Familie
«Eltern sollten ihre Kinder wissen und spüren lassen, dass sie in dieser Situation für sie da sind»
- Text: Sarah Lau; Illustration: Ramona Ring; Bild: ZVG, GettyImages
Wann Eco Anxiety und Corona-Angst ein Fall für die Psychotherapie sind und welche Krankheiten der Klimawandel der Schweiz noch bescheren wird, weiss niemand besser als die Ärztinnen und Pflegefachleute. Wir sprachen mit Julia Bucher, Fatimah Saehrendt, Netty Fabian und Maya Cosentino, die sich allesamt im Netzwerk One Health Alliance Switzerland für den Klimaschutz engagieren.
annabelle: Wann wurden Sie das erste Mal mit Eco Anxiety konfrontiert?
Julia Bucher: Als meine jüngste Tochter – sie ist jetzt 15 – mir nach einer Klima-Demo in Genf eröffnete, dass sie keine eigenen Kinder mehr in die Welt setzen will. Aus Sorge und Betroffenheit um den Planeten legte sie eine vollkommen fatalistische Haltung an den Tag, und ich dachte nur: Das kann doch jetzt nicht wahr sein, dass mein Kind keine Hoffnung mehr hat. Den Begriff selbst habe ich erst sehr viel später gehört.
Netty Fabian: Ich bin sehr aktiv in der Klimabewegung und bin dort mit dem sogenannten Aktivist*innen-Burnout konfrontiert worden. Eine Form der Erschöpfungsdepression, bei denen Klimakämpferinnen und -kämpfer mit dem Gefühl zusammenbrechen, trotz grossen Einsatzes nichts bewirken zu können.
Fatimah Saehrendt: Wobei man aufpassen muss, Eco Anxiety nicht als Diagnose anzusehen. Es ist ja nichts Pathologisches, sondern eher eine ganz gesunde Reaktion. Wir alle sollten Angst ob der erschreckenden Prognosen und Realitäten haben – nicht zuletzt, weil genau diese Angst schliesslich der erste Schritt ist, um zu handeln.
Werden Menschen, die von sich sagen, unter Eco Anxiety zu leiden, hierzulande ernst genommen?
Bucher: Ich habe bereits jugendliche Patienten und Patientinnen mit Klimaangst. Teilweise konnten diese Kinder nicht mehr zur Schule gehen und mussten neben Gesprächstherapie auch mit Medikamenten behandelt werden.
Warum sind junge Menschen im Auge zu behalten?
Maya Cosentino: Jugendliche stecken in einer vulnerablen Lebensphase, in der sie sich entscheiden müssen, welchen Weg sie einschlagen. Der Schritt in die Erwachsenenwelt aber wird ihnen massiv erschwert, wenn sie kaum Zukunftsperspektiven mehr haben. Das kann enormen Stress auslösen und zum Beispiel in einer Depression münden.
Es wird erwartet, dass die Covid-19-Pandemie auf breiter Ebene massive psychische Probleme auslösen wird. Konnten Sie das in Ihrer Praxis bereits beobachten?
Saehrendt: Tatsächlich habe ich schon Anfragen wegen psychosomatischer Probleme zu diesem Thema: Bauchschmerzen, Einnässen und generelle Unruhe. Dies sind Reaktionen auf eine ungewisse Situation, in der viele Kinder merken, dass auch die Eltern unsicher und ängstlich sind. Ich beobachte, dass ältere Kinder sich ganz konkrete Sorgen um die Gesundheit gefährdeter Verwandter und Freunde machen, beispielsweise der Grosseltern oder chronisch kranker Freunde.
Wie können wir Eltern unsere Kinder auffangen?
Cosentino: In Zeiten von Verunsicherung und Angst ist es wichtig, dass Eltern ihren Kindern Offenheit, Klarheit und Verlässlichkeit vermitteln. Anzusprechen, was gerade passiert und dass dies verunsichernd sein kann, ist wichtig. Genauso wichtig ist es, Kinder wissen und spüren zu lassen, dass die Eltern in dieser herausfordernden Situation für sie da sind. Eltern sollten ihre Kinder fragen, was sie schon über die Covid19 Pandemie und den Umgang damit verstanden haben, und können dann ergänzende Informationen vermitteln. Die Information sollte natürlich fundiert sein und dem Alter und der Reife des Kindes entsprechen. Auch etwas tun zu können, zum Beispiel neue Tagesstrukturen entwickeln und leben, Hygienemassnahmen beachten und Physical Distancing praktizieren, ist eine sehr gute Strategie, um Unsicherheit und Sorgen zu reduzieren.
«ELTERN SOLLTEN IHRE KINDER
WISSEN UND SPÜREN LASSEN,
DASS SIE IN DIESER SITUATION
FÜR SIE DA SIND.»
Ob Klima oder Corona-Angst: Wie merke ich, dass meine Hilfe nicht ausreicht und mein Kind psychologische Unterstützung braucht?
Cosentino: Ich würde dann zu einer psychotherapeutischen Unterstützung raten, wenn die Ängste das Kind beziehungsweise die Familie in ihrem Alltag einschränken und/oder wenn die Eltern sich im Umgang mit den Ängsten ihres Kindes überfordert fühlen. Es ist auch wichtig zu wissen, dass Ängste bei Kindern sich sehr unterschiedlich ausdrücken können. Übelkeit, Bauch und Kopfschmerzen, Herzklopfen, schnelles Atmen, Schwitzen, Schlafstörungen, sogar das Verlernen erworbener Fähigkeiten wie Sprache oder Sauberkeit ist möglich. Dazu noch Anhänglichkeit, Wutanfälle, sozialer Rückzug.
In Grossbritannien entwickelt die Climate Psychology Alliance zusammen mit Greenpeace Schulprogramme, um die Klima-Angst bei Kindern aufzufangen. Wie sieht es mit unserem Bildungssystem aus?
Bucher: Die Umwelt steht natürlich auch auf dem Lehrplan, es ist aber sehr unterschiedlich, was die Lehrenden daraus machen. In Zeiten, in denen Schule wieder stattfinden kann, fände ich es sinnvoll, mehr draussen zu unterrichten und beispielsweise Biologie, Physik und Chemie anhand von Naturerlebnissen zu studieren. Nicht reine Wissensvermittlung und Karrierevorbereitung, sondern Kinder, die sich kreativ an neue Gegebenheiten anpassen können, sind künftig gefragt. Teachers for Future setzen sich ja auch bereits genau dafür ein. Ich selbst habe mit Rektoren gesprochen, um mehr Waldbesuche anzuregen. Kinder, die sich als Teil der Natur verstehen, werden die Ersten sein, die an ihrer Schule ein Plastikbecher-Verbot durchsetzen.
Es gibt ja immer noch Menschen, die es schaffen, die Klimakrise zu leugnen oder zumindest zu relativieren. Nun wollen wir dem inhaltlich keinen grossen Raum geben. Lieber frage ich Sie, ob Sie hier in der Schweiz Patientinnen haben, deren Erkrankungen in klarem Zusammenhang mit der Klimakrise stehen?
Bucher: Aber ja! Natürlich ist ein einzelnes Extremwetterereignis nicht gleich der Klimakrise zuzuordnen. Die Häufung solcher Ereignisse dagegen schon. Und darauf müssen wir gefasst sein. Der erste Hitzesommer in Europa 2003 forderte 70 000 Tote, davon 1000 in der Schweiz und auch im letzten Hitzesommer 2018 gab es hierzulande Tote. Ab 37 Grad wird es unangenehm und schwierig, über 40 indes tödlich. Wenn mir Kollegen sagen, ach, das betrifft doch nicht meine Patientinnen, kann ich nur entgegenhalten: Und ob! Besonders alte Leute, die medikamentös ihren Blutdruck senken, muss man instruieren, mehr zu trinken oder ihre blutdrucksenkenden Tabletten zu halbieren, damit sie an Hitzetagen keinen Kollaps erleiden.
Saehrendt: Das Thema betrifft übrigens auch nicht nur ältere Menschen, es gibt ja auch ein Zusammenspiel von Hitze und einer Zunahme von Aggressivität und selbst Suiziden.
Bucher: Es gibt Studien, die zeigen, dass an heissen Tagen mehr Leute psychiatrisch eingeliefert werden, dazu kommen noch die Diabetes und HerzKreislaufPatientinnen und Patienten. Ein weiteres Beispiel ist die Zunahme der von Allergien Betroffenen. Ich selbst hatte dieses Jahr bereits im Januar meine erste allergische Asthma-Patientin.
Bitte erläutern Sie den Zusammenhang mit der Klimakrise.
Bucher: Auch in der Schweiz verändern sich aufgrund der Erderwärmung die Temperaturen. Das wiederum zieht längere Blütezeiten, neue Pflanzen, mehr Pollen und entsprechend mehr allergisch erkrankte Menschen nach sich. Fossile Brennstoffe generieren Stickoxide und Feinstaub, die wiederum Atemwegs-sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen. Die Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die auf die Luftverschmutzung zurückzuführen sind, kosten uns durchschnittlich zwei Lebensjahre.
Cosentino: Hohe Temperaturen führen auch zu mehr landwirtschaftlichen beziehungsweise Ammoniak-Emissionen aus der Gülle. Ammoniak in der Atmosphäre reagiert zu Salzen, woraus Feinstaubpartikel entstehen, die für viele vorzeitige Todesfälle verantwortlich sind. Es wurde 2017 geschätzt, dass eine 50-prozentige Reduktion der Ammoniak-Emissionen in Europa rund 50 000 Todesfälle pro Jahr verhindern könnte.
Nun haben wir gesundheitlich gerade mit einer Pandemie zu kämpfen, die die Sorge um Allergien beiseiteschiebt. Wissenschafter aber setzen Covid-19 in Zusammenhang mit dem Raubbau an der Natur und der Globalisierung. Wo sehen Sie Parallelen zwischen den Krisen, wo die Unterschiede?
Cosentino: Covid-19 ist eine sogenannte Emerging Zoonotic Disease, also eine Erkrankung, die vom Tier auf den Menschen übertragen wird, neu auftaucht bezierhungsweise plötzlich in grosser Fallzahl auftritt. Die Covid-19-Pandemie und der Klimawandel stellen beide eine globale, grenzüberschreitende Herausforderung dar, welche kollektives Handeln und vor allem Prävention erfordert. In diesen Tagen wird uns auf drastische Weise bewusst, dass «Business as usual» keine Option ist – aber auch, wie wichtig solidarisches Handeln ist. Ein Unterschied zwischen den beiden Krisen ist sicherlich, dass die Auswirkungen von Covid-19 auf die Gesundheit im zeitlichen Zusammenhang viel sichtbarer sind als die des Klimawandels. Das bedeutet aber nicht, dass der Klimawandel weniger gefährlich ist.
«IN DIESEN TAGEN
WIRD UNS AUF DRASTISCHE
WEISE BEWUSST, DASS
BUSINESS AS USUAL
KEINE OPTION IST.»
Corona legt die Weltwirtschaft und den Verkehr lahm, die Natur atmet auf und weltweit reagieren Regierungen so radikal, wie es sich vielleicht viele in der Klima-bewegung wünschen. Worin liegt jetzt die Chance? Was wünschen Sie sich konkret für die Zukunft von der Schweizer Regierung?
Saehrendt: Zum einen muss massiv in die Energiewende investiert werden. Um die Alternativenergie-Wirtschaft zu stärken und hier neue Arbeitsplätze zu schaffen. Darüber hinaus brauchen wir Regeln für einen klimafreundlichen Finanzsektor. Denn die Gelder, die über den Schweizer Finanzplatz globale Aktivitäten finanzieren, haben einen grossen Einfluss auf das Klima.
Fabian: Der Umbau der Landwirtschaft muss gefördert werden, hin zu einer regionalen, suffizienten, vielfältigen Produktion und weg von der industriellen Massentierhaltung, die auf importierte Futtermittel angewiesen ist. Und eine masslose Unterstützung klimaschädigender Unternehmen sollte vermieden werden.
Saehrendt: Grundsätzlich sind das alles Forderungen, die wir nicht nur an die Schweizer Regierung und Wirtschaft richten. Da die Klimakrise wie die Covid-19-Pandemie eine globale Krise ist, sind auch wirksame globale Massnahmen nötig. Dabei kann die Schweiz als reiches und hochtechnologisches Land eine Vorbildrolle einnehmen.
1.
arbeitet seit 2016 als Hausärztin in Liebefeld (BE). Sie promovierte an der Universität Bern und ist Mitglied der FMH Allgemeine Innere Medizin. Neben ihrem Engagement bei der OHA gründete Bucher nach einem Praktikum im Spital von Gondar, Äthiopien, die Stiftung Soleil d’Afrique.
2.
ist Fachärztin für Kinderheilkunde und Jugend-medizin (FMH) mit Praxis in Thun BE. Sie promovierte am Institut für Klinische Chemie und Biochemie der Charité Berlin und ist u. a. qualifizierte Asthma- und Neurodermitis-Trainerin sowie im Vorstand der Lungenliga Berner Oberland.
3.
ist Ärztin und bildet sich derzeit zur Kinder- und Jugendpsychiaterin aus. Sie erwarb ihren Bachelor- Abschluss in Psychologie und Neurowissenschaften am St. Mary’s College of Maryland, USA, wo sie mit Auszeichnung abschloss. Zudem ist sie Mitglied im Think Tank 30 – der junge Think Tank des Club of Rome Deutschland.
4.
machte 2003 ihren Bachelor of Science (Child Health Nursing) am Royal College of Nursing in London. Lange arbeitete sie als Pflegeexpertin am Universitäts-Kinderspital Basel. Derzeit widmet sie sich ihrem zivil-gesellschaftlichen Engagement als Klimaaktivistin und Psychoedukatorin.