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«Betrug kann befreiend sein»

Body & Soul

«Betrug kann befreiend sein»

  • Interview: Helene Aecherli, Sven Broder; Foto: Getty Images

Esther Perel revolutioniert mit tabulosen Ted-Talks und öffentlichen Paartherapiesitzungen derzeit unsere Vorstellung von Liebe und Treue. Ein Gespräch mit der New Yorker Psychotherapeutin über Menschen, die sich lieben – und trotzdem fremdgehen.

annabelle: Esther Perel, Treue ist das einzige Gebot, das in den Zehn Geboten gleich zweimal vorkommt: «Du sollst nicht ehebrechen» und «Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren». Was sagt uns das?
Esther Perel: Dass da jemand die Natur des Menschen sehr gut verstanden hat.

Das eine Gebot verbietet die Tat, das andere schon allein den Gedanken daran, also die Absicht.
Und das ist doch eher ungewöhnlich. Im Allgemeinen verwendet die jüdische Bibel nicht viel Zeit darauf, darüber zu sinnieren, was sich in den Köpfen der Menschen abspielt: Was interessiert, ist, was der Mensch tut, nicht, was er denkt. Aber Treue – und so sahen dies offenbar schon die alten Weisen – ist eben nicht nur eine Frage der Tat, sondern auch eine des Gedankens.

Wo beginnt Ihrer Meinung nach Untreue?
Früher war die Sache ziemlich einfach: Nach neun Monaten kam ein Baby auf die Welt, das nicht aussah wie sein Vater. (lacht)

Und heute?
Heute sind die Grenzen unscharf und sie breiten sich ständig weiter aus. Beginnt die Untreue, wenn Sie sich über Facebook wieder mit Ihrem Ex anfreunden? Wenn Sie in einer Bar mit einem anderen Typen flirten? Wenn Sie ins Massagestudio gehen mit «Happy End»? Wenn Sie Pornos schauen? Oder erst, wenn Sie über Webcams anderen Frauen beim Masturbieren zusehen? Wenn Gefühle im Spiel sind, aber kein Sex? Oder Sex, aber keine Gefühle? – Früher heiratete man und hatte das erste Mal Sex. Heute heiratet man und hört auf, Sex mit anderen Menschen zu haben. Monogamie bedeutete: eine Person fürs Leben. Heute bedeutet Monogamie: eine Person aufs Mal. Wer die moderne Untreue verstehen will, muss die moderne Gesellschaft und das Wesen moderner Beziehungen verstehen.

Und was bedeutet dies nun für Paare?
Dass Fragen wie «Was heisst Treue?» oder «Wo liegen unsere Grenzen?» zur Verhandlungssache geworden sind – und damit zum Diskussionsstoff für Paare. Dinge, die man früher höchstens mit sich selbst verhandelt hat, müssen heute besprochen und gemeinsam ausgehandelt werden.

Was die Sache nicht unbedingt einfacher macht.
Nein. Aber wir sollten auch nicht erst an unserem 90. Geburtstag damit anfangen, mit unseren Partnern über den Tod zu reden oder darüber, was wir im Falle einer schweren Krankheit erwarten. Solche Gespräche müssen in die Beziehung integriert werden. Damit man vorbereitet ist und man nicht jedes Mal, wenn man ein Verlangen nach jemand anderem verspürt, gleich meint, man müsse lügen oder sich verstecken. Kann man offen darüber reden, werden solche Themen weniger beängstigend – und oft lösen sich Probleme in Luft auf, wenn man sie einmal ausgesprochen hat.

Mit dem Thema Sex gehen wir mittlerweile sehr unverkrampft um. Warum also sind wir nach wie vor so intolerant, wenn es um Untreue geht?
Weil es nicht um Sex geht! Es geht um den Bruch eines Tabus, um die Störung einer Ordnung, um das Überschreiten einer Norm. Wir wissen zwar, dass Untreue transgressiv ist; dass wir uns da selber Regeln auferlegt haben, die wir unter Umständen wieder brechen. Aber das Verstossen gegen Regeln bleibt – auch wenn man sehr tolerant ist – eben immer ein Regelverstoss.

Wie wichtig ist der Schmerz, den wir fühlen, wenn wir betrogen werden, um den erlittenen Treuebruch zu beurteilen?
Die Frage ist doch: Was ist es überhaupt, das schmerzt? Und in welchem Kontext? Wenn Sie Ihren Mann jahrelang ignoriert haben, wird ein Betrug anders schmerzen, als wenn Sie sich wünschten, Ihr Mann würde Sie mal wieder so anschauen, wie er fremde Frauen ansieht, die nicht so aussehen wie Sie.

Vielleicht beginnt der Betrug dort, wo der Schmerz des anderen anfängt?
Und wo bleibt der eigene Schmerz? Zwei Menschen haben nicht immer dieselben Wünsche und Bedürfnisse, nicht dieselbe Sichtweise. Wer hat die Definitionsmacht? Hören Sie auf, weil es Ihrem Partner wehtut? Oder sagen Sie zu ihm: «Bitte, versuch zu verstehen, warum ich das tue. Das hat nichts mit uns zu tun, es ist ein privates Vergnügen und nichts, mit dem ich dich verletzen möchte.» Das ist der Diskurs, der geführt werden muss. Und für manche Paare ist dieser Diskurs ein Gespräch auf Augenhöhe, für andere verkommt er zum reinen Machtkampf.

Wiegt der Betrug heute schwerer, weil unsere Erwartungen an die Partnerschaft höher sind?
Heute wählen wir unseren Lebenspartner im Schnitt etwa zehn bis fünfzehn Jahre später als früher. Wenn wir The One endlich auserkoren haben, unseren Seelenverwandten, dann meinen wir, er sei alles für uns und wir alles für ihn. Er ist die Person, für die wir bereit sind, alle Apps dieser Welt zu löschen. In Zeiten, in denen der Sex noch primär eine eheliche Pflicht war und es niemanden interessierte, schon gar nicht den Ehemann, ob auch die Frau Spass dabei hat, hatte eine Affäre natürlich eine andere Tragweite. Unsere Grossmütter sagten sich vielleicht noch, wenn sie ihren Mann mit einer anderen erwischten: Na ja, wenigstens lässt er mich in Ruhe!

Heute hingegen ist unser Sexualleben, wie Sie betonen, direkt mit unserem Selbstwert verbunden. Was hat sich geändert?
Die Sexualität war lange einfach Teil unserer Biologie. Im Zuge der Frauen- und auch der Schwulenbewegung und aufgrund der Demokratisierung der Verhütung wurde die Sexualität sozialisiert. Sie gehört nicht mehr nur zu unserer Natur, sie gehört zu dem, was uns ausmacht, was wir sind. Aus diesem Grund ist die Sexualität auch viel stärker mit unserem Selbstwertgefühl verknüpft. Und weil die Selbstdefinition ein lebenslanger Prozess ist, ist auch unsere Sexualität nichts Abgeschlossenes. Wir verändern uns und mit uns verändern sich unsere Bedürfnisse, unsere Vorlieben, unsere Begierden.

Gibt es eine bestimmte Zeit zum Betrügen?
Menschen betrügen zu allen Zeiten und aus Millionen von Gründen. Einige davon sind in der Beziehung selbst angelegt: sexuelle Frustration, ständige Streitereien, ein Mangel an Kommunikation, Intimität oder Verbundenheit. Viele Menschen streben aber gar nicht danach. Sie stolpern über etwas, wonach sie nie gesucht haben. Untreue kommt auch bei Paaren vor, wo niemand die Absicht hatte, je mit einem andere Partner zusammen zu sein. Diese Menschen sind nicht auf der Suche nach einer neuen Lebensgeschichte, sie sind auf der Suche nach einer anderen Liebesgeschichte.

Warum betrügen auch Menschen, die im Grunde in glücklichen Beziehungen leben?
Wenn man sich für einen Partner entscheidet, entscheidet man sich für eine Geschichte. Und diese Geschichte weist einem eine bestimmte Rolle zu. Diese Rolle kann sehr starr werden. Man spielt sie durch, immer und immer wieder. Irgendwann wissen die Menschen nicht mehr, wie sie ihr Sein, ihr ganzes Wesen in dieser Geschichte unterbringen sollen.

Sie arbeiten seit 36 Jahren als Paartherapeutin. Was für Sätze hören Sie jeweils von Menschen, die ihre Partner betrügen?
Sätze wie: «Ich habe mich jahrelang um meine Kinder, meine Eltern und das Zuhause gekümmert. Jetzt tue ich etwas nur für mich.» Oder: «Ich bin ausgebrochen, jetzt fühle ich mich endlich wieder lebendig.» Die Sprache, die diese Menschen verwenden, ist eine Sprache der Selbstfindung. Sie wollen nicht ihren Partner verlassen. Sie wollen die Person verlassen, die sie geworden sind.

