Liebe & Sex
Bestseller-Autorin Molly Roden Winter: «Wer als Ehefrau nicht monogam lebt, gilt schnell als Hure»
- Text: Sarah Lau
- Bild: Nina Subin
US-Autorin Molly Roden Winter und ihr Mann leben in einer offenen Ehe. Die zweifache Mutter ist bis heute überzeugt von diesem Schritt – trotz Eifersucht, Schuldgefühlen und Stigmatisierung.
Das lange braune Haar noch ein wenig strubbelig, wollige Oversize-Strickjacke, dazu Kaffee aus einem Keramikbecher: Als Molly Roden Winter (51) auf dem Bildschirm auftaucht, ist es in New York zehn Uhr am Morgen. Seit dem Erscheinen ihres Buchs «More. A Memoir of Open Marriage» im Januar kann die Welt nachlesen, wie die zweifache Mutter Sex aller Art mit Männern aller Art hat. Wie ihr Mann sie dazu ermunterte und sie seit 16 Jahren eine offene Ehe lebt.
Diese Memoiren sind weit mehr als nur ein intimer Abenteuerbericht. Immerhin geht es auch um die gesellschaftliche Dimension im Umgang mit ausserehelicher Lust: die Schuldgefühle und das Infragestellen von Rollenbildern. Einen Ratgeber zu Polyamorie habe sie nie schreiben wollen, sagt Winter: «Ich erzähle einfach nur meine Geschichte.» Und das so facettenreich, dass bereits Netflix Interesse an einer Verfilmung angemeldet hat.
annabelle: Molly Roden Winter, eine offene Ehe zu führen, ist das eine, etwas anderes ist es, darüber zu schreiben. Was gab den Anstoss dazu?
Molly Roden Winter: Ich lebe in New York und hier ist Polyamorie im Mainstream angekommen. Aber nichts von dem, was ich je dazu gelesen habe, entsprach meinen Erfahrungen. Ich habe realisiert, dass ich zu den Wenigen gehöre, die mutig genug sind, darüber zu schreiben.
Warum braucht es Mut?
Menschen, die in einer offenen Beziehung leben oder über eine solche nachdenken, werden fast immer stigmatisiert. Besonders Frauen, besonders wenn sie verheiratet sind. Wer als Ehefrau nicht monogam lebt, gilt schnell als Hure.
Sie waren neun Jahre verheiratet und der jüngere Sohn gerade vier Jahre alt, als Sie sich mit Ihrem Mann entschieden, eine offene Beziehung zu führen. Der Auslöser war Matt, Ihr erster ausserehelicher Flirt. Sie lernten ihn eines Abends in einer Bar kennen und tauschten Nummern mit ihm.
Es war berauschend, trotz meiner ungewaschenen Haare und den Flecken auf meinem Shirt als attraktiv wahrgenommen zu werden. Für mein ausgebranntes Ich war es eine Wohltat, begehrt zu werden.
Ihr Mann ermutigte Sie dazu, sich weiter mit Matt zu treffen. Warum gingen Sie darauf ein?
Weil ich mich gefangen fühlte in diesem Sumpf aus Mutterpflichten, Haushalt und Alltagstrott. Sicher richtete sich dieser Schritt auch gegen meinen Mann Stewart und das patriarchalische System, das unsere Dynamik hervorgebracht hatte. Aber ganz ehrlich: es waren auch einfach Lust und Neugierde mit im Spiel.
Auch Ihr Mann traf bald andere Frauen. Während es ihm leichtfiel, waren Sie von Zweifeln geplagt. Warum?
Ich haderte und hatte Angst, unsere Ehe zu gefährden. Ich empfand «Mother’s Guilt» – Mutterschuld. Als Mutter musst du deine Sexualität abschalten, zumindest in der amerikanischen Kultur, sonst versaust du die Kinder. Sexuelles Verlangen erscheint unvereinbar mit der Verantwortung für die Familie.
Anzeichen dieser Desexualisierung von Frauen tauchen manchmal schon beim Junggesellenabschied auf: Während Männer tendenziell eher mit Partys in Stripclubs verabschiedet werden, gibt es für Frauen ein Spa-Weekend – als ob sie sich noch ein letztes Mal erholen sollen.
Das Narrativ der Gefangenschaft im Zusammenhang mit der Ehe scheint Männern vorbehalten zu sein: Die «letzte Nacht in Freiheit», «die Fesseln der Ehe» und so weiter. Von Frauen wird erwartet, dass sie den Mann daheim halten, ohne selbst das Haus zu verlassen. Frauen wird beigebracht, sich über ihre Rollen zu definieren: perfekte Ehefrau, perfekte Geliebte, perfekte Mutter. Diese stehen im Widerspruch zueinander und wo unser eigenes Begehren da hineinpasst, wissen wir oft nicht einmal selbst. Auch ich entsprach diesem Stereotyp.
Inwiefern?
Ich war eine dieser typischen «Park-Slope-Mütter». Hier macht man Yoga, schiebt den Kinderwagen, stillt und alle tragen Shirts mit Mottos wie «Die Zukunft ist weiblich». Ich habe in diesem System funktioniert und war nicht mehr in der Lage, mir einen anderen Hut aufzusetzen. Es ist Müttern nicht erlaubt, ihr ganzes Dasein einzubringen, nur ein kuratiertes Selbst. Aber ich verspürte den Drang, mich mit meiner dunklen Seite zu beschäftigen, meinem Schattenselbst, dem Teil von mir, der nicht diesem gesellschaftlichen Bild entsprach.
«Mein Mutter-Ich und mein sexuelles Ich hatten bis dato voneinander abgeschottet gelebt»
Ihr Buch beginnt mit dem Anruf Ihres damals 13-jährigen Sohnes, der fragt, ob seine Eltern eine offene Ehe führen. Sie gerieten in Panik.
Ja, ich fühlte mich ertappt. Es war wie in einem dieser Albträume, in denen man eine Rede hält und merkt, dass man untenrum nackt ist. Mein Mutter-Ich und mein sexuelles Ich hatten bis dato voneinander abgeschottet gelebt. Die Vorstellung, meine Söhne mit meinem Lebenswandel zu beschämen, liess mich durchdrehen. Bevor schliesslich das Buch erschien, habe ich nochmal mit ihnen gesprochen. Aber die beiden sind inzwischen 19 und 21 und fragen sich schon länger nicht mehr, was Mama denn so jeden Abend treibt.
Und was sagten eigentlich Ihre Eltern?
«Schreib dieses Buch, als wenn wir es nie lesen würden.» Das half. Trotzdem kostete es viel Überwindung, ihnen ein Exemplar zu geben – die Menge an Sexszenen hatte ich verschwiegen und lassen Sie mal Ihren eigenen Vater über Ihre Erfahrungen mit Anal Plugs und Gruppensex lesen. «Die heissen Szenen habe ich übersprungen», teilte er mir mit und auch, dass es eine wirklich gute Geschichte sei und er sie gleich zwei Mal gelesen habe. Meine Mutter kämpft bis heute mehr damit, was andere denken könnten, aber auch sie steht hinter mir.
In Ihrem Buch schildern Sie, wie Sie einmal von Zweifeln zerfressen Ihