Die Sexfrage: Muss ein Orgasmus immer das Ziel sein?
- Text: Bettina Disler
- Bild: Stocksy; Collage: annabelle
Alle zwei Wochen beantwortet Paar- und Sexualtherapeutin Bettina Disler eine Frage zum Thema Liebe oder Sex. Heute geht es darum, ob Sex zwingend mit einem Orgasmus enden soll.
Bei der Selbstbefriedigung haben die meisten ein Ziel: sich einen Orgasmus zu verschaffen. Geht es allerdings um partnerschaftliche Sexualität, sehe ich bei dieser Frage zwei «Red Flags»: das Müssen und das Ziel. Mein erster Gedanke: Es heisst nicht OrgasMUSS!
Den Orgasmus als Ziel beim Sex zu haben, impliziert, dass die Beteiligten während des Akts nicht im Moment sind, sondern in ihrer Konzentration auf das Ziel. Das mag für gewisse Personen stimmig sein, beispielsweise, wenn sich beide vornehmen, gleichzeitig zum Orgasmus zu kommen, und beide dann so lange daran «arbeiten», bis sie die ersehnten Früchte ernten können.
Doch wie es bei so vielem im Leben der Fall ist, gilt auch hier: Hat man sein Ziel mal erreicht, kommt unweigerlich die Frage auf: «Und was jetzt?» Sex zu praktizieren, Hauptsache um des Zieles Willen, wird für die meisten irgendwann unspannend. Manche haben sich derart darin perfektioniert, auf Knopfdruck in die Orgasmusphase einzutreten, dass sie vor lauter Konzentration darauf die vorhergehende Phase verpassen.
«Der Weg ist das Ziel – das bedeutet auf die Sexualität übertragen ein ganzheitliches Erleben»
Ein sexueller Akt kann in vier Phasen betrachtet werden: In der Erregungsphase wird das sexuelle Begehren durch gegenseitige Verführung aktiviert, um in eine hohe Erregung zu kommen. Die darauffolgende Plateauphase ist mit einer Art Spielwiese vergleichbar, in welcher der sexuelle Akt gemeinsam aktiv gestaltet wird. Diese Phase auszudehnen, kann für viele sehr lustvoll sein.
Am Ende dieser Phase steht der sogenannte «Point of no return», also der Moment, an dem man sich dem Orgasmus hingibt und damit in die Orgasmusphase eintritt. Danach folgt die Refraktärphase, in der für viele ein wohliges Gefühl kompletter Entspannung erlebbar wird. Einige bauen den Zyklus weiter aus, indem sie erneut in die Plateau- und Orgasmusphase wechseln – und diese Abfolge so oft wiederholen, wie es für sie passt.
Wenn man also beim Sex von einem Ziel sprechen möchte, empfehle ich, die einzelnen Phasen zu berücksichtigen. Der Weg ist das Ziel – das bedeutet auf die Sexualität übertragen ein ganzheitliches Erleben ohne fixe Vorstellung davon, wie dieses enden soll. Interessant ist, was meine Klient:innen antworten, wenn ich ihnen die Frage stelle, weshalb sie denn überhaupt Sex haben wollen.
Klar gibt es auch immer wieder die Antwort, «um zum Orgasmus zu kommen». Doch deutlich öfter höre ich, dass es ihnen darum geht, die Nähe zum Gegenüber zu spüren, gemeinsam Neues zu entdecken, sich zu verlieren, abzuschalten und den Zustand während des Aktes zu geniessen, zu begehren, zu lachen, mit verschiedenen Sinneseindrücken zu spielen, sich überraschen zu lassen und dabei neue Erfahrungen zu sammeln. Die Liste der Antworten ist lang. Ein Orgasmus kann demnach durchaus Bestandteil erlebter Sexualität sein, er MUSS es aber nicht.
Bettina Disler arbeitet in ihrer Praxis in Zürich als Paar- sowie Sexualberaterin und ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Sie hat ein eigenes Modell entwickelt, mit dessen Hilfe sich Bewegung in festgefahrene Beziehungen bringen lässt. 2019 hat Disler beim Klett-Cotta Verlag ein Fachbuch zu den Themen Lustlosigkeit, Entfremdung und Affären veröffentlicht.