Aber ist das nicht auch egoistisch, rücksichtslos?
Menschen, die Affären haben, sind oft sehr verantwortungsbewusste Menschen. Sie zermürben sich geradezu selbst unter der Last des schlechten Gewissens. Aber das Verletzen von Regeln kann eben auch sehr befreiend sein, selbst wenn es die Regeln sind, die man sich selber auferlegt hat. Man empfindet die Affäre als eine Art göttliche Fügung: «Das Schicksal hat diese Person in mein Leben gebracht – und mit ihr ist etwas zurückgekehrt, das ich lange nicht mehr gespürt habe: Ich lebe!»

Hat die Monogamie ausgedient?
Nein, aber wie gesagt: Monogamie bedeutet heute viele neue Dinge. Ausgedient hat vielmehr die strikte Definition von Monogamie als sexuelle Exklusivität. Denn glauben Sie mir: Ich habe in meiner Arbeit mit Paaren viele sexuell exklusive Menschen erlebt, die sich in ihren Beziehungen ganz schrecklich verhalten haben. Man kann Monogamie nicht einfach als Zeichen seiner moralischen Überlegenheit nutzen. Beziehungsverrat hat viele Gesichter: Der Seitensprung ist nur eines davon. Es gibt andere – und die sind weiss Gott auch nicht das, was sich Paare in ihren Gelübden versprechen!

Aber Menschen wollen doch Sicherheit, Verlässlichkeit – auch innerhalb von Beziehungen?
​​​​​​Und da kommt eben dieser Köder Monogamie ins Spiel. Aber vielleicht gibt es ja ein Commitment, das keine sexuelle Exklusivität erfordert? Vielleicht gibt es einfach eine emotionale Exklusivität? Vielleicht gibt es ein Verständnis dafür, dass sexuelle Treue für manche Menschen nicht realistisch ist? Und dass man trotzdem eine erfüllte Beziehung führen kann. Monogamie wird nicht mehr einfach angenommen. Monogamie wird von einem Paar verhandelt und definiert.

Kann man nach einer Affäre zurück zu seinem alten Leben finden? Und wenn ja, wie?
Die besondere Kraft der Affäre liegt in ihrer Utopie; sie existiert nur im Verborgenen, dort kann man sie sich ausmalen, so grossartig und bunt, wie man möchte. Das Problem ist: Wer eine Affäre hat, glaubt, all diese wunderbaren Dinge wieder zu verlieren, sobald er sie beendet. Aber man muss nicht zurückkehren und mit dem Rest weiterleben, der einem geblieben ist. Man kann durchaus auch ein paar tolle Dinge von diesem Trip nachhause mitbringen.

Das muss in den Ohren einer Betrogenen doch schon fast zynisch tönen?
Aber es ist ja nicht immer nur die Person, die fremdgeht, die etwas Mächtiges erlebt. Oft höre ich Betrogene Dinge sagen wie: «Ich habe mit meinem Partner jahrelang in dieser Sackgasse gelebt. Jetzt möchte ich die Person kennenlernen, die diese Affäre hatte.» Sobald man sich klar macht, dass der Partner vielleicht auch diese Person treffen möchte, die man war, als man ihn hintergangen hat, arbeitet man auf ehrliche Integration hin.

Kann eine Affäre also auch ein Heilmittel für eine Beziehung sein?
Eine Partnerschaft ist nicht nur eine Verbindung von zwei Menschen, sie ist ein Netzwerk: Man hat vielleicht Kinder zusammen, ein Geschäft, gemeinsame Freunde. Hat man dann einen Partner, der sich nicht für Sex interessiert, führt sonst aber eigentlich eine gute Beziehung – soll man deswegen alles sausen lassen? In einem solchen Fall kann eine Affäre eine Ehe durchaus dauerhaft machen, sie stabilisieren, ausbalancieren. Sie sorgt dafür, dass Menschen dort bleiben können, wo sie bleiben wollen, und sich verpflichtet fühlen zu bleiben. «Ich bin nicht treu, aber ich bin loyal»: Unsere Grosseltern haben diesen Satz noch gut verstanden, aber heute darf man ihn fast nicht mehr aussprechen.

Was kann man tun, damit es trotzdem nicht so weit kommen muss?
Darüber habe ich in «Mating in Captivity» ein ganzes Buch geschrieben. Dort steckt alles drin.

Auf Deutsch erschien das Buch unter dem Titel «Wild Life». Den englischen Originaltitel würde man jedoch übersetzen mit: «Paarung in Gefangenschaft». Tönt nun nicht gerade nach lustvollem Exzess?
Es geht darum, wie wir in langjährigen Beziehungen unser Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität mit unserem Bedürfnis nach Freiheit und Abenteuer in Einklang bringen können. Wie verhindern wir, dass wir unsere interessanten Gespräche irgendwann nur noch mit unseren Freunden führen? Wie bewahren wir das Verlangen nach etwas, das wir schon haben, das wir bereits kennen? Dies sind die zentralen Herausforderungen moderner Beziehungen – und ja, es ist eine tägliche Herausforderung, die Liebe am Leben zu erhalten.

Und – wie schaffen wir es, ganz konkret?
Wenn Paare gemeinsam vertraute Dinge tun, die sie geniessen, ist das gut für ihre Bindung.

Also zusammen Netflix schauen?
Ja. Aber Spannung und Leidenschaft erzeugt das nicht, dazu braucht es Erlebnisse, die das Gewohnte sprengen. Es geht darum, gemeinsam neue Erfahrungen zu sammeln, neue Entdeckungen zu machen, die für beide Seiten auch mit einem gewissen Risiko verbunden sind: Das weckt das gegenseitige Begehren.

Das bedeutet aber, dass beide Seiten auch das nötige Commitment an den Tag legen müssen?
Nun, grundsätzlich muss man sich immer auch vor Augen halten: Was wir heute von einer Beziehung erwarten, ist noch nie zuvor von einer Beziehung erwartet worden. Und was wir heute von einem einzelnen Menschen erwarten, erwarteten wir früher von einer ganzen Dorfgemeinschaft. Unsere Erwartungen sind also massiv gestiegen – gleichzeitig jedoch sind unsere Ressourcen gesunken: Menschen leben heute viel isolierter als früher. Paare noch isolierter als Singles – und Paare mit Kindern sind die isoliertesten von allen.

Sie selbst waren 22 Jahre alt, als Sie Ihren Mann kennengelernt haben. Sie haben mit ihm zwei Söhne grossgezogen und sind noch immer mit ihm zusammen. Wie lautet das Geheimnis Ihrer Beziehung?
Wir langweilen uns nie.

Wie soll das gehen?
Mein Mann und ich haben eine sehr starke intellektuelle Bindung. Wir fordern uns gegenseitig immer wieder heraus – mit unserer Arbeit, mit den Fragen, die wir uns stellen. Auch wenn er mir mal auf die Nerven geht und ich ihn nicht ausstehen kann, finde ich ihn trotzdem noch faszinierend. Das hilft, um über Krisen und Beziehungstiefen hinwegzukommen!

Sie halten oft Vorträge, manchmal vor Tausenden von Leuten. Gerne fragen Sie dann das Publikum, wer in seinem Leben bereits Untreue erlebt hat – und angeblich sollen jeweils 80 Prozent die Hand heben. Wären Sie selbst dazu aufgefordert, ginge Ihr Arm auch nach oben?
Sie wissen, dass ich diese Frage nicht beantworte – auch wenn Sie sie gut verpackt haben. (lacht)

Statistisch gesehen sollen Frauen die Männer in Sachen Untreue eingeholt haben. Stimmt das?
Ja. Bei Frauen haben wir in den letzten Jahren tatsächlich einen Anstieg der Untreue um rund 40 Prozent festgestellt. Bei den Männern sind die Zahlen relativ unverändert geblieben. Früher hat man immer gedacht, dass Frauen einfach monogamer sind oder aus anderen Gründen betrügen. Dabei hat man schlicht und einfach ausser Acht gelassen, dass die Konsequenzen nicht mehr dieselben sind. Wenn eine Frau Angst haben musste, danach mittellos zu sein oder dass ihr das Kind weggenommen wird, sie ins Kloster gesteckt oder exkommuniziert wird, dann hat sie es besser einfach gelassen. Noch heute gibt es neun Länder auf der Welt, in denen Frauen wegen Ehebruchs gesteinigt werden können!

Aber mit irgendwem haben die Männer ihre Frauen über all die Jahrhunderte ja betrogen?
Es passierte. Aber es passierte im Verborgenen. Die Affäre ist etwas, das die Gesellschaft vor allem den Männern zugestanden hat – nicht den Frauen. Monogamie war in erster Linie für sie ein Korsett, aus ökonomischen Gründen und aus Gründen von Erbschaft und Stammbaum. Männer wollten stets genau wissen, wessen Kinder sie da aufziehen und wem sie ihre Kühe vererben. Im Grunde unterscheiden sich Mann und Frau also nicht, was ihre Triebhaftigkeit anbelangt? Nein, wenn es um Sexualität geht, um Begehren, Leidenschaft, Transzendenz und spirituelle Liebe sind wir uns ziemlich ähnlich. Was Frau und Mann jedoch trennt, ist die Sprache, die die Gesellschaft dem jeweiligen Geschlecht zugesteht.

Wie meinen Sie das?
In unserer typischen Sichtweise auf den Mann als dieses biologistische, triebgesteuerte Wesen dürfen «richtige» Männer zwar über Sex reden, aber sie dürfen keine anderen emotionalen Bedürfnisse äussern. Er darf nicht eingestehen, dass er einsam ist, umarmt und umsorgt werden will. Also verhüllt er diese Bedürfnisse in einer Sprache der Sexualität. Statt zu sagen, dass er Nähe braucht, sagt er einfach: «Ich bin geil!» Frauen wiederum dürfen ihre sexuellen Bedürfnisse nicht geltend machen, also befriedigen sie diese in einer Sprache der Emotionen. Frauen wollen Liebe, Männer wollen Sex? Nein, manche Männer wollen genauso viel Liebe und manche Frauen genauso viel Sex.

Haben Frauen eigentlich andere Strategien beim Betrug als Männer?
Interessant ist, dass Frauen, die Affären haben, sich im Vergleich zu den Männern weniger schuldig fühlen.

Weil sie sich berechtigter fühlen?
Genau. Sie sagen sich: «Ich habe genug gegeben, mich genug um andere gekümmert. Jetzt bin ich dran.»

Entschuldigt auch die Gesellschaft die weibliche Untreue heute eher als die männliche?
Es ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits sind wir tatsächlich eher bereit, die Verletzlichkeit der Frau zu sehen als diejenige des Mannes. Geht sie fremd, sagt man eher mal: «Sie wurde so mies behandelt, kein Wunder, hat sie ihn betrogen.» Ist die Frau jedoch die Geliebte, bekommt sie als Verführerin das ganze Fett ab: «Hätte sie ihm nicht so schöne Augen gemacht und den Sex derart forciert, wäre es nie so weit gekommen.»

Warum dieses Bild der bösen Verführerin?
Weil es einfacher ist, wütend auf die Geliebte zu sein. Richtet man seinen ganzen Zorn auf sie, also auf eine dritte Person, schützt man automatisch die eigene Beziehung mit seinem Partner.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Hillary Clinton damals bei Bill geblieben ist, nachdem dieser sie mit einer Praktikantin im Weissen Haus betrogen und in aller Öffentlichkeit gedemütigt hat?
Vielleicht gab es in ihrem Leben keinen anderen Menschen, der sie mehr unterstützt hat als Bill. Niemanden, der mehr an sie geglaubt hat als Bill. Vielleicht blieb sie, weil ihr der Seitensprung vor Augen führte, dass sie selbst ihren Mann und dessen Bedürfnisse jahrelang ignoriert hatte. Kurz gesagt: Wir wissen es nicht. Aber interessanter als die Frage, warum sie geblieben ist, ist doch die Frage: Warum haben sie alle dafür verurteilt, dass sie geblieben ist.

Ja, warum eigentlich?
Weil man sich offenbar einig ist: Jetzt, da man als Frau gehen kann, muss man als Frau auch gehen!

Wer bleibt, verrät, wofür der Feminismus jahrelang gekämpft hat?
Genau. Aber warum lautete die öffentliche Meinung eben nicht: Beziehungen sind komplexe Systeme, und die Ehe ist nie nur eine Geschichte zwischen zwei Menschen et cetera …

Wie haben Sie als Paar- und Psychotherapeutin die ganze #MeToo-Debatte erlebt?
Ich fand sie fantastisch. Denn sie hat Dinge auf den Tisch gebracht, über die zuvor nie öffentlich ehrlich diskutiert wurde. Erstens: die fundamentale und systematische Ungleichbehandlung der Geschlechter am Arbeitsplatz. Zweitens: die sexuelle Gewalt beziehungsweise die Vorstellung mancher Männer, es stehe ihnen da etwas zu, einfach weil sie Mann sind und die Macht dazu besitzen – diese Unart, wie Männer sich gegenseitig ihre Männlichkeit beweisen, indem sie Frauen benutzen.

Sie reden in diesem Zusammenhang vom Missverständnis zwischen Macht und Ohnmacht. Was meinen Sie damit?
Mächtige Männer belästigen nicht. Mächtige Männer verführen. Es sind die machtlosen Männer, die Frauen herabsetzen.

Das müssen Sie erklären.
Nun, was viele Männer erleiden und womit sie enorm zu kämpfen haben, ist Erniedrigung. Die Belästigung ist im Grunde die Übertragung der eigenen Scham und Erniedrigung auf die Frau.

Was halten Sie von Detektiven, die die Treue von Partnern testen?
Dafür braucht es ja keine Detektive mehr, das GPS auf dem Handy reicht völlig! Tatsächlich war es noch nie so einfach, untreu zu sein wie heute. Aber es war auch noch nie so schwer, ein Geheimnis zu bewahren. Die Frage ist jedoch: Was fangen Sie dann mit Ihrem Wissen an? Wollen Sie ihn in die Folterkammer stecken? Und was bedeutet es eigentlich, wenn man eine Beziehung überwacht? Untergräbt man damit nicht jegliches Vertrauen? Es ist doch letztlich wie bei einem Babysitter: Brauchen Sie eine Babycam, um ihn zu überwachen – stellen Sie ihn einfach nicht ein!

Wann ist es angebracht, eine Affäre zu verschweigen, und wann ist es besser, sie zu gestehen?
Wann ist nicht die Frage, sondern: Warum? Wie lautet die eigentliche Message dahinter? Geht es um Ehrlichkeit und Vertrauen oder geht es nur darum, sein Gewissen zu entlasten? Denn wer betrügt, wird sich danach besser fühlen, keine Frage. Aber der Betrogene wird sich zurückziehen, körperlich wie seelisch. Und er wird sich danach bei jedem Kuss fragen, ob er wirklich der richtige Empfänger dieser Liebkosung ist.

Dann also besser schweigen?
Nein. Wollen sie ihn ehrlich verlassen, dann los: Sagen Sie es ihm! Übernehmen Sie Verantwortung! In vielen Fällen wird das Geständnis auch genutzt, um einen Schlussstrich unter die Affäre zu setzen. Man benutzt – oder missbraucht? – den anderen quasi als Limitmaker, als denjenigen, der die Grenze zieht.

Weil man dazu allein nicht imstande war?
Ja. Wer eine Affäre nicht beenden möchte, beichtet sie nicht. Gibt es jedoch etwas Fundamentales, das man entdeckt hat, etwas, das man in seiner Beziehung vermisst, dann sollte man darüber reden – nicht darüber, dass man eine Affäre hat! Denn sonst wird automatisch der Seitensprung das grosse Thema sein und nicht das, was das eigentliche Thema sein sollte: nämlich, dass Sie realisiert haben, dass Ihnen in der aktuellen Partnerschaft etwas Substanzielles fehlt. Reden Sie ehrlich und offen darüber, was Sie in Ihrer Beziehung vermissen, wird die Affäre einen ganz natürlichen Tod sterben.

Haben Sie als Paartherapeutin eigentlich einen Instinkt dafür, wann in den Beziehungen Ihrer Klientinnen und Klienten noch ein Funken Liebe steckt?
Wenn sie kämpfen! Solange Menschen dies tun und versuchen, doch noch irgendwie zum anderen durchzudringen, ist Wärme da. Negative Wärme vielleicht, Reibungsenergie, aber damit kann man als Therapeutin zumindest arbeiten. Wenn Menschen sich nur noch teilnahmslos gegenübersitzen, völlig besiegt, voller Verachtung für einander, wird es schwierig. Verachtung ist der wahre Killer.

Verheiratete könnten befürchten, beim Lesen von «Die Macht der Affäre» auf falsche Ideen zu kommen. Warum ist es trotzdem ein Buch gerade auch für sie?
Alles, was man während einer Affäre tut und erlebt, möchte man eigentlich in seiner Beziehung tun und erleben. Deshalb ist dieses Buch im Grunde kein Buch über Seitensprünge, sondern ein Buch über die Liebe. Es benutzt die Linse der Untreue, um das tiefere Wesen moderner Beziehungen zu verstehen.