In der Schule machen Buben mehr Probleme als Mädchen. Ist der Feminismus schuld? Nein, sagt unsere Autorin Franziska Schutzbach und warnt vor einer rückwärtsgewandten Pädagogik.
Sie sind das neue schwache Geschlecht: Buben füllen die Klassenzimmer der Sonderschulen und werden kriminell, wenns grad nicht so gut läuft. Schuld daran sind angeblich die feminisierten Schulen. Falsch, sagt unsere Autorin, die Soziologin Franziska Schutzbach, und warnt vor einer rückwärtsgewandten Pädagogik.
Seit den Pisa-Studien – so etwas wie der 11. September der Bubendebatte – ist es amtlich: Buben schneiden in der Schule schlechter ab als Mädchen, vor allem in Basiskompetenzen wie Lesen und Schreiben. Buben machen seltener die Matur; in Kleinklassen, Sonderschulen und Förderprogrammen hingegen sind sie in der Mehrzahl. Auch ausserhalb der Schule häufen sich die Horrorszenarien: Buben seien anfälliger für Krankheiten, verletzten sich und andere öfter und litten viermal häufiger unter Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefiziten, Stottern, Autismus, Bettnässen. Medien und Experten verkünden nicht weniger als eine allgemeine «Krise der kleinen Männer». Gefordert werden gezielte Bubenförderung, mehr Männer an Primarschulen und eine weniger «verweiblichte» Pädagogik.
Der Ruf nach männlichen Rollenvorbildern für Buben ist zwar richtig. Fatal ist allerdings, dass dabei oft stereotype Bilder von harten Cowboys, lässigen Fussballprofis oder gradlinigen Machern beschworen werden. So schreibt etwa der Jugendpsychologe Allan Guggenbühl in seinem viel zitierten Buch «Kleine Machos in der Krise», die feminisierten Schulen würden das Wesen der Buben konsequent missachten. Es sei an der Zeit, typisch männliche Eigenschaften wieder stärker zu fördern. Dazu gehöre, körperliche Auseinandersetzungen unter Einhaltung von Fairness zu akzeptieren. Prahlen müsse als Potenzial verstanden, die Grandiosität der Buben kreativ genutzt werden. Mit anderen Worten: Buben sollen wieder jagen, einsam durch Wälder streunen, in Schlachten ziehen. Die Frage ist: Hilft dieser Rückwärtssalto in klischierte Bubenbilder den Buben?
Schaut man sich die öffentlichen Diskussionen über Buben und ihre angeblich angeborenen Eigenschaften an, muss man sich fragen: Wie kommt es, dass die Arme-Buben-Debatte auf dem Jäger-und-Sammlerinnen-Stand von anno 1950 geführt wird? Und das, obwohl es auch in der Schweiz an jeder Ecke Gendertrainings, Fachtagungen und Weiterbildungen und, mit Organisationen wie dem «Netzwerk für schulische Bubenarbeit», fortschrittliche Angebote gibt, die sich der Thematik professionell angenommen haben, die aber in den polemischen Debatten so gut wie nie gehört oder zitiert werden?
Man versteht das leicht falsch: Es geht nicht darum, dass Buben etwas falsch machen oder die schlechteren Menschen wären. Das Problem sind nicht die Buben, sondern die Klischees, die sie erfüllen müssen, um als rechte Buben zu gelten. Und diese Klischees kollidieren mit den Anforderungen der Schule. Das hat aber nichts damit zu tun, dass die Pädagogik feminisiert ist und nur Mädchen fördert. Vielmehr leben wir zunehmend in einer Leistungsgesellschaft, die Flexibilität und Kooperation verlangt. Erwachsene Männer ahnen es allmählich: Nicht mehr der Lauteste, sondern der Eloquenteste ist gefragt, nicht mehr der Stärkste, sondern der Cleverste, nicht mehr der coolste, sondern der empathischste Chef holt langfristig das Beste aus seinen Mitarbeitenden heraus. Dass den Buben urzeitliche Klischees zugemutet werden, von denen sie sich hinterher mühsam wieder lösen müssen, ist nicht die Schuld von Feministinnen – die fordern ja schon seit ein paar Jahren, Buben- und Männerbilder zu überdenken. Schuld daran sind die gesellschaftlichen Vorstellungen: Die verändern sich zwar permanent und schnell – bloss dann nicht, wenn Buben mal was anderes machen sollen als Fussball spielen und stark sein.
Das Geschrei gegen feminisierte Schulen und nach «endlich wieder Macho sein lassen» unterschlägt, dass Buben auch schon vor der Frauenemanzipation deutlich schlechter in der Schule waren. Zu Zeiten also, in denen männliche Schüler, Lehrer und Lehrstile noch die unhinterfragte Mehrheit an sämtlichen Schulen stellten. Gleich mehrere Studien aus der Schweiz und Deutschland belegen zudem, dass das Geschlecht der Lehrkräfte nichts mit den Leistungen der Schulkinder zu tun hat. Die umfassende IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) im Jahr 2006 zeigte, dass Buben, die von Frauen unterrichtet wurden, nicht schlechter sind als solche, die einen Lehrer hatten. Zum gleichen Schluss kommt auch eine Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), in der 6000 Viertklässler beobachtet wurden. Die Forscher beweisen sogar, dass die Kinder bei Lehrerinnen besser lesen lernten als bei Lehrern, und dass Frauen Buben nicht strenger bewerten (Buben werden jedoch von Lehrerinnen und Lehrern generell strenger bewertet). Auf der Grundlage von 870 Interviews mit Schülern aus dem Kanton Bern kommt eine Untersuchung der Universität Bern zum Schluss: Buben fühlen sich von Frauen nicht benachteiligt, den meisten Schülern ist es egal, ob ein Mann oder eine Frau vor der Klasse steht.
Zum Thema der Verweiblichungswarnungen kann man festhalten: Es ist nicht die Verweiblichung, die den Buben im Weg steht, sondern eher die gesellschaftliche Angst vor ihr. Was sich für Mädchen, zumindest vordergründig, durchgesetzt hat – sie dürfen jetzt auch laut und frech sein – verharrt bei Buben noch in dunkelstem Mittelalter. Anders gesagt: Dass Mädchen mehr Pippi-Langstrumpf-Selbstbewusstsein bekommen (also so genannt männliche Qualitäten), gilt als passable Forderung. Dass umgekehrt den Buben etwas Annika-Zurückhaltung und andere angeblich weibliche Eigenschaften zugute kommen könnten, scheint, wenn man sich die aktuelle Bubendebatte anschaut, bis heute so irr, wie nicht an die Evolutionstheorie zu glauben.
Wenn die Gesellschaft an veralteten Bubenbildern festhält, kann es nicht erstaunen, dass die Jungs selbst sich nicht davon lösen mögen. Und das schlägt sich in ihren Leistungen nieder: Elisabeth Grünewald von der Universität Bern zeigt in ihrer Untersuchung, dass die Leistungen von Kindern stark von ihrem jeweiligen Geschlechterbild geprägt sind. Und Buben, so Grünewald, haben heute traditionellere Geschlechterbilder als Mädchen. Sie gehen beispielsweise davon aus, eine gesicherte Schulkarriere und ein erfolgreiches Berufsleben vor sich zu haben. Anders gesagt: Buben rechnen damit, ohnehin gute Noten zu bekommen – und strengen sich weniger an. Bei Mädchen ist dieses Selbstverständnis
wenig ausgeprägt, sie gehen eher davon aus, dass Leistung vor allem durch Anstrengung zu erreichen ist.
Wenn wir in der Bubenfrage weiterkommen wollen, gilt es aber zunächst, ein paar gern übersehene Dinge festzuhalten. Man stösst auf Schieflagen, die viel grundlegender sind, als uns Forderungen nach Rauf-Ecken, Klettergerüsten und Indianerzelten glauben machen wollen. Bubenprobleme sind nicht einfach Bubenprobleme, erklärt Andrea Bertschi, Leiterin des Instituts Forschung und Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz. «Migrationshintergrund und soziale Herkunft spielen eine entscheidende Rolle, wenn Kinder in der Schule nicht reüssieren.» Nicht nur Buben, sondern auch Mädchen aus sozial schwachen Familien, darunter viele mit Migrationshintergrund, versagen dramatisch häufig. Jürgen Budde von der Universität Halle-Wittenberg sieht das genauso. Offenbar habe es einen höheren Sensationswert, «die Buben» in Gefahr zu sehen, statt sich den abgehängten Migrantenjugendlichen beider Geschlechter zuzuwenden. Entsprechend verkürzt seien auch Forderungen, Buben «nur» als Buben fördern zu wollen und nicht als Heranwachsende aus verschiedenen kulturellen, ethnischen und sozialen Zusammenhängen.
Andrea Bertschi benennt eine weitere Schieflage: «Selbst wenn die Buben in der Schule schlechter sind, später öffnet sich die Schere wieder deutlich in die andere Richtung. Beruflich erfolgreich sind immer noch hauptsächlich die Männer, Spitzenpositionen haben in der Schweiz gerade mal rund drei Prozent Frauen, und diese verdienen weit weniger als Männer».
Soll man die Buben also am besten einfach weitermachen lassen wie bisher und sich darauf verlassen, dass die männlich dominierte Berufswelt auch die Dummen in ihren sicheren Hafen holt? Da würde man es sich wohl zu einfach machen. Die Frauenemanzipation hat eine Generation ehrgeiziger Schülerinnen hervorgebracht, deren Fleiss und Leistungsbereitschaft manche Buben nicht gewachsen sind. Oder anders gesagt, die in der Bubenwelt immer noch vorherrschenden Männlichkeitsideale des coolen, auf nichts und niemanden angewiesenen Helden (man schaue sich doch einmal die derzeit beliebtesten Computerspiele an) stehen den heutigen so genannten Social Skills wie Anpassung, Teamfähigkeit und Kooperation diametral entgegen.
Jürgen Budde stellte in der Studie «Bildungs(miss)erfolge von Jungen» aus dem Jahr 2008 fest, dass Buben Coolness und schlechte Noten mit männlicher Überlegenheit gleichsetzen. Gute schulische Leistungen gelten als uncool und unmännlich. Das Interessante ist, dass dieser Druck, überlegen zu wirken, offenbar gerade durch die Schulsituation entsteht und dieser Zusammenhang den Buben selbst völlig klar ist.
Einer der Befragten sagt: «In der Schule bin ich ganz anders als zu Hause. Ich lästere mehr, lache andere aus, brülle sie an. In der Schule habe ich weniger Respekt, bin arroganter und vergesse manchmal auch mein gutes Benehmen.» Im Gymnasium kristallisieren sich unter den Buben drei verschiedene Typen heraus: die Alphatiere, die Komplizen der Alphatiere und die Untergeordneten. Meist sind es nur ein paar wenige Buben, die eine so genannte hegemoniale, also dominante Männlichkeit als Haupthandlungsmuster aufweisen: die Alphabuben. Die Mehrheit bildet hingegen die komplizenhafte Männlichkeit – also ganz gewöhnliche Buben, die das System der überlegenen Männlichkeit stützen, indem sie andere (Mädchen und Untergeordnete) abwerten und sich bei den Alphaschülern anbiedern, um dadurch ihre eigene Stellung in der Klasse zu sichern. Jürgen Budde diagnostiziert einen permanenten Kampf um Überlegenheit und dauernde Angst vor Unterordnung. Die meisten Buben werden in der Schule häufiger untergeordnet, als dass sie andere unterordnen.
Mit anderen Worten: Buben werden durch die Schulsituation gerade nicht «verweiblicht», sondern stehen nach wie vor unter einem enormen Druck, sich zu «vermännlichen». Buben rennen blindlings in Identitätsmuster, die ihnen in der Schule oft im Weg stehen. Dass man diesem Phänomen vorsichtig entgegenwirken kann, heisst ja nicht, dass Buben ab sofort nur noch mit Puppen spielen dürfen. Das Verhalten, in das Buben hineingedrängt werden, ist nicht per se schlecht, aber schlecht für gute Noten – Konkurrenzverhalten und Quatschmachen können ja durchaus auch Vorteile bringen, zum Beispiel Selbstbewusstsein.
Was also ist zu tun? Lu Decurtins vom «Netzwerk für schulische Bubenarbeit» ist überzeugt, dass die Probleme der Buben verschärft werden, wenn wir sie als Problembuben abstempeln. An erster Stelle müssen Lehrkräfte und Eltern Buben respektieren, jedoch ohne sie auf etwas festzulegen. Für die Schulpraxis heisst dies, dass man einerseits ernst nehmen muss, dass die Kinder sich, gerade in der Pubertät, nach extrem starken Geschlechterklischees verhalten, dass man aber andererseits daraus keinesfalls folgern sollte: Das ist alles angeboren und somit festgelegt. «Man muss das klischierte Verhalten gleichzeitig respektieren und in Frage stellen, anerkennen und trotzdem Alternativen aufzeigen», sagt Lu Decurtins.
Weil das eine heikle Angelegenheit ist, empfehlen neuere Forschungen, eine explizite Bubenpädagogik nur mit Vorsicht anzuwenden. Lehrer müssen wissen, dass bestimmte Männlichkeitsnormen in der Schule besonders genährt werden, gerade solche, die sich nachteilig auf Leistungen auswirken können. Bubenförderung geht ausserdem nach hinten los, wenn man dabei verpasst, die breite Palette an möglichen Bubenhaftigkeiten (sportlich, zart, kräftig, religiös, intellektuell, schüchtern, vorlaut, fürsorglich, egoistisch, heterosexuell, homosexuell) zu betonen. Eine zu eng gefasste Definition von Mannsein («kennt keinen Schmerz», «lebhaft», «extrovertiert») zwingt Buben in Verhaltensmuster, bei denen sie gar nicht anders können, als auf Misserfolge mit Coolness und Abwehr zu reagieren. Pädagogen müssen sich zudem mit ihren eigenen Vorurteilen auseinander setzen: Sowohl Lehrkräfte wie auch Eltern schätzen Buben generell schlechter und unmotivierter ein als Mädchen. Das sei mit ein Grund, warum Lehrkräfte Buben oft schlechtere Noten geben, wie Jürgen Budde in seiner Studie zeigt. Am Ende leisten die Buben dann tatsächlich weniger.
Die Betonung bestimmter Verhaltensweisen als naturgegeben setzt Normen, grenzt aus und legt fest. Und das ist – wie die Geschichte gezeigt hat – problematisch. Wieso hinnehmen, dass im 21. Jahrhundert Frauen und Männern noch immer die krudesten, angeblich angeborenen Eigenschaften zugeschrieben werden? Hören wir endlich damit auf.
Fünf Forderungen an Lehrkräfte
1. Alternativen: Buben sollten die Vielfalt möglicher Männlichkeiten kennen lernen, indem man sie in Verhaltensweisen bestärkt, die landläufig nicht als männlich gelten.
2. Gruppenhierarchien: Lehrkräfte sollten nicht versuchen, die Alphatiere zu stürzen, sondern die Untergeordneten zu stärken.
3. Grenzen: Gewisse Buben sprechen gut auf klare Regeln an. Trotzdem sollte längerfristig Selbstverantwortung und Kooperation angestrebt werden.
4. Gewalt: Buben sollten Aggressionen unter Einhaltung von Regeln ausleben dürfen, Gewalt muss sofort gestoppt werden.
5. «Bubengerecht»: Beim Rechnen an Fussballtabellen dürfen weder Buben, die kein Interesse an Fussball haben, noch fussballinteressierte Mädchen ausgegrenzt werden.