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Dina Hediger: «Eltern von Frühgeborenen sind sehr anfällig dafür, depressiv zu werden»

Familie

Dina Hediger: «Eltern von Frühgeborenen sind sehr anfällig dafür, depressiv zu werden»

Heute, am 17. November, findet der Weltfrühgeborenentag statt. Dina Hediger – selbst Mutter von frühgeborenen Zwillingen – hat 2022 die Organisation «Frühchen Schweiz» gegründet. Wir haben sie zum Gespräch getroffen.

annabelle: Frau Hediger, wieso braucht es einen Weltfrühgeborenentag?
Dina Hediger: Weltweit kommt jedes zehnte Baby zu früh zur Welt; Frühchen sind die grösste Patientengruppe unter Kindern. Dennoch fühlen sich viele Eltern mit dem Thema allein gelassen. Der Tag ist eine Gelegenheit, um darauf aufmerksam zu machen, dass diese Familien Unterstützung benötigen. Für so viele Krankheiten gibt es Kampagnen und Plakate, um ein Bewusstsein für sie zu schaffen – doch obwohl in der Schweiz pro Jahr über 6000 Kinder zu früh zu Welt kommen, gab es für Frühgeborene hier nie etwas Vergleichbares.

Sie haben zu diesem Zweck die Organisation «Frühchen Schweiz» gegründet. Wie kam es dazu?
2018 war ich schwanger, mein Mann war gerade in den Ferien. Ich weiss noch, wie ich zu ihm gesagt habe: Mach doch diese Reise, es ist noch so viel Zeit. Dann platzte meine Fruchtblase, ich wurde mit der Ambulanz ins Spital gebracht. Meine Zwillinge kamen 14 Wochen zu früh zur Welt, sie wogen je etwa 900 Gramm. Acht Wochen verbrachten sie auf der Intensivstation, insgesamt waren sie 15 Wochen im Spital. Niemand stellt sich die ersten Tage seines Kindes so vor: Es liegt in einem Inkubator, vielleicht muss es reanimiert werden, braucht Operationen, kriegt Antibiotika. Pro Zimmer gibt es im Spital vier Inkubatoren – das bedeutet, du lernst die anderen Eltern sehr schnell kennen. Bereits in diesen Wochen spürte ich, dass ich ein grosses Bedürfnis hatte, mich mit ihnen auszutauschen. Es beruhigte mich, zu wissen, dass ich nicht allein war. Und so habe ich im vergangenen Jahr die Organisation «Frühchen Schweiz» gegründet.

Was sind Ihre Anliegen?
Wir arbeiten eng mit unterschiedlichen Neonatologie-Stationen der Schweiz zusammen. Mit diesen erarbeiten wir Broschüren zu Themen, die Frühgeborene betreffen. Das trägt auch dazu bei, dass sich die Stationen untereinander mehr austauschen und zusammenarbeiten. Wir versuchen, Infos möglichst verständlich zu vermitteln– denn wenn du mit deinem kranken Baby auf der Intensivstation bist, hast du keine Nerven, 40 Seiten Fachjargon zu lesen. Du brauchst eine Übersicht. Und du brauchst jemanden, der dir Mut zuspricht. Deshalb vernetzen wir Eltern von Frühgeborenen miteinander, sodass sie ihre Geschichten austauschen können. Ich mache ausserdem jede zweite Woche einen Besuch im Inselspital Bern und spreche dort mit Eltern.

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«Wenn der Monitor und die Ärzt:innen plötzlich weg sind, kann das Angst machen»

Worüber reden Sie mit ihnen?
Ich bin für die Eltern eine niederschwellige Ansprechperson, sie können mir ihre Sorgen und Ängste mitteilen, und wenn ich etwas Ähnliches erlebt habe oder einen guten Rat weiss, dann gebe ich das weiter. Es gibt viele Unsicherheiten bei Eltern von Frühgeborenen, auch viele Schuldgefühle. Sie stehen unter grossem Stress, und alle Themen, die Eltern eh schon herausfordern, sind noch viel stärker aufgeladen – das Stillen beispielsweise.

Das heisst, Sie möchten Mut zusprechen und den Eltern Schuldgefühle nehmen?
Mehr noch als das – wir wollen die Eltern eng begleiten und so davor schützen, in eine Depression zu fallen. Vorstudien haben gezeigt, dass Eltern von Frühgeborenen sehr anfällig dafür sind, depressiv zu werden. Deswegen ist es auch nach der Zeit im Spital wichtig, dass sie sich nicht allein gelassen fühlen. Häufig geht man davon aus, dass die Eltern von Frühchen nach der Zeit im Krankenhaus für alles gewappnet sind, dass sie sich mit ihrem Baby bestens auskennen. Dass sie wahnsinnig stark und resilient sind, wenn das Kind erstmal aus akuter Lebensgefahr heraus ist. Dabei ist das Gegenteil der Fall.

Inwiefern?
Die Eltern haben etwas Traumatisches erlebt, sie sind vulnerabel. Und: Ihr Kind war während seiner ersten Lebenswochen unter ständiger medizinischer Beobachtung, ein Monitor verzeichnete jeden seiner Atemzüge. Wenn der Monitor und die Ärzt:innen plötzlich weg sind, kann das Angst machen. Die Eltern denken: Was, wenn jetzt etwas passiert? Wer ist jetzt noch da? Zudem müssen sie das Erlebte selbst verarbeiten.

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«Für Frühgeborene wäre es gemäss aktueller Studien ideal, wenn die Eltern bei ihnen im Spital übernachten könnten»

Sind die Schweizer Spitäler gut ausgestattet, was die Pflege und die Betreuung von Frühchen angeht?
Ja, die Pfleger:innen und Ärzt:innen leisten grossartige Arbeit. Die Eltern werden auf den Stationen als Teil des Teams gesehen – nicht als Gäste, die ab und zu am Bett stehen. Zum Beispiel, indem man die sogenannte Känguru-Methode so oft und so früh wie möglich praktiziert. Damit ist gemeint, dass man das Baby mehrmals täglich aus dem Inkubator nimmt und auf die nackte Brust des Vaters oder der Mutter legt. Das stärkt die Bindung.

Was sollte sich für Frühchen und ihre Familien noch verbessern – auf medizinischer, aber auch auf politischer Ebene?
Für Frühgeborene wäre es gemäss aktueller Studien ideal, wenn die Eltern bei ihnen im Spital übernachten könnten. Sie brauchen alle Nähe, die sie bekommen können. Im Moment sind die Spitäler nicht so gebaut, dass das möglich ist. Das wird aber kommen, wenn die Gebäude renoviert werden. Politisch gesehen muss sich für Familien in der Schweiz sowieso einiges ändern. In Bezug auf Frühchen: Der Mutterschaftsurlaub sollte dann beginnen, wenn das Kind aus dem Spital heimkommt. Bei mir beispielsweise war der Urlaub theoretisch aufgebraucht, als ich meine Zwillinge nach Hause nehmen konnte. Das ist absurd. Und liesse sich leicht ändern.

Sprechen Sie mit Ihren eigenen Kindern über diese Erfahrung, über den Beginn ihres Lebens?
Unsere Zwillinge sind jetzt fünf Jahre alt, sehr munter und stellen viele Fragen zu ihrer Geburt. Aber wenn wir ihnen Bilder von ihnen als Babys zeigen, wie sie im Inkubator lagen, macht ihnen das Angst. Wir sagen dann: Da ging es dir schlecht, aber die Leute haben sich gut um dich gekümmert. Jetzt geht es dir besser. Es ist mir wichtig, sie nicht auf dieses Erlebnis zu reduzieren – aber es als ein Teil von ihnen zu sehen, der kein Tabu ist.

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