Gesundheit
Chronischer Stress: Wie gelingt es, sich besser abzugrenzen?
- Text: Marie Hettich
- Bild: Stocksy
Warum sind wir alle so gestresst? Was hilft dagegen – und warum fällt es uns so schwer, uns abzugrenzen? Körperpsychotherapeutin Eva Kaul weiss Rat.
annabelle: Frau Kaul, sind wir gestresster denn je?
Eva Kaul: Ja, das ist so. Unsere Produktivität pro Arbeitsstunde ist in den letzten 50 Jahren um über 30 Prozent angestiegen – es ist unglaublich, was in unserer kapitalistischen Gesellschaft mittlerweile geleistet wird. Das Problem: Unsere Neurobiologie kann sich nicht so schnell verändern. Der Körper kommt bei unserem hochgetakteten Alltag nicht mehr mit.
Heisst?
Unser Sympathikus ist daueraktiviert – also der Teil des vegetativen Nervensystems, der für die Bewältigung von Stresssituationen zuständig ist. Evolutionär ist diese Stressreaktion für ganz konkrete, physisch bedrohliche Situationen angelegt, also für den Säbelzahntiger, der vor einem steht. Wir haben nur dieses eine Stresssystem – ganz egal, ob wir tatsächlich aus einer bedrohlichen Situation flüchten müssen, Ärger im Job haben oder uns stundenlang vom Smartphone beschallen lassen. Und da dieses eine System eben primär auf akuten Stress ausgelegt ist, führt eine Daueraktivierung in chronischen Stresssituationen zu erheblichen ungesunden Nebeneffekten.
Selbst in unserer Freizeit kommen wir oft nicht mehr zur Ruhe.
Ja, auch unsere Freizeit ist oft keine freie Zeit: Wir stehen morgens auf – und hecheln durch all die Aktivitäten, die wir uns für den Tag vorgenommen haben. Die Mehrzahl der Menschen ist extrem dicht verplant und in Gedanken stets schon beim nächsten oder übernächsten Schritt. Selbst während wir eine Tasse Tee trinken oder duschen gehen – was wir ja eigentlich richtig schön geniessen könnten – planen wir im Kopf, wie es danach weitergeht. Kennen Sie die Geschichte vom Rabbi?
Nein, erzählen Sie!
Jemand fragt einen Rabbi, warum er immer so gelassen und ausgeglichen sei. Der Rabbi antwortet: «Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich.» Woraufhin sein Gegenüber sagt: «Ja, aber das tun wir doch alle auch!» Der Rabbi entgegnet: «Nein, das tut ihr nicht. Wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon, und wenn ihr steht, dann geht ihr schon. Und wenn ihr geht, dann seid ihr schon am Ziel.»
Wohl wahr.
Generell lässt sich sagen: Wir haben das natürliche Wechselspiel aus Aktivität und Entspannung verloren. Unser Pendel sollte mehrfach am Tag hin- und herschwingen: Energie mobilisieren, in die Aktivität kommen – und ja, man darf sich dabei auch gestresst fühlen. Aber dann wieder: Regeneration, Pause.
«Unsere Kultur ist überhitzt»
Hat dieses Abgehetztsein auch mit der eigenen Anspruchshaltung zu tun?
Ich denke, die individuelle Anspruchshaltung ist Ausdruck der kollektiven Haltung. Unsere Kultur ist überhitzt; es gilt: Je schneller und je mehr, desto besser. Aber so kommen wir nicht auf die Welt – im Gegenteil. Das sieht man an kleinen Kindern, die ihr Stresssystem nur aktivieren, wenn von aussen eine Herausforderung kommt, die sie bewältigen müssen. Ihr natürlicher Zustand ist der Seinsmodus.
Was sind Stressanzeichen, die man ernstnehmen sollte?
Häufige Anzeichen sind zum Beispiel: Muskelanspannungen, Ein- und Durchschlafstörungen, Gedankenkreisen, Verdauungsbeschwerden, Hautausschläge, chronische Hyperventilation, Tinnitus, ein trockener Mund, gehäufte Erkältungen. Aber auch Gereiztheit, sich chronisch erschöpft fühlen oder häufiges Weinen können Symptome sein. Ausserdem hängen Beziehungsprobleme nicht selten mit Stress zusammen.
Ach ja?
Man baut eine hohe Spannung auf, ohne sich Möglichkeiten der Entspannung einzuplanen, und plötzlich wird durch einen kleinen äusseren Anlass – zum Beispiel eine als kritisch erlebte Frage des Gegenübers – der innere Druck so hoch, dass man explodiert. Spätestens wenn man über längere Zeit partout nicht mehr abschalten kann, selbst wenn man gerade wirklich mal die Seele baumeln lassen könnte, sollte man hellhörig werden.
Was ist das Worst-Case-Szenario?
Der totale Zusammenbruch. Plötzlich geht gar nichts mehr – als hätte man den Stecker gezogen. Betroffene berichten in diesem Zusammenhang oft auch von massiven Schwindelanfällen, völliger Kraft- und Antriebslosigkeit und Kreislaufproblemen. Sie fühlen sich so schwach, dass sie kaum mehr aufstehen können. Hier hilft dann meist keine ambulante Therapie mehr, sondern es braucht eine stationäre Burnout-Behandlung.
«Im Funktionsmodus haben wir keinen Zugriff mehr auf unseren inneren Kompass»
Was tun, wenn man im Stress-Hamsterrad keine Prioritäten mehr setzen kann und wie ein kopfloses Huhn durch die Gegend rennt?
Dann ist es höchste Zeit, einen Schritt zurückzugehen und sich wieder mit sich selbst zu verbinden. Im Funktionsmodus steuern wir nur über den Kopf und haben keinen Zugriff mehr auf unseren inneren Kompass. Nur wenn wir in unserer Mitte sind, uns mit unserem Körper verbinden können, sind wir auch mit unseren Gefühlen und Werten in Kontakt – und können aus dieser Zentrierung heraus gute Entscheidungen treffen.
Und wie kommen wir wieder in die Mitte?
Einerseits mit regelmässiger Bewegung, um die im Körper gehaltene Energie zu mobilisieren. Weiter empfehle ich Betroffenen, eine regelmässige Entspannungspraxis in den Alltag einzubauen und diese eben nicht nur in der Akutsituation einzusetzen. Wenn man im Stress versucht, eine Atemübung zu machen, welche man sonst nie macht, reagiert der Körper nicht wirklich darauf. Das Hirn funktioniert mit seinen Nervenzellen nach dem Prinzip «Use it or lose it»: Was wir nicht regelmässig nutzen, geht verloren.
Das klingt nach Arbeit – und nach noch mehr Stress!
Ganz klar: Die Praxis muss für die jeweilige Person und ihren Alltag praktikabel sein. Wer kleine Kinder hat oder Angehörige pflegt, muss sich anders organisieren, als jemand, der einen Job mit regelmässigen Arbeitszeiten und freien Wochenenden hat. Aber ich bin davon überzeugt, dass sich für jede:n etwas finden lässt: Die einen regenerieren am besten bei einem Waldspaziergang oder beim Sport, die anderen meditieren und wieder andere trinken einen Tee und schauen dabei eine Weile aus dem Fenster.
Und wie oft sollte ich praktizieren?
Wenn möglich fünfmal die Woche, optimalerweise täglich.
Hilfe!
Keine Sorge: Das muss auch gar nicht lange dauern. Wichtig ist einfach, dass man nicht zwischen zu vielen verschiedenen Dingen, die einen runterbringen, variiert, sonst ist der Wiederholungseffekt dahin. Ich würde sagen: Maximal drei Praxen, die man nach Bedarf und Kapazität abwechselt. Besonders effektiv sind fixe Routinen. Der Geist will Abwechslung – aber die Seele braucht Kontinuität.
Was wäre ein Beispiel für so eine Routine?
Nach der Arbeit immer zehn, fünfzehn Minuten Yoga machen. Der Körper wird so allmählich konditioniert und reagiert viel zuverlässiger auf den Reiz. Er weiss dann: Heimkommen, Yoga, Runterfahren.
«Gerade Frauen wird selten applaudiert, wenn sie sich abgrenzen»
Ist Ihr Eindruck, dass das Pausemachen, das Sich-mal-Ausklinken, in unserer Gesellschaft gut akzeptiert ist?
Nicht wirklich, wir leben nun mal in einer Leistungsgesellschaft. Gerade Frauen wird selten applaudiert, wenn sie sich abgrenzen – vor allem dann, wenn sie bis dato bekannt dafür waren, sich immer um alle anderen zu kümmern. Wenn sie plötzlich beginnen, öfter mal Nein zu sagen und für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen einzustehen, irritiert das. Aus dem Umfeld kommen dann nicht selten spitze Kommentare.
Was sind das so für Sprüche, die dann fallen?
«Warum bist du plötzlich so kompliziert?» Oder: «Warum auf einmal so egoistisch?» Und selbst wenn das Umfeld positiv reagiert, werden viele mit den eigenen Glaubenssätzen konfrontiert, wie: «Ich bin faul», «Ich leiste nicht genug» – auch unabhängig vom Geschlecht.
Gibt es altersbedingte Unterschiede im Umgang mit Stress?
Meine Klient:innen zwischen 20 und 30 kommen oft zu mir in die Therapie, weil sie im Studium oder Arbeitsumfeld einem starken Leistungsdruck ausgesetzt werden und nicht mehr so selbstverständlich willkommen und angekommen sind, wie sie es zu Hause erlebt haben. In ihrer Kindheit wurde ihnen viel Raum gewährt – sie durften sein, wie sie sind. Als Reaktion auf äussere Kritik oder Überlastung entwickeln sie dann relativ rasch körperliche Stress- und Angstsymptome, die sich aber meist gut therapieren lassen. Man könnte es so formulieren: Menschen, die in einem sehr unterstützenden und nährenden Umfeld aufgewachsen sind, haben zum Teil nicht so gut gelernt, eine gewisse Robustheit gegen Kritik, Konkurrenz und starken Leistungsdruck zu entwickeln.
Und die ältere Generation?
Vielen älteren Menschen, die zu mir in die Therapie kommen, wurde schon in der Kindheit beigebracht: Die Arbeit kommt vor dem Vergnügen. Sie durften tendenziell weniger Raum einnehmen und wurden emotional viel weniger gespiegelt. Sie haben gelernt, Gefühle und Bedürfnisse abzuspalten – was manchmal nützlich ist, aber auch gefährlich werden kann. Deshalb kommen sie oft erst dann in die Therapie, wenn es ihnen schon sehr schlecht geht. Ihre Symptome sind schwerwiegender; oft berichten sie über schon länger andauernde deprimierte Stimmung, Freudlosigkeit, Mangel an Interesse und Antrieb. Solche Menschen brauchen meist eine längere Therapie.
Was kann helfen, wenn man lernen möchte, sich besser abzugrenzen?
Zum Beispiel, eine vertraute Person in dieses Vorhaben einzuweihen, die dann immer wieder sagen kann: «Super! Du hast es geschafft, Nein zu sagen!» Man sollte wissen: Wenn man sich hinterher schlecht fühlt, ist das kein Zeichen dafür, dass man es nicht hätte tun sollen.
Nein?
Wir verlassen unsere Komfortzone, wenn wir uns anders verhalten, als wir es gewohnt sind. Da klingeln erstmal die inneren Alarmglocken, das ist ganz normal: Man hat ein schlechtes Gewissen, fühlt sich schuldig, hat auch Angst vor Ablehnung oder sogar einem Beziehungsabbruch. Aber: Der Erfolg ist erstmal nicht das gute Gefühl, das sich durch das Abgrenzen einstellt – sondern dass man es überhaupt getan hat. Nein- und Stoppsagen zu können, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, gesund zu bleiben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Eva Kaul ist Körperpsychotherapeutin mit eigener Praxis in Winterthur.
„Menschen, die in einem sehr unterstützenden und nährenden Umfeld aufgewachsen sind, haben zum Teil nicht so gut gelernt, eine gewisse Robustheit gegen Kritik, Konkurrenz und starken Leistungsdruck zu entwickeln.“ Wie sollte ich meine Kinder denn erziehen, um sie auf diese Welt vorzubereiten? Ich bin bisher davon ausgegangen, dass sie eine nährende und unterstützende Erziehung widerstandsfähiger macht.