Gesundheit
«Den letzten Weg gehen wir alle alleine»: Wie wir die Ängste vor dem Tod überwinden können
- Text: Marina S. Haq
- Bild: Stocksy
Wie setzen wir uns mit der eigenen Endlichkeit auseinander? Kommunikationswissenschaftlerin Sibylle Felber und Steffen Eychmüller, Professor für Palliativmedizin, erklären es in ihrem neuen Buch «Das Lebensende und ich».
Am 1. Dezember 2022 spricht Moderatorin und Journalistin Marah Rikli in der Talk-Reihe «Karl*a der*die Grosse» mit der Kommunikationswissenschaftlerin Sibylle Felber und Chefarzt Palliative Care Steffen Eychmüller am Palliativzentrum des Inselspitals. Das Thema des Abends ist das Lebensende – und die Frage, wie man einen leichteren Zugang dazu finden kann. Darüber haben Sibylle Felber und Steffen Eychmüller das Buch «Das Lebensende und ich» geschrieben. Uns erklärten sie im Interview, wie man die Ängste vor dem Tod bewältigen kann und warum der Sterbeprozess nicht nur Traurigkeit bedeutet.
annabelle: Was möchten Sie mit Ihrem Buch «Das Lebensende und ich» erreichen?
Sibylle Felber und Steffen Eychmüller: Das Buch soll ermutigen, sich bereits frühzeitig im Leben mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen. Denn für die Auseinandersetzung mit dem Lebensende ist es fast nie zu früh, aber oft zu spät – und man kann viel für das Leben lernen. Wir hören häufig von Betroffenen: «Hätten wir doch früher schon einmal darüber gesprochen.»
«Das Lebensende ist so viel mehr, als zu sterben», heisst es in Ihrem Buch. Was ist das Lebensende noch, ausser sterben?
Das Lebensende ist wie der Lebensanfang oft eine sehr vielschichtige Phase, in der ganz viel stattfinden kann. Eine einzigartige Geschichte geht langsam zu Ende – es geht um das Schreiben des Schlussstücks einer Lebens-Symphonie. Viel zu oft findet mit den Angehörigen und Freund:innen kein Austausch mehr statt: Der Mensch ist plötzlich einfach weg. Wenn die Zeit knapp wird, kann der Austausch jedoch oft sehr intensiv werden – im Sinne von «Was ich dir immer schon einmal sagen wollte» oder «was ich dich fragen wollte». Oder man besucht gemeinsam Orte, die wichtig sind für die Person, die nur noch kurz zu leben hat. Das sind Gespräche und Erfahrungen, die einen selbst und alle Beteiligten sehr berühren und nachhaltig verändern können.
Welche Mythen um den Tod halten sich hartnäckig, stimmen aber gar nicht?
Dass Morphin das Leben verkürzt. Und dass sterbende Menschen Nahrung zu sich nehmen sollten, obwohl der Körper Schritt für Schritt den Stoffwechsel herunterfährt und Nahrung in den letzten Lebenstagen oft in unnötiger Art und Weise belastet.
Was macht uns Angst vor dem Tod?
Wir skizzieren in unserem Buch drei mögliche Ängste, welchen wir im Zusammenhang mit dem Lebensende oft begegnen: Die Angst vor dem Leiden, die Angst vor der Sorge, nicht genug gelebt zu haben, und die Angst vor dem endgültigen Aus, beziehungsweise dem Nichts, das so gar nicht vorstellbar ist.
Wie können wir diese Ängste bewältigen?
Bei einer schweren Erkrankung kann eine gute Vorausplanung, wo und mit wem das Sterben weniger Angst macht, sehr helfen. Die Befürchtung, nicht genug oder nicht so gelebt zu haben, wie man sich das vorgestellt hat, ist da ein ganz anderes Thema. Intensiv leben können wir nicht rückwirkend – da kann das Akzeptieren der Endlichkeit nur dazu führen, dass wir uns das Leben nicht bis zur Pensionierung aufsparen, sondern mit allen Sinnen möglichst jeden Tag bewusst erleben. Die existenzielle Angst vor dem Auflösen des eigenen Ichs schliesslich ist wahrscheinlich die am wenigsten fassbare. Hier geht es sehr häufig um die Angst vor dem totalen Kontrollverlust – helfen kann hier möglicherweise eine gute und verlässliche Begleitung durch liebevolle Menschen. Den letzten Weg gehen wir aber alle alleine.
Was bedauern wir am meisten vor dem bevorstehenden Tod?
Viele Menschen sind sehr dankbar für grosse Teile ihres Lebens – diese Dankbarkeit ist eher häufiger als das Bedauern. Der Rückblick auf das eigene Leben sowie die Wünsche und die Erwartungen im Hinblick auf den bevorstehenden Tod sind jedoch genauso individuell wie die Menschen. Selten berichten Menschen am Lebensende, dass sie zu wenig gearbeitet oder zu wenig verdient hätten; eher, dass sie zu wenig in ihre Beziehungen investiert haben, zu wenig mutig waren, um ihre eigenen Träume zumindest teilweise umzusetzen, und dass sie sich sehr häufig von den Augen anderer haben leiten lassen, anstatt ihren eigenen Weg zu gehen.
«Intensiv leben können wir nicht rückwirkend»
Löst der Sterbeprozess ausschliesslich Traurigkeit aus?
Der Sterbeprozess kann neben Traurigkeit auch Gefühle der Dankbarkeit, der Erleichterung, der Müdigkeit, des Intensiv-Leben-Wollens und viele andere auslösen. Wichtig ist, dass diesem Prozess Raum und Zeit gegeben wird. Viele Sterbende erleben es als beruhigend, dass das Leben weitergeht: der Alltag mit Fussballergebnissen, mit Einkaufs- und Ferienplänen dreht sich weiter. Des Weiteren nimmt das Nachdenken über die Liebsten einen breiteren Raum ein, man spricht auch vom ‹Altruismus› beim Sterben: Um sich selbst macht man sich keine Sorgen mehr, wohl aber um die Partnerin, den Partner, Kinder, Eltern oder Freund:innen. Deshalb ist es gut, wenn man frühzeitig gemeinsam diesen Moment schon einmal etwas vorausgedacht hat, und auch über das «Danach» sprechen konnte. Dann sind die Sorgen der Person, die gehen muss, nicht mehr so gross.
Wie bereiten sich die Menschen auf ihr Lebensende vor?
Von der akribischen Planung über die Liederauswahl an der eigenen Abschiedsfeier bis hin zu «es kommt, wie es kommen muss» gibt es wohl alles. Klar ist, dass die Vorbereitung sehr davon abhängt, wie viel Zeit zur Verfügung steht, und wie klar das Denken in dieser Zeit noch möglich ist. Ein plötzlicher Tod ist möglicherweise angenehmer für den sterbenden Menschen, aber hart für die Angehörigen. Ein langsames Sterben über Monate kann für alle sehr leidvoll sein, trotz aller guter Vorbereitung. Das Wichtigste scheint deshalb immer, dass es ausreichend viele Menschen gibt, die mitunterstützen können und wollen.
Wie gehen Menschen, die in ihrem Leben bereits Nahtoderfahrungen gemacht haben, mit dem Tod um?
Steffen Eychmüller: Solche Personen können sich häufig gelassener auf den Sterbeweg einlassen. Sie hatten meist diese Situation als hell und warm und als «aufgehoben» erlebt. Das mindert die Sorge vor dem Ungewissen.
Welche Erfahrungen, die Sie mit Sterbenden gemacht haben, sind Ihnen besonders geblieben?
Sibylle Felber: Die innere, teils sehr kraftvolle Energie, auch wenn der Körper am Lebensende noch so zerbrechlich scheinen mag. So hat mich ein nahestehender Mensch sehr beeindruckt, wie er sich schwer gezeichnet durch seine Krankheit mit sehr klaren Augen und in liebevoller Güte von mir verabschiedet hat.
Steffen Eychmüller: Jedes Sterben überrascht und bewegt mich. Im Moment des Sterbens bleibt die Welt immer kurz stehen – die Welt hält den Atem an, ist total konzentriert. Es herrscht totale Stille. Und ganz langsam nimmt dann die Zeit wieder Fahrt auf, die Welt dreht sich weiter, man nimmt wieder die Umgebung, die Menschen, die da sind wahr, dann auch das Wetter, die Geräusche. Und die Gedanken gehen zurück an den ersten Atemzug dieses Menschen, und nun den letzten. Und dazwischen liegt eine unvergleichliche Geschichte, die so nie mehr geschrieben werden wird.
Was möchten Sie uns bezüglich des Themas Tod mit auf den Weg geben?
Der Tod gehört zum Leben und wir tun uns gut daran, das Bewusstsein für unsere eigene Endlichkeit zu schärfen. Wir sind selbst verantwortlich dafür, ob wir alles kontrollieren und noch mehr haben wollen oder ob wir mit allen unseren Sinnen das Leben gemeinsam mit neugierigen und «lebenssüchtigen» Menschen verbringen – und auch immer wieder feiern. Dazu braucht es keine Millionen, sondern Liebe und Kreativität.
Tickets zum «Karl*a der*die Grosse»-Talk von Marah Rikli mit Steffen Eychmüller und Sibylle Felber am 1. Dezember 2022 um 19 Uhr gibt es hier.
Dieses Interview wurde in schriftlicher Form geführt.
Das Lebensende und ich, Steffen Eychmüller, Sibylle Felber, Stämpfli Verlag, 2022, ca. 30 Fr.