Gesundheit
Expertin über Dopamin: «Heutzutage darf keine Langeweile aufkommen»
- Text: Franziska Wolffheim
- Bild: Stocksy
Wir sind heute vielen Reizen ausgesetzt, sagt Neurologin Heike Melzer. Wie man lernt, Verlockungen auch mal links liegen zu lassen.
annabelle: Heike Melzer, in Ihrem Buch «Versteckte Köder» schreiben Sie über die unzähligen Anreize für schnelle Befriedigung, denen wir im Alltag ausgesetzt sind, insbesondere auch durchs Internet. Wo überall orten Sie solche Köder?
Heike Melzer: Sie sind eine gängige Praxis der Konsumgesellschaft. Man findet sie im Supermarkt oder in Kleiderläden mit Aktionsangeboten, beim Online-Shopping beispielsweise durch die Info: «Nur noch wenige Exemplare an Lager» oder in Computerspielen, wo uns virtuelle Beutekisten locken, die mit ihrem Inhalt das Spiel vorantreiben und oft Geld kosten.
Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir einen solchen Köder schlucken, etwa eine Beutekiste im Computerspiel kaufen?
Das Belohnungssystem wird aktiviert und der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet. Unser Gehirn reagiert in diesem Moment noch wie zur Zeit unserer Vorfahren. Ohne die Existenz von Belohnungsreizen hätten wir uns nicht um unser Überleben gekümmert, uns Essen besorgt oder uns um unsere Fortpflanzung bemüht. Heute jedoch sind überall unzählige Stimuli vorhanden. Die Gefahr ist, dass wir durch diesen konstanten Reizstrom abstumpfen und in der Folge immer mehr davon wollen. So wird Überkonsum zur Gewohnheit, wodurch Abhängigkeiten entstehen können.
Lassen wir uns heute im Zeitalter des Internets stärker ködern als früher?
Die Reize, denen wir ausgesetzt sind, werden jedenfalls immer mehr und sie werden offensiver eingesetzt. Ich sehe in meiner Praxis immer mehr Menschen, die Verhaltenssüchte entwickelt haben. Heute ist unser Stresspegel sehr hoch. Etwa durch die Digitalisierung, die uns ständig erreichbar sein lässt. Und wir sehen eine Arbeitsverdichtung, viele müssen im Job immer mehr Aufgaben übernehmen, oft in weniger Zeit.
Aber wir Menschen sind doch auch Vernunftwesen. Zumindest besitzen wir theoretisch die Fähigkeit, unsere Impulse zu kontrollieren.
Ja, aber durch die Überflutung von Reizen wird der präfrontale Kortex geschwächt. Das ist ein Kontrollsystem im Gehirn, das direkt hinter der Stirn sitzt. Wenn er unter Dauerbeschuss steht, kann er nicht mehr zuverlässig gegen die vielen verlockenden Dopamin-Kicks anarbeiten. Sind wir angespannt und müde, ist er sogar noch stärker beeinträchtigt …
… und dann bestellen wir beim ziellosen nächtlichen Surfen online plötzlich eine teure Jacke, die wir gar nicht brauchen.
Genau. Ausreichend Schlaf stärkt dagegen den präfrontalen Kortex.
«Der präfrontale Kortex lässt sich trainieren wie ein Muskel»
Welche Strategien haben wir noch, um nicht jeden Köder zu schlucken?
Wir können zum Beispiel üben, Belohnungen aufzuschieben. Das bedeutet, dass wir uns ein positives Erlebnis nicht sofort holen, sondern bewusst abwarten. Hier ist wiederum der präfrontale Kortex im Spiel, der lässt sich nämlich trainieren wie ein Muskel.
Wie tut man das?
Bei den Essgewohnheiten etwa: nicht zwischendurch Schokoriegel oder Chips einwerfen, sondern sich auf das leckere Mittagessen freuen, das man später kochen will. Oder für eine lange Autofahrt ein paar Rüebli mitnehmen und erst später an einer Raststätte Halt machen. Am Anfang mag das schwerfallen, aber nach ein paar Wochen kann eine solche Verhaltensänderung zur Routine werden – wobei Rückfälle aber ganz normal sind.
Wie schaffen wir es denn, uns auf eine gute und gesunde Art belohnt zu fühlen?
Ein Beispiel aus meinem Leben: Ich lade gern Freunde und Freundinnen zum Essen zu mir ein, kaufe die Zutaten auf dem Markt, koche auch schon mal fünf Stunden lang, am liebsten vegetarisch. Ich erlebe dabei keine kurzen Dopamin-Kicks, sondern fühle mich nachhaltig gut. Man kann generell sagen, wenn alle unsere fünf Sinne positiv angesprochen werden, springt unser Belohnungssystem zuverlässig an, dann fühlen wir uns ruhig und zufrieden. Ausgelöst wird das durch wohldosierte, natürliche Reize. Um diese zu spüren, müssen sich viele erst wieder sensibilisieren. Ich rate, mal wieder im Park die Kopfhörer abzunehmen, den Blick in die Natur zu wenden, die Sonne auf der Haut zu spüren.
Viele Menschen leben heute schon umsichtiger, üben sich in Achtsamkeit und bewusstem Konsum. Zeichnet sich vielleicht bereits eine Trendumkehr ab?
Nun, die allgemeine Beschleunigung nimmt eher zu als ab, es gibt kaum Regulierungen, welche die Macht der Belohnungsreize eindämmen würden. Ich sehe da darum gerade noch keine Trendumkehr. Wir leben heute in einer Welt, in der keine Langeweile aufkommen darf, und vergessen dabei, dass Langeweile ein sehr gutes Mittel zur Entschleunigung ist. Wir müssen uns bewusst werden, dass unsere Aufmerksamkeit ein kostbares Gut ist, das viele Seiten kapern wollen. Je früher wir lernen, uns zu schützen, umso besser. Verhaltenssüchte können schleichend verlaufen, sich über Jahre hinziehen. Deshalb sind sie auch so gefährlich.
Heike Melzer (59) ist Neurologin und ärztliche Psychotherapeutin in München. Ihr Buch «Versteckte Köder. Die Macht der Belohnungsreize und wie wir uns davon befreien» ist 2024 im Hanser-Verlag erschienen.
Danke für diesen Beitrag deer mir persönlich sehr am Herzen liegt. es verhält sich leider auch so, dass man Menschen die versuchen ihr Leben mit Lebensqualität und Wohnqualität zu füllen. Den Reizüberflutungen aussetzt indem man auch an jeder Ecke die Menschen schon bespasen muss. es gibt sehr wenige Orte wo man seine Ruhe finden kann. Und hat man einen gefunden entsteht dort die nächste Lärmquelle und Bespasung. Traurig dass der Mensch dieses mittlerweile braucht. Und es kaum mehr Ruhezonen gibt. Die fördert man leider nicht.und dies Aktionen fördert auch der Staat. und dann wundert man sich wenn die Menschen sich im Verhalten ändern und auch mehr Psychotherapie brauchen.