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Die Heilerinnen von Sizilien: «Ein Schrecken ist der Ursprung vieler Krankheiten»

Body & Soul

Die Heilerinnen von Sizilien: «Ein Schrecken ist der Ursprung vieler Krankheiten»

Mit geheimen Gebeten und Ritualen vertreiben Heilerinnen auf Sizilien seit Jahrhunderten Sonnenstiche, Bauchschmerzen oder den bösen Blick. Doch das Wissen der Frauen ist vom Aussterben bedroht, wie unsere grosse Reportage zeigt.

Palermo, Sizilien. Sie braucht nicht viel, um das Böse zu vertreiben, etwas Olivenöl, Salz und Wasser. Die Utensilien, die Rosa «Rosetta» Gennaro (65) verwendet, sind immer dieselben. Sie legt das rote Handtuch um die Schultern der jungen Frau, die auf einem Stuhl vor ihr sitzt, weil sie Hilfe braucht. Dann stellt sie den mit Wasser gefüllten Teller auf deren Kopf. Rosetta bekreuzigt sich. Sie benässt die Kuppe ihres kleinen Fingers mit Olivenöl und lässt die Tropfen ins Wasser gleiten. Drei oder fünf, sieben oder neun, eine ungerade Zahl, so hat sie es gelernt.

Sofort löst sich das Öl im Wasser auf. Ein Zeichen dafür, dass das Ritual nötig ist, wird Rosetta später erklären. Nun gibt sie eine Prise Salz ins Wasser und hält den Tellerrand fest in ihren Händen. Ihre Augen sind geschlossen, die Lippen bewegen sich nicht. Im Inneren aber spricht sie ein Gebet. Die Worte sind ein Vermächtnis, weitergegeben von Generation zu Generation, von Mutter zu Tochter oder Tante zu Nichte, von Frau zu Frau.

Ohne sie könnte Rosetta nichts ausrichten gegen den bösen Blick, der auf Eliana Urbano Raimondi (29) liegt. In letzter Zeit häufen sich im Leben der Galeristin persönlicher Kummer, Schwierigkeiten im Beruf und kleinere Unfälle. Daher sucht sie heute eine Heilerin auf. Zum ersten Mal. «Das Irrationale fasziniert mich», sagt sie.

«Il malocchio», so glaubt man auf Sizilien, ist schlechte Energie, Neid oder Missgunst. Ein zu intensiver Blick einer anderen Person, der Unheil bringen kann: Kopfschmerzen, Missgeschicke, kleinere Unfälle bis hin zu schweren Krankheiten. Laut Volksglaube sind Männer mit zusammengezogenen Augenbrauen unbewusste Träger dieser Macht, aber jede und jeder soll sie in sich haben.

Nach einigen Minuten nimmt Rosetta den Teller vom Kopf der jungen Frau und massiert mit beiden Daumen ihre Schläfen. Sie hält ihr Gesicht in den Händen, streichelt dreimal über ihre Augenbrauen. Am Ende spült Rosetta das Wasser die Toilette hinunter, weil sie es für verunreinigt hält. Erschöpft setzt sie sich neben die junge Frau. Die öffnet die Augen und sagt: «Ich fühle mich nun leichter.»

In jedem Winkel der Erde gibt es Menschen, allen voran Frauen, denen besondere Fähigkeiten nachgesagt werden. Die imstande sein sollen, andere zu heilen. Auf Sizilien sagt man, sie besitzen «il dono», das Geschenk. Heilerinnen sollen das Böse vertreiben, Krankheiten und körperliche Beschwerden wie Magenschmerzen, Verbrennungen oder Angstzustände heilen und selbst Knochen zurechtrücken können.

Ihre Praktiken führen sie mit einfachen Nahrungsmitteln wie Olivenöl oder Knoblauch durch. Mit simplen Gegenständen wie einem Teller oder einem goldenen Ring. Mit Petersilie, Malve und Thymian. Und mit Worten: uralte Formeln und geheime Gebete, die den verwendeten Elementen Kraft verleihen sollen.

«Es ist eine Familiensache», sagt Ilaria Brambilla (41), wohnhaft in Palermo. Und ein Wissen, von dem schon viel verloren ging. So öffneten ihre Vorfahrinnen, um Antworten auf eine bestimmte Frage zu erhalten, um Mitternacht die Fenster und interpretierten die Geräusche im Freien. Um zu erfahren, wie es einem Menschen in der Ferne ging, sagten sie mehrmals hintereinander ein schwer auszusprechendes Gebet auf. «Schafften sie das fehlerfrei, bedeutete es für sie, dass mit der anderen Person alles in Ordnung war», sagt Ilaria.

Die vergleichsweise junge Heilerin vereint in sich zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten; von Beruf ist sie Geografin und der Wissenschaft verpflichtet. Für NGOs recherchiert sie zu Feminismus, Migration, Ökologie. In ihrer Freizeit aber entfernt sie, wie zuvor schon ihre Mutter, ihre Grossund ihre Urgrossmutter, den bösen Blick. Nicht nur von Menschen, sondern auch von Häusern, in denen kleinere und grössere Unglücke passiert sind. Besonders viele junge Menschen kämen zu ihr, sagt Ilaria Brambilla.

Kaum ein Erwachsener auf Sizilien, der oder die nicht schon einmal bei einer Heilerin war — vor allem in Kindheitstagen, als die Volksmedizin noch viel verbreiteter war als heutzutage. Mittlerweile sind nur noch wenige ihrer Vertreterinnen übrig geblieben. Wie viele lässt sich schwer sagen, weil es nicht leicht ist, sie ausfindig zu machen. Weil man sie weder auf Instagram findet noch auf Facebook. Man muss sich zu ihnen durchfragen.

Die meisten Heilerinnen sind jenseits der Siebzig, Ilaria ist eine Ausnahme. Die Frauen sprechen ungern mit Fremden über ihre Praktiken. Fotografien meiden sie, denn viele glauben, dadurch «das Geschenk» zu verlieren. Anderen hat ihre Familie verboten, darüber zu sprechen, weil sie fürchten, dass die uralten Praktiken im Jahr 2023 belächelt werden. Dennoch sind einige Frauen bereit, ihre Türen zu öffnen und Einblick zu geben in diese verborgene Welt, von der niemand weiss, wie lang es sie noch geben wird.

Ragusa, im Südosten der Insel. Antonina «Ninnetta» Carnemolla, 79 Jahre alt, seufzt. Die kleine Frau verschwindet fast in ihrem weichen Sessel, so tief versinkt sie darin. Aus gesundheitlichen Gründen verlässt sie ihre Wohnung in einem grauen Hochhaus am Stadtrand kaum noch. Ninnetta hört schlecht, ihr fehlen die unteren Schneidezähne, und die Beine tragen sie nur noch mit Hilfe eines Rollators von der Küche ins Zimmer. Doch ihr Blick ist frisch, fast kindlich neugierig.

«Ich war ein Mädchen», erinnert sie sich, «als meine Grossmutter einen Jungen aus unserer Nachbarschaft heilte.» Die Ärzt:innen hätten ihn bereits aufgegeben gehabt, voller Würmer sei sein Bauch gewesen, die Haut schwarz. Ihre Grossmutter – nicht nur eine Heilerin, sondern auch Krankenschwester in der Gemeindeklinik – nahm ihn zu sich nachhause und unterzog ihn dort einem Ritual, das Frauen aus der Familie seit jeher ausführen. Tage später, so sagt Ninnetta, sei der Junge vollständig genesen gewesen.

Damals verstand das Mädchen nicht, was ihre Grossmutter und auch ihre Mutter tun, warum Menschen krank zu ihnen nachhause kamen und gesund wieder gingen. Warum sie sich bedankten, ab und an Geschenkkörbe brachten, aber niemals Geld – denn, das betonen alle Heilerinnen, die wir treffen: Niemals würden sie sich bezahlen lassen für ihre Hilfe.

Fasziniert beobachtete Ninnetta die beiden Frauen, zu denen sie ein inniges Verhältnis pflegte, Tag für Tag. Sie schaute ihnen auf die Finger und las ihnen von den Lippen, sie «stahl» das Geschenk, wie manche dazu sagen, wenn eine Frau die Praktik abguckt, bevor sie ihr überliefert wird. Wie man die Rituale ausführt, wusste Ninnetta daher bereits, als ihr die Grossmutter und später auch die Mutter die geheimen Gebete anvertrauten.

Von der Mutter lernte sie, Sonnenstiche zu heilen und den bösen Blick zu entfernen. Die Grossmutter zeigte ihr, wie man Bauchschmerzen bekämpft. Sie sind einer der häufigsten Gründe, warum Menschen eine Heilerin aufsuchen. Dahinter steckt die Annahme, dass in jedem menschlichen Körper eine Art Parasit lebe: Darmwürmer, die in einem Sack in der Magengegend verstaut sind, aber aufgrund einer Aufregung ihren Standort verlassen und sich im Körper verteilen. Anfällig dafür sollen vor allem schwächere Personen wie Kinder oder alte Menschen sein.

Medizinisch gesehen ist diese Erklärung Humbug. Dennoch: Betrachtet man es metaphorischer, ist es richtig, dass Stress und Traumata gesundheitliche Beschwerden wie etwa Bauchschmerzen auslösen können. «Ein Schrecken ist der Ursprung vieler schlimmer Krankheiten», sagt Ninnetta. Als Heilerin bringe sie die Würmer wieder an den richtigen Ort. «Manchmal kann man sie mit den Fingern spüren.»

Jahrelang praktizierte Ninnetta, Hausfrau und Mutter zweier Söhne, in ihrer Küche, während ihr Mann arbeiten war. Heute wendet sie das Ritual nur noch innerhalb der Familie an. An jenem Sonntag liegt ihr Enkel Lorenzo, neun Jahre alt, mit freiem Oberkörper quer über ihrem Schoss. Mit ihren weichen, warmen Fingern, die sie zuvor in Olivenöl getaucht hat, streichelt Ninnetta sanft über den Kinderbauch, massiert ihn von der Kehle bis zum Nabel.

Lorenzo scheint die Massage zu geniessen, er schaut selig. Währenddessen flüstert seine Oma die Formeln, die sie seit gut sechzig Jahren wie ein Mantra wiederholt. Sie nimmt die Knoblauchzehe in die Hand, darauf ein paar Spritzer Zitrone, macht damit ein Kreuzzeichen über dem Bauchnabel und legt sie in die Vertiefung hinein.

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Die Mythen über Frauen wie Ninnetta, Ilaria oder Rosetta sind auf Sizilien so komplex wie verbreitet. Besucht man mehrere von ihnen, fällt auf, dass sich die Regeln und Rituale von Region zu Region, selbst von Frau zu Frau leicht unterscheiden. Manche singen die Gebete innerlich, andere rezitieren sie wie ein Gedicht. Manche wählen stets dieselbe Uhrzeit, andere schenken ihr keine Beachtung. Wieder andere drehen den Stuhl nach dem Ritual zur Wand, damit sich eine Weile lang niemand darauf setzen kann.

Sie alle überliefern ihr Wissen nur im Geheimen an nur eine Frau und nur an einem der beiden folgenden Daten: an Heiligabend, drei Nächte nach der Wintersonnenwende. Oder in der Johannisnacht, dem 24. Juni, drei Nächte nach der Sommersonnenwende. Sie tun das meist flüsternd und mündlich. Aber es gibt auch jene, die die Texte aufgeschrieben haben und sie inmitten von Familienrezepten aufbewahren.

Der berühmte sizilianische Ethnologe Giuseppe Pitrè studierte die Heilerinnen als einer der Ersten. Abgesehen davon ist diese Art der Volksmedizin erstaunlich wenig erforscht. Als wichtigste Expertin auf dem Gebiet gilt heute die Anthropologin Elsa Guggino. Jahrelang lehrte sie an der Universität von Palermo Geschichte der Volkstraditionen und führte für ihre Studien Gespräche mit zahlreichen Heilerinnen. Aber ihre Bücher sind vergriffen und sie selbst ist nicht für Gespräche erreichbar. Am nächsten kommt man ihr, indem man mit ihrem Sohn Ignazio Buttitta spricht, auch er ist Anthropologe.

Als Kind begleitete er seine Mutter auf ihren Recherchen, Rituale wie das Entfernen der Würmer erfuhr er am eigenen Leib. In der magischen Welt Siziliens gebe es zwei wichtige Figuren, sagt er. Die komplexere mit breiteren Kompetenzen ist die Majaria, die auch schwarze Magie praktiziert. Sie suchen die Menschen dann auf, wenn sie jemandem Böses wollen, sich rächen, eine Person verfluchen oder verletzen. Um einen Schmerzkrampf auszulösen, durchbohrt eine Majaria etwa ein Ei mit Nadeln. «Ihre Macht hängt damit zusammen, dass sie von Wesen besessen ist und gelernt hat, diese zu kontrollieren», erklärt Ignazio Buttitta den Aberglauben.

Und dann gibt es die Heilerin, eine ausschliesslich positiv besetzte Figur, die den Menschen helfe und ihnen diene. «Sie besitzt das Wissen und Können, bestimmte Krankheiten zu heilen», sagt der Anthropologe. Anders als die Majaria, zu der es ein männliches Pendant gibt, sind Heilerinnen ausschliesslich weiblich. Grund dafür ist, dass es sich um eine im engen, privaten Kreis weitergegebene Tradition handelt und es die Frauen waren, die sich zuhause um ihre Familienmitglieder kümmerten.

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«Es ist Teil des menschlichen Wesens. Wir schaffen es nicht, vollständig rational zu sein»

Ignazio Buttitta, Anthropologe

Je mehr Heilerinnen man trifft, desto eher versteht man, dass ihre Welt keine blosse Folklore ist, sondern sehr vielschichtig. Und voller Symbole. Neben Worten begleiten oft auch spezifische Gesten ihre Praktiken. Die zur Faust geschlossene Hand mit der Daumenspitze zwischen Zeige- und Mittelfinger symbolisiert etwa den Geschlechtsverkehr und steht für das Leben. Damit wehrt die Heilerin negative Kräfte ab, die sich zum Zeitpunkt des Rituals im Raum befinden könnten.

Sind die Süditaliener:innen besonders abergläubisch, mehr als andere? Nein, sagt Ignazio Buttitta. Denn auch in anderen Gesellschaften und selbst bei sehr gebildeten, atheistischen Menschen gebe es seit jeher eine Faszination für Magier:innen, Kartenleser: innen, Astrolog:innen. «Es ist Teil des menschlichen Wesens. Wir schaffen es nicht, vollständig rational zu sein.»

Die meisten Heilerinnen faszinieren mit ihrer Ausstrahlung. Sie sind redegewandt und gut im menschlichen Umgang. «Viele wären ausgezeichnete Psychologinnen», sagt Buttitta. Und gerade darin liegt ihre Stärke. Vielleicht mehr als in den überlieferten Versen und Praktiken.

Fast alle Heilerinnen sind fern der grossen Städte aufgewachsen, in Dörfern, wo es immer eine Frau gab, an deren Tür man klopfen konnte, um Hilfe zu bekommen. Rosetta ist in Ferrarello gross geworden, einem Ort mit etwa hundert Einwohner:innen im Herzen der Gebirgskette Madonie. «Als ich klein war, nannte man mich das Mädchen von allen», erzählt sie.

Da ihre Eltern schon alt waren, verbrachte sie die meiste Zeit ausser Haus. Bei einem Nachbarn lernte sie Mandoline spielen, beim anderen Gitarre. Und bei der damals achtzig Jahre alten Maria, wie man den bösen Blick entfernt. «Menschen kamen zu ihr, die über Kopfschmerzen und ein Gefühl der Schwere klagten. Signora Maria hielt einen bestimmten Stuhl für sie bereit und kümmerte sich mit viel Ruhe und Liebe um sie.»

Nebst dem Ritual und den geheimen Formeln gab sie ihr einen Satz mit auf den Weg, an den sich Rosetta bis heute hält: «Mach das Ritual, wenn dich jemand darum bittet, aber dräng dich nie auf und verlange nie etwas dafür.» Viele Jahre lang behielt Rosetta das Geschenk für sich, weil es ihr Angst machte.

Mit der Zeit traute sie sich, davon Gebrauch zu machen. Zuerst bei Familienangehörigen, dann auch bei Fremden. Heute ist Rosetta Grundschullehrerin und lebt mit Mann und Tochter im zweiten Stock eines Altbaus in Palermo, wo sie jene empfängt, die den bösen Blick loswerden möchten.

«Das Charisma, das diese Frauen haben, ist ein Geschenk des Heiligen Geistes. Sie sind sein Werkzeug»

Mauro Billetta, Franziskanermönch und Exorzist

Durch die geöffneten Fenster von Rosettas Wohnzimmer dringt kühle Luft herein. Dazu die Geräusche der Hauptstadt: Das Hupen von Autos und Motorrädern und Stimmen, die sich mit Rosettas Stimme vermischen. «Für mich ist eine Heilerin eine in sich ruhende, aufmerksame Frau, die anderen hilft, sich gut zu fühlen», sagt sie.

Rosetta spricht damit einen wichtigen Punkt an: Oft machen keine übernatürlichen Kräfte die Wirkung einer Heilerin aus, sondern schlichtweg Menschlichkeit. Und manchmal kommt die Heilung einer Gesprächstherapie gleich. Mit ihren dunklen, grossen Augen schaut Rosetta einen durchdringend an, länger, als man das für gewöhnlich tut. «Ich heile auch gern mit dem Blick. So habe ich es bei Signora Maria gesehen.»

 

Pi tutti l’erigi ro Signuri

Lu malificiu aviri a finiri

Lu malificiu vola luntanu

Como la ciauru ri erivi amari

 

Für alle Kräuter des Herrn

der Fluch muss enden

der Fluch fliege weit weg

wie der Geruch von bitteren Kräutern

 

In seinem Buch «Majaria. La Sicilia della magia e dei misteri» – «Majaria. Das magische und mystische Sizilien» – hat Paolino Uccello einige der geheimen Gebete der Heilerinnen veröffentlicht. Sie reichen von einfachen Formeln bis hin zu langen und komplexen Versen. Er kennt sie von seiner Grossmutter, die in den 1980er-Jahren verstarb, ohne «das Geschenk» an eine Frau in der Familie weitergegeben zu haben.

Als er klein war, gab es ein Dutzend Heilerinnen in seinem Ort. Heute ist keine mehr übrig geblieben. «Jene wenigen, die man auf Sizilien noch findet, verfügen lediglich über ein Teilwissen», sagt Uccello. «Eine Heilerin zog ihre Kraft einst aus einer enormen Kenntnis der Kräuter- und Pflanzenwelt und war mit übernatürlichen Wesen vertraut.»

Der Autor leitet das Stadtmuseum für «Textilien, Auswanderer und Volksmedizin» in seiner Heimatgemeinde Canicattini Bagni nahe Siracusa. Ein Teil davon ist den Heilerinnen gewidmet. Früher gingen die Menschen eher zu ihnen als zu Ärzt:innen, die rar waren und teuer, sagt Uccello.

«Eine Heilerin genoss ein grosses Ansehen und hatte eine tragende Rolle in der Gesellschaft inne, weil sie oft die einzige Möglichkeit auf Heilung bedeutete.» Die Existenz der magischen Frauen Siziliens geht auf vorchristliche Zeiten zurück. Nach und nach haben sich ihre uralten Riten mit den katholischen vermischt. Das Magische und Religiöse ist heute schwierig voneinander zu trennen.

Einst bekämpfte die katholische Kirche die Heilerinnen, liess sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Trotzdem finden sich in den meisten Häusern der Heilerinnen religiöse Motive an den Wänden. In den Gebeten wenden sich die Frauen an Gott oder rufen katholische Heilige auf.

Für die katholische Kirche tun sie das aber auf eine unangemessene Weise, sagt Anthropologe Ignazio Buttitta. Es ist eine komplizierte Beziehung zwischen der Kirche und den Heilerinnen. Der Franziskanermönch und Exorzist Mauro Billetta wiederum sagt: «Das Charisma, das diese Frauen haben, ist ein Geschenk des Heiligen Geistes. Sie sind sein Werkzeug.»

Die magischen Frauen sind kein Phänomen, das sich ausschliesslich auf Sizilien beschränkt. «Sie sind in ganz Süditalien verbreitet, auch in den Regionen Sardinien, Kampanien, Kalabrien oder Apulien», sagt die sizilianische Anthropologin Orietta Sorgi.

Die Heilerinnen sind mit einer landwirtschaftlichen Realität verbunden, die dort erst später verschwand. Ökonomisch und ideologisch war der Süden Italiens lange eine archaische Gesellschaft von Bauern und Hirten. «Die Magie bot den Menschen eine Antwort für das mit dem Verstand nicht Greifbare», sagt Sorgi.

Ilaria Brambilla wuchs in Norditalien auf. Mit einer Mutter aus Trapani, die der magischen Welt Siziliens seit Generationen verbunden ist. Und einem Vater, Atheist aus der Lombardei, der mit den Traditionen des Südens nichts anfangen kann. «Er hat sich oft lustig darüber gemacht», erinnert sich Ilaria.

Als Erwachsene zog sie nach Sizilien, wo sie begann, die Praktik auszuführen. Die Skepsis, die ihr vor allem im Norden Italiens begegnete, kann sie nachvollziehen, «natürlich gibt es keine wissenschaftlichen Beweise für die Wirkung des Rituals», sagt sie. Aber darum ginge es gar nicht. «Eine Heilerin hilft Menschen, einen Konflikt zu lösen, manchmal auch einen inneren. Sie hört zu und ist für andere da, ohne eine Gegenleistung zu verlangen.»

Gela, in der Region Caltanissetta, im Süden Siziliens. Im Erdgeschoss einer einfach eingerichteten Küche inmitten einer unauffälligen Wohnsiedlung sitzt eine alte Frau und schaut ins Leere. Sie trägt ein blumiges Tuch um die Schultern gebunden, ihre Augenbrauen sind buschig, der Lockenkopf leuchtet weiss-grau.

Giovanna «Nanni» Galazzo ist 91 Jahre alt und auf beiden Augen blind. Die Frauen in ihrer Familie wechseln sich ab, um die Alleinlebende im Haushalt zu unterstützen. Nur für das Ritual will sie kaum Hilfe annehmen.

«Ich mache gar nicht viel», sagt Nanni, als sie danach gefragt wird. Sie lächelt und wippt mit ihrem Kopf leicht von links nach rechts. Die Frau mit vielen feinen Haaren im Gesicht hat einen sanften Humor und eine Ruhe, wie sie nur jene ausstrahlen, die nichts mehr erwarten vom Leben.

Zu Nanni kommen die Menschen seit gut 75 Jahren. Frauen, Männer, Kinder. Familienangehörige, Bekannte, Fremde. Immer dann, wenn sie zu lange in der Sonne sassen und Kopfschmerzen, Übelkeit oder gar Fieber davontragen, also einen Sonnenstich haben.

«Das Geschenk war immer in unserer Familie», sagt sie. Ihre Tante entfernte die ominösen Darmwürmer. Die Mutter und Grossmutter linderten denselben Schmerz wie sie. Nanni führt das Ritual noch immer exakt so aus, wie sie es von ihnen lernte. Auch sie nimmt dafür ein Glas mit Wasser zur Hand, macht ein Kreuzzeichen darauf und gibt drei Tropfen Olivenöl hinein. Sie bindet ein Stofftuch um das Glas und stellt es umgestülpt auf den Kopf der Person mit dem Sonnenstich.

Seit sie nicht mehr sehen kann, setzt sich Nanni hin, anstatt zu stehen, und mittlerweile bittet sie darum, ihr zu helfen, das Glas zu halten. Sie bewegt es von links nach rechts, schiebt es nach vorne und hinten. So findet sie heraus, wo die Hitze und der Schmerz sitzen. Winzige Bläschen bilden sich dort, das Wasser fängt an zu kochen, «wie in einem Topf», und absorbiert dadurch die angestaute Hitze.

Im Stillen spricht sie die geheimen Worte, die sie mit 15 Jahren von ihrer Mutter lernte. «Es war Sommer, die Johannisnacht, mein Namenstag», sagt sie. Ihr ganzes Leben lang behielt sie die Verse für sich, «sonst verlieren sie ihre Wirksamkeit. Man muss sie mit dem Herzen sprechen». Und aus Liebe handeln.

Übermittelt eine Heilerin das Ritual an eine jüngere Frau, hört sie in den allermeisten Fällen selbst damit auf. «Ich habe es noch niemandem gegeben», sagt Nanni, als spräche sie von einem Schatz. Dabei kämen eine Reihe von Frauen infrage: drei jüngere Schwestern, eine Tochter, mehrere Nichten und Grossnichten.

Auch Ninnetta aus Ragusa hat noch nichts entschieden. Ihre Schwiegertochter würde die geheimen Formeln ebenso gern lernen wie eine Nichte, die in Palermo lebt. Ilaria hat sich noch keine Gedanken darüber gemacht, wer das jahrhundertealte Familienerbe einmal fortführen soll. Und Rosetta, wen hat sie im Sinn?

«Naheliegend wäre meine Tochter», sagt sie und lächelt Stella an. Stella, 27 Jahre alt, blonder Lockenkopf, quirliges Wesen, ist mit dem Ritual aufgewachsen. Als Kind war es für sie wie ein Spiel, wenn ihre Mama dem Papa das rote Handtuch um die Schultern legte und den Teller mit Wasser auf den Kopf stellte.

«Ich glaube, dass meine Mutter eine besondere Kraft besitzt.» Bestimmt wird ihre Mutter spüren, wenn sie dafür bereit ist, sagt sie. «Darum bitten würde ich sie niemals. ‹Das Geschenk› ist dafür viel zu kostbar.» Stella schaut Rosetta an, als ob sie für den Satz deren Einverständnis möchte. Ihre Mutter hält einen Moment lang inne. Dann lächelt sie und nickt.

Diese Reportage ist in der annabelle-Ausgabe Nummer 11 im Jahr 2023 erschienen.

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Denise

Hallo
Gibt es eine Kontaktmöglichkeit mit Ilaria Brambilla?
Herzlichen Dank!