Estée Lauder – Eine Frau, eine Botschaft

Vor vierzig Jahren engagierte Estée Lauder die US-Amerikanerin Karen Graham als Exklusivmodel für ihre Kosmetikmarke. Mit diesem Coup gab sie ihrer Firma ein starkes Image. Ab diesem Herbst verleihen neu gleich fünf Frauen der Marke ein unverwechselbares Gesicht.

Es war Mitte der Siebzigerjahre. Beim Durchblättern einer «annabelle» meiner Mutter fiel mir eine doppelseitige Kosmetikanzeige auf. Darauf waren zwei schwarzweisse Fotos einer Frau zu sehen: das eine ein Porträtfoto, das andere eine Ganzkörperaufnahme. Die Frau war wunderschön. Auf dem grossen Bild schreitet sie durch einen perfekt eingerichteten Salon und streift sich Handschuhe über. Im Salon sind chinesische Vasenlampen zu sehen, an den Wänden hängen beleuchtete Gemälde, und jedes Kissen und jeder Teppich im Raum passen perfekt und sind makellos. Das kleine Foto zeigt das wunderschön ebenmässige Gesicht der Frau, das von einem Tüllschleier leicht verdeckt wird und ebenfalls makellos erstrahlt. Obwohl ich, damals noch ein pubertierender Halbwüchsiger, keine Ahnung von Ästhetik hatte, faszinierte mich diese Anzeige. Lag es an der Schönheit der Frau, oder war es das perfekte Ambiente, in dem sie sich bewegte? Das Inserat stammte von einer Firma namens Estée Lauder und warb für Make-up.

Den Namen kannte ich, einige Produkte dieser Firma standen bei meiner Mutter im Badezimmer. Wochen später entdeckte ich eine weitere Anzeige. Wieder stand diese wunderschöne Frau in einem perfekten Ambiente. Dieses Mal war sie ganz in Weiss gekleidet, und auch das Interior war in Weiss gehalten. Der Steinboden, die Sitzgruppe, der Tisch. Die Frau hatte die Haare locker hochgesteckt und hielt eine Minaudière in den Händen. Sie sah aus, als ob sie in ihrem perfekten Haus eine perfekte Gästeschar empfangen und bewirten würde. Alles war edel, stilvoll
und elegant. Dieses Mal wurde für ein Parfum geworben, und ich wollte wissen, wie dieses exquisite Wasser duftete!

Im Lauf der nächsten Jahre entdeckte ich noch viele Estée-Lauder-Anzeigen, ehrlich gesagt, habe ich regelrecht nach ihnen gesucht. Auf jeder war diese überirdisch schöne Frau zu sehen. Oft schwarzweiss, manchmal farbig. Man sah sie in den unterschiedlichsten Rollen: einmal als Businessfrau im TV-Studio oder in einer Buchhandlung, dann wieder sportlich beim Fischen oder entspannt im Pareo am Strand. Einmal sitzt sie vor einem Teller mit Aprikosen, ein anderes Mal lehnt sie im Abendkleid an einem Flügel.

Erst viel später fand ich heraus, dass die Frau Karen Graham hiess, aus den Südstaaten der USA stammte und über 15 Jahre lang das Exklusivmodel für Estée Lauder war. Anfang der Siebzigerjahre hatte Firmengründerin Estée Lauder entschieden, dass nur noch ein einziges Model ihre Produkte verkaufen sollte. Was schon deshalb ein cleverer Marketingschachzug war, weil die Konkurrenz anders verfuhr und auf mehrere Models setzte. Zudem hatte Mrs. Lauder genaue Vorstellungen vom Image dieser Frau: «Überall sah ich Fotomodelle in Inseraten, die schlicht und einfach Sexobjekte waren. Die Aussage solcher Anzeigen war: Benützt dieses Produkt, und ihr werdet glücklich, beliebt und, besonders im Schlafzimmer, sehr aktiv sein … Das ist mir zuwider!» Estée Lauder wollte etwas anderes: «Unsere Anzeigen sollten einen Lebensstil, einen Way of Life, widerspiegeln. Die Estée-Lauder-Frau hat Klasse, Eleganz und Stil. Die Inserate sollten unsere Kundinnen fragen: ‹Sind Sie die Art von Frau, die einen gewissen Lebensstil schätzt? Dann können unsere Produkte Ihnen helfen, entsprechend auszusehen! Denn: Jede Frau kann schön sein!›» Und über Karen Graham sagte Estée Lauder: «Sie verkörpert Schönheit, Grazie, Charme und Eleganz. Unsere Fotomodelle werden immer als ganze Persönlichkeit dargestellt. Niemals werden nur die Lippen oder die Augen gezeigt.»

Um dieses Ideal zu inszenieren, brauchte es einen Künstler. Den hatte Estée Lauder mit dem Chicagoer Fotografen Victor Skrebneski gefunden. Skrebneski tauchte Karen Graham besonders auf den Schwarzweissfotos in regelrechte Lichtkunstwerke: Ihr Gesicht, ihre Kleider, aber auch ihre unmittelbare Umgebung wurden perfekt ausgeleuchtet und inszeniert. Gewisse Bilder erinnern mehr an Gemälde als an Fotos. Besonders bei den Kampagnen für Düfte wie Estée, Private Collection oder später Cinnabar und White Linen konnte der Fotograf aus dem Vollen schöpfen und bildete Karen Graham in den elegantesten und perfektesten Settings ab. Die Ära Karen Graham/Victor Skrebneski bei Estée Lauder währte von 1970 bis 1985, sie prägte das Image der Kosmetikmarke dauerhaft. Und zwar so erfolgreich, dass Mrs. Lauders Konzept – eine stilbildende Marken-Ikone zu schaffen – bald Nachahmer fand. Ihr grösster Konkurrent und Intimfeind, Charles Revson, Gründer von Revlon und anderen Kosmetikmarken, kopierte den Lauder-Auftritt für seine Marke Ultima II. Als Fotomodell wählte er Lauren Hutton und inszenierte diese praktisch identisch wie Karen Graham. Dieselben Posen, dieselben Roben, denselben privilegierten und edlen Lebensstil. Was Estée Lauder natürlich enorm ärgerte, ihr jedoch auch bestätigte, eine Idee gehabt zu haben, die so gut war, dass die Konkurrenz sie nur noch kopieren konnte.

In New York treffe ich 36 Jahre später die heutigen Göttinnen von Estée Lauder. Zur Lancierung der aktuellen Werbekampagne der Marke werden die drei neuen Gesichter der Firma sowie die zwei bisherigen Models vorgestellt. Neben den Amerikanerinnen Carolyn Murphy und Hilary Rhoda gehören ab sofort auch die Französin Constance Jablonski, die Puerto Ricanerin Joan Smalls sowie die Chinesin Liu Wen zum Lauder-Model-Team.

Viel Zeit ist seit den goldenen Tagen Karen Grahams vergangen. Nachdem sie im Jahr 2000 nochmals ein kleines Lauder-Comeback feierte, hat sie sich inzwischen aus dem Beautybusiness zurückgezogen. Genauso Fotograf Skrebneski. Die Matriarchin und Firmengründerin Estée Lauder starb im Jahr 2004, und heute kümmern sich ihr Sohn und immer mehr ihre Enkelinnen und Enkel um die Geschicke des Unternehmens. Ein Unternehmen, das zu den grössten Kosmetikfirmen der Welt zählt. Marken wie Clinique, Origins, Mac, Bobbi Brown und Aveda gehören inzwischen zur Gruppe, aber die Marke Estée Lauder gilt immer noch als das Herzstück des Imperiums. Das Image, das Estée Lauder vor mehr als sechzig Jahren geschaffen hat, wird auch heute noch gehegt und gepflegt. Doch während der Stil weiterlebt, wurde die Vermarktung der Gegenwart angepasst: War es vor 35 Jahren noch Karen Graham allein, die das Schönheitsideal Estée Lauders repräsentierte, so ist daraus heute ein Teamwork geworden. Denn die Kosmetikwelt ist global, und man will neue Märkte wie Asien oder Afrika ansprechen. Die multikulturelle Vermischung der Weltbevölkerung hat das Schönheitsideal verändert, und dem zollt auch Estée Lauder Tribut. Oder genauer: Aerin Lauder. Die Enkelin der Firmengründerin kümmert sich heute um die Werbung und versucht, die Grundwerte der Grossmutter beizubehalten: «Estée hatte unglaublichen Stil und Weitblick, als sie mit Karen Graham die Estée-Lauder-Frau schuf. Ich versuche, dieses Konzept zu aktualisieren und der Gegenwart anzupassen. Ich weiss, dass Estée stolz wäre, wenn sie die neuen Models sehen könnte, denn diese widerspiegeln genau ihr Credo, dass jede Frau schön sein kann.» Und um das zu zeigen, werden die neuen Models genauso sorgfältig und ikonisch inszeniert wie einst Karen Graham. Und wer weiss: Vielleicht entdeckt irgendwo auf der Welt ein Halbwüchsiger ein Inserat einer Kosmetikfirma in der Frauenzeitschrift seiner Mutter und lässt sich von diesen Schönheiten ein Leben lang faszinieren …

Die Firmengründerin
Anfang der Siebzigerjahre beschloss Estée Lauder, dass künftig nur noch eine Frau für ihre Produkte werben soll: Eine Frau mit Stil und Grazie, mit Charme und Eleganz.

Die Werbechefin
Aerin Lauder, Estée Lauders Enkelin, will mit dem Engagement des Lauder-Model-Teams den einzigartigen Stil ihrer Grossmutter weiterführen und an die Gegenwart anpassen.