Autorin Nora Imlau: «Mütter machen sich unverzichtbar – bis sie nicht mehr können»
- Text: Marie Hettich
- Bild: Nessi Gassmann
Mütter sollten gar nicht erst versuchen, alles alleine zu stemmen, sagt die Bestseller-Autorin Nora Imlau. Nötig sei zwar nicht gleich ein ganzes Dorf, um seine Kinder zu erziehen, aber ein gutes Bindungsnetzwerk.
annabelle: Nora Imlau, in Ihrem neuen Buch plädieren Sie dafür, das Wort «Fremdbetreuung» aus unserem Wortschatz zu streichen. Warum?
Nora Imlau: Der Begriff wurde während des Kalten Kriegs in Westdeutschland geprägt, um das Krippenbetreuungsmodell in der DDR abzuwerten. Damit wurde suggeriert: Die Mütter lassen ihre armen Kinder bei Fremden! Auch wenn wir heute behaupten, wir würden das Wort neutral verwenden, kann es das gar nicht sein. Ausserdem ist eine Erzieherin, die unser Kind regelmässig in den Schlaf wiegt, keine «Fremde», sondern im Idealfall eine wertvolle Bindungsperson. Wenn hingegen die eigene Mutter drei Mal im Jahr anreist und auf unser Kind aufpasst, würden wir nie von Fremdbetreuung sprechen.
Nun ja, die eigene Mutter ist uns auch bestens bekannt.
Natürlich, für das Kind ist die Grossmutter trotzdem erst einmal eine Unbekannte. Worauf ich hinaus will: In dem, wie wir über Kinderbetreuung sprechen, steckt viel Wertung. Familie ist in unserer Gesellschaft immer etwas Gutes – und bezahlte Arbeitskräfte sind immer nur die Betreuer:innen zweiter Klasse. Das ist schlichtweg falsch. Unsere Kinder können, je nachdem, bei einem Babysitter oder der Tagesmutter deutlich besser aufgehoben sein als bei der Tante oder dem Grossvater. Ich plädiere für Begriffe wie «familienergänzende Betreuung» oder schlicht «Kleindkindbetreuung».
Auch, um dem schlechten Gewissen entgegenzuwirken, das viele Mütter haben, wenn sie ihr Kind morgens in der Kita abgeben?
Ja! Es gibt Mütter, die von sich selbst als «Teilzeit-Mütter» sprechen, weil sie erwerbsarbeiten gehen. Das ist absurd – wir sind ja immer Mütter, auch wenn wir unser Kind gerade nicht durch die Gegend tragen. Dieses gesellschaftliche Bild von der guten Mutter, die ihre Kinder nicht aus der Hand gibt, sitzt einfach zu tief. Ich bin selbst in die Falle getappt, als vor 16 Jahren unser erstes Kind zur Welt kam.
In welche Falle?
Ich hätte das nie so ausgesprochen, und doch bin ich davon ausgegangen, dass ich für unser Kind quasi unersetzlich wäre. Dabei zeigt die moderne Bindungsforschung ganz klar: Nicht die leibliche Mutter ist per Definition die Hauptbindungsperson für das Kind – sondern schlicht die Person, die sich mehrheitlich um das Kind kümmert. Das kann genauso gut der Vater oder die Co-Mutter sein. Nach einigen Jahren, in denen ich den Löwenanteil der Familienarbeit gestemmt hatte, war ich tief erschöpft – während sich im Leben meines Mannes mit der Geburt unseres Kindes viel weniger verändert hatte. Es ist ein Teufelskreis: Weil ich anfangs so viel Zeit mit dem Baby verbrachte, konnte ich dessen Bedürfnisse tatsächlich irgendwann besser lesen als er. Ich wurde zur Familienmanagerin. In diese Falle tappen nahezu alle Mütter, die ich kenne. Sie machen sich unverzichtbar – bis sie nicht mehr können.
«Mit einem permanent gestressten Gegenüber machen Kinder unsichere Bindungserfahrungen»
Bei einem zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub bleibt den Müttern hierzulande fast nichts anderes übrig.
Ein Skandal! Ich sehe das so: Die Gesellschaft profitiert von jedem Kind, das geboren wird. Deshalb hat sie die Pflicht, Eltern zu entlasten. Das ist keine Privatsache, sondern eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. In die Familienpolitik zu investieren, lohnt sich auch rechnerisch: Zum Beispiel würden deutlich weniger Mütter aufgrund einer Wochenbettdepression oder wegen einer Psychose behandelt werden müssen, da bin ich mir sicher.
Haben Sie und Ihr Mann damals konkret etwas verändert?
Wir führen seitdem regelmässig Gespräche darüber, was in der Familie gerade anfällt – an praktischer Arbeit, aber auch an gedanklicher Arbeit, an Mental Load. Und ich habe gesamte Teilbereiche unseres Familienlebens an ihn abgegeben. Für alle Vorsorgeuntersuchungen unserer vier Kinder ist zum Beispiel er zuständig. Ich trage weder die Verantwortung, ob sie durchgeführt werden, noch wann, noch wo das Untersuchungsheft ist. Das entlastet enorm.
Im Buch zitieren Sie eine Studie des Schweizer Kinderarztes Remo Largo, die aufzeigt, wie sehr die Mutter-Kind-Beziehung leidet, wenn Mütter konstant überlastet sind.
In der Studie wurden Mütter aus dem Kanton Zürich begleitet, die fünf Jahre aus dem Beruf ausgestiegen sind und ihr Kind erst mit der Pflicht in die Vorschule abgegeben haben. Die meisten Mütter entwickelten in der Zeit starke depressive Symptome – und waren in der Folge weniger feinfühlig gegenüber ihren Kindern. Mit einem permanent gestressten und überforderten Gegenüber machten diese unsichere Bindungserfahrungen: Ist Mama nun für mich da oder nicht? Warum geht es ihr so schlecht – liegt das etwa an mir?
«Es heisst immer, Mütter müssten sich entscheiden: Was ist mir wichtiger – das Wohl meines Kindes oder mein eigenes?»
Da meint die Mutter, das Beste für ihr Kind zu tun – und schlussendlich geht es beiden nicht gut?
Es heisst immer, Mütter müssten sich entscheiden: Was ist mir wichtiger – das Wohl meines Kindes oder mein eigenes? Dabei funktioniert diese Trennung nicht, die Kinder sind so eng an uns gekoppelt. Es ist sehr gut nachgewiesen, dass die familienergänzende Kinderbetreuung die Bindungsqualität zwischen Eltern und Kind nicht verschlechtert, sondern sie teilweise sogar verbessert, weil sie Druck aus dem ganzen System nimmt. Wir Eltern brauchen Unterstützung von aussen, um unseren Tank immer wieder aufzufüllen – in welcher Form auch immer.
Also braucht es das sagenumwobene Dorf, um ein Kind grosszuziehen?
Absolut! Ich spreche allerdings lieber von einem Bindungsnetz. Das Dorf klingt so, als müssten alle vor Ort sein und sich ständig gegenseitig unter die Arme greifen. Das ist utopisch – und gab es so auch nie.
Woraus besteht so ein Bindungsnetz?
Zum Bindungsnetz gehören alle, die der Familie das Leben leichter machen. Und das ist völlig individuell – Familien sind so unterschiedlich wie es wir Menschen sind. Das kann ein Vater aus der Nachbarschaft sein, mit dem ich abwechselnd die Kinder zum Turnen fahre. Oder die Schwester, mit der ich einmal die Woche facetime und wir zusammen den Alltag hinter uns lassen. Oder der nette Berater in einer Familienberatungsstelle, der mir ab und zu hilft, meinen Kopf zu sortieren. Und zusätzlich muss man sagen: Leider spielt auch Geld eine grosse Rolle.
Nämlich wie?
Ich kenne Familien, die sich so ein Netz fast nur aus Dienstleistenden bauen. Da kommt die Doula mit zur Geburt, die Haushaltshilfe putzt die Wohnung, der Babysitter übernimmt das Kind und der Delivery Service bringt das Essen. Daran ist nichts verkehrt. Verkehrt ist nur, dass sich hochbelastete Familien oder Alleinerziehende meist überhaupt nichts davon leisten könnten – diese Unterstützung aber umso dringender bräuchten.
Nora Imlau ist Buchautorin, Journalistin und Referentin mit Fokus auf das Thema Familie. Ihre Ratgeber landen regemässig in der Spiegel-Bestsellerliste. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Süddeutschland.
Ihre zwei neusten Bücher heissen «In guten Händen: Wie wir ein starkes Bindungsnetz für unsere Kinder knüpfen» und «Meine Grenze ist dein Halt: Kindern liebevoll Stopp sagen».