückhaltender. Und wenn es laut und trubelig zugeht, sind sie schnell überstimuliert. Solch chaotische Situationen sind für hochsensible Kinder sehr stressig, was sich in Form von emotionalen Ausbrüchen oder Verhaltensproblemen äussern kann. Wir wissen ausserdem, dass sensible Kinder auf Bestrafung oder Konflikte – auch zwischen den Eltern – stärker reagieren als weniger sensible Kinder. Nur schon ein plötzlicher strenger Tonfall kann sie teils recht erschüttern, da sollte man aufpassen.
Sind hochsensible Kinder ängstlicher?
Ich würde sagen: vorsichtiger. Hochsensible Kinder sind sich gewissen Risiken einfach mehr bewusst – was dann gegebenenfalls zur Folge hat, dass das Kind ein bisschen langsamer Velo fährt oder den Baum nicht ganz so weit hochklettern möchte. Eine Studie mit Dreijährigen hat gezeigt: In einem für sie neuen Raum springen die weniger sensiblen Kinder sofort hinein, fassen alles an, und sind dann auch relativ schnell fertig damit, sich alles anzuschauen. Die hochsensiblen Kinder stehen zuerst einfach mal da, schauen sich in Ruhe um, und gehen dann auf eines der Spielzeuge zu, mit dem sie sich dann meist länger befassen.
"Hochsensibilität muss nicht zum Problem werden – kann sie aber"
Welche besonderen Skills und Talente haben hochsensible Kinder?
Hochsensible Kinder sind oft sehr empathisch und einfühlsam. Sie nehmen kleine Details eher wahr als andere, sind kreativ und können sich ganz intensiv mit Themen auseinandersetzen. Gewisse Kinder sind sehr gut in der Schule.
Sind hochsensible Kinder besonders intelligent?
Das wissen wir noch nicht. Es könnte aber sein. Wahrscheinlicher ist, dass diese Kinder sich in der Schule mehr bemühen, weil sie hohe Erwartungen an sich haben und sich auch den Erwartungen anderer bewusster sind. Zudem haben sie oft eine Tendenz, Fehler absolut vermeiden zu wollen.
Wie viele Kinder sind überhaupt hochsensibel?
Ungefähr 30 Prozent aller Kinder sind hochsensibel. 30 Prozent der Kinder sind wenig sensibel – und 40 Prozent liegen in der Mitte. Dieselben Zahlen gelten übrigens für alle Altersklassen. Heisst: Aus hochsensiblen Kindern werden hochsensible Erwachsene.
30 Prozent? Das sind ja ganz schön viele!
Das ist keine kleine Minderheit, in der Tat! Man muss allerdings beachten, dass es innerhalb dieser Gruppe nochmals deutliche Sensibilitätsunterschiede gibt. Hochsensibilität muss nicht zum Problem werden – kann sie aber.
Wann wird Hochsensibilität zum Problem?
Probleme bei stark hochsensiblen Kindern sind von deren Umgebung abhängig, wenn also beispielsweise auf ihre besonderen Bedürfnisse zu wenig eingegangen wird oder sie mit Herausforderungen konfrontiert werden, die nicht bewältigbar sind, zum Beispiel Mobbing in der Schule. Wir finden in der Forschung, dass diese Kinder eher interne Verhaltensprobleme wie Ängste und Depressionen entwickeln und sich eher sozial zurückziehen. Gewisse Kinder können auch aggressiv werden.
"Es gibt auch extrovertierte hochsensible Kinder"
Ist Hochsensibilität eine medizinische Diagnose?
Nein, Hochsensibilität ist keine klinische Diagnose – und sie sollte auch keine sein. Im Gegensatz zu Autismus oder auch ADHS ist Sensibilität einfach eine von verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften: Alle Menschen sind sensibel – manche mehr, manche weniger. Hinzu kommen viele andere Eigenschaften, die uns Menschen ausmachen, wie beispielsweise die Intro- oder Extrovertiertheit. Jedes hochsensible Kind ist anders.
Heisst, hochsensible Kinder sind nicht per se leise und schüchtern?
Nein, es gibt auch extrovertierte hochsensible Kinder. In dem Fall ist ganz typisch, dass Betreuungs- und Lehrpersonen die Hochsensibilität gar nicht erkennen, weil sich das Kind unter anderen Kindern unauffällig verhält. Es ist im Geschehen voll dabei, gibt vielleicht sogar den Ton an – aber wenn es nach Hause kommt, ist es total erschöpft, weil es den ganzen Tag dieser Überstimulierung ausgesetzt war und eigene Bedürfnisse nach Ruhe und Rückzug unterdrückt hat. Das bekommen dann meist nur die Eltern zu spüren.
Sind Kitas und klassische Kindergärten für hochsensible Kinder eher zu viel – kann man das so allgemein sagen?
Das muss nicht für jedes hochsensible Kind gelten, aber sicher ist: Je weniger sie einer Reizüberflutung ausgesetzt sind, desto besser. Und wir wissen, dass für hochsensible Kinder die Qualität der Betreuung eine grössere Rolle spielt als für andere Kinder. Eine harmonische Tagesfamilie kann da also eine gute Alternative sein, weil die einzelnen Kinder dort mehr Aufmerksamkeit bekommen können – und der Lärmpegel tiefer ist. Ganz unabhängig von der Betreuungsform lässt sich aber sagen: Der Wechsel von zuhause in die Betreuung und wieder zurück ist für viele hochsensible Kinder besonders schwierig. Übergänge müssen gut begleitet werden. Und am Abend braucht das Kind unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.
"Frühgeborene Kinder sowie Kinder mit einem tiefen Geburtsgewicht entwickeln oftmals eine höhere Sensitivität"
Weiss man eigentlich, woran es liegt, dass ein Kind hochsensibel ist?
Knapp 50 Prozent der Sensitivitätsunterschiede bei Kindern sind auf genetische Faktoren zurückzuführen. Die Erblichkeit ist also beträchtlich. Aber 50 Prozent sind eben nur 50 Prozent – Umweltfaktoren spielen also eine ebenso grosse Rolle.
Welche Umweltfaktoren könnten das beispielsweise sein?
Dazu wird aktuell geforscht. Was wir schon wissen: Die Schwangerschaft kann einen Einfluss haben. Eine Studie mit Mäusen hat gezeigt, dass Föten, die im Mutterleib Stress ausgesetzt waren, später stärker von der Umwelt beeinflusst werden, also sensibler sind. Und wir wissen auch, dass frühgeborene Kinder sowie Kinder mit einem tiefen Geburtsgewicht oftmals eine höhere Sensitivität entwickeln.
Welche Rolle spielt in der Entwicklung der Sensitivität das soziale Umfeld zuhause?
Wir finden eine höhere Sensitivität bei Kindern, die ein eher schwieriges Umfeld erlebt haben – als auch bei Kindern, die ein speziell positives Umfeld haben. Die Kinder im Mittelfeld sind seltener hochsensibel.
Spannend! Womit hängt das zusammen?
Das hat evolutionstheoretische Gründe. Die "Biological Sensitivity of Context"-Theorie von Boyce und Ellis besagt, dass in einem negativen Umfeld die hohe Sensibilität von Vorteil ist, weil Kinder dann eher Gefahren erkennen. Und von einem besonders positiven Umfeld profitieren Kinder nur dann, wenn sie dafür auch empfänglich, also sensibel, sind – also alles aufsaugen, so wie eine Pflanze die vielen Nährstoffe aus einem guten Boden. In einer neutralen Umgebung scheint Sensitivität aus evolutionstheoretischer Perspektive keinen besonders grossen Vorteil zu haben, weshalb sie auch nicht stark ausgeprägt ist.
"Hochsensible Kinder, die in einem positiven Umfeld aufwachsen, sind im Erwachsenenalter sogar resilienter"
Gibt es auch Studien dazu, wie sich hochsensible Kinder im Erwachsenenalter entwickeln?
Ja – und das finde ich höchst spannend: Hochsensible Kinder, die in einem positiven Umfeld aufwachsen, sind im Erwachsenenalter sogar resilienter als weniger sensible Kinder, weil sie mithilfe ihrer Bezugspersonen Coping-Strategien fürs Leben entwickeln konnten. Sie kennen sich und ihre Bedürfnisse gut und wissen, wie sie mit Herausforderungen am besten umgehen. Hochsensible Kinder wiederum, die in einem eher negativen Umfeld aufwachsen, sind im Erwachsenenalter weniger resilient als andere.
Die Kindheit fällt bei hochsensiblen Menschen also besonders stark ins Gewicht?
Hochsensible Menschen werden stärker von ihrer Kindheit beeinflusst als andere – zu diesem Ergebnis kommen gleich mehrere Studien. Für hochsensible Kinder ist eine positive Kindheit also absolut entscheidend. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Eltern überhaupt wissen, ob ihr Kind hochsensibel ist – um dann ein optimales Umfeld bieten zu können.
Da werden sich viele Eltern nun ganz besorgt fragen: Wie sieht so ein "optimales Umfeld" denn aus?
Gemäss unserer Forschung ist ein optimales Umfeld keines, in dem die Eltern dem Kind alles erlauben, was es machen will. Sondern es braucht klare Strukturen, eine klare Linie, etablierte Routinen – das gibt den Kindern Halt. Und gleichzeitig sollten die Eltern emotional verfügbar sein und gut auf das Kind eingehen können.
Was bedeutet das konkret?
Wichtig ist, zu verinnerlichen und zu akzeptieren, dass mein Kind einfach ein bisschen anders funktioniert. Wenn Eltern von der Hochsensibilität ihres Kindes wissen, können sie vieles schon im Voraus abfedern.
Haben Sie Beispiele?
Wenn das Kind beispielsweise an einem hochstimulierenden Ort mit vielen Eindrücken und Lärm ist, sollte man es nach einer gewissen Zeit wieder rausnehmen, damit es sich erholen kann – selbst wenn es im Moment noch einen prima Eindruck macht. Oder wenn man weiss, dass der Wechsel vom Kindergarten in die Schule ansteht, ist es wichtig, das Kind emotional gut darauf vorzubereiten – und ihm bei der Umgewöhnung auch viel Zeit zuzugestehen. In der Schule zeigt sich oft, dass hochsensible Kinder alles richtig machen wollen und sich vor Prüfungen mehr Sorgen machen – wenn Eltern das wissen, können sie das Kind bei der Stressbewältigung besser unterstützen, indem sie mit dem Kind darüber reden oder ihm auch bestimmte Atemtechniken zur Beruhigung zeigen. Oder wenn das hochsensible Kind kränklich ist oder schlecht geschlafen hat, wissen die Eltern: Heute sind ganz besondere Rücksichtnahme und Einfühlungsvermögen gefragt.
"Wenn man dem Kind gibt, was es braucht, dann braucht es mit der Zeit immer weniger"
Klingt plausibel, aber auch ganz schön anstrengend. Verlangt der Alltag mit einem hochsensiblen Kind Eltern besonders viel ab?
Hochsensible Kinder haben stärkere Emotionen, das heisst, es benötigt auch mehr Effort von den Eltern, dem Kind dabei zu helfen, seine Emotionen zu regulieren. Das kann durchaus kräftezehrend sein. Aber das Kind braucht halt, was es braucht. Besonders anstrengend wird es mit kleinen Kindern ja eigentlich vor allem dann, wenn deren Bedürfnisse nicht gestillt werden, es also zu fortwährendem Jammern oder grösseren Gefühlsausbrüchen kommt.
Heisst?
Statt darüber frustriert zu sein, dass das Kind so ein "Drama" macht, profitieren schlussendlich alle, wenn die Bedürfnisse des Kindes, so übertrieben sie vielleicht manchmal auch scheinen mögen, gestillt werden. Was helfen kann, ist, sich an besonders anstrengenden Tagen zu sagen: Wenn man dem Kind gibt, was es braucht, dann braucht es mit der Zeit immer weniger. Wenn wir viel investieren, können sie sich wunderbar eigenständig und resilient entwickeln.
"Eltern neigen heutzutage ohnehin schon oft dazu, ihrem Kind jegliche Herausforderungen aus dem Weg zu räumen"
Wie gehe ich auf die besonderen Bedürfnisse meines hochsensiblen Kindes ein – ohne es zu verhätscheln?
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Denn Eltern neigen heutzutage ohnehin schon oft dazu, ihrem Kind jegliche Herausforderungen aus dem Weg zu räumen, weil sie ihm keine unangenehmen Gefühle zumuten wollen. Bei Eltern von hochsensiblen Kindern besteht diese Gefahr umso mehr, denn ihre Kinder neigen selbst dazu, manche Situationen lieber ganz vermeiden zu wollen. Aber wir Eltern müssen unsere Kinder auf die Realität vorbereiten – auf die Welt, wie sie ist.
Wie kann das gelingen?
Die zentrale Frage ist nicht: Wie vermeide ich herausfordernde Situationen für mein Kind? Sondern: Wie kann ich ihm dabei helfen, die Herausforderung zu bewältigen? Durch positive Erfolgserlebnisse können hochsensible Kinder widerstandsfähig werden und Selbstwirksamkeit entwickeln. Allgemein kann man sagen: Alles, was für Kinder schädlich ist, ist speziell schädlich für hochsensible Kinder. Und alles, was grundsätzlich gut ist für Kinder, ist für hochsensible Kinder ganz besonders gut.

Michael Pluess ist ein Schweizer Entwicklungspsychologe und Professor an der University of Surrey in England. Er forscht seit über 15 Jahren zu Hochsensibilität bei Kindern.
Auf der Website sensitivityresearch.com/de, die er mitverantwortet, werden Hochsensibilitäts-Tests für Kinder und Erwachsene angeboten. Ausserdem können professionelle individuelle Abklärungen auf Englisch gebucht werden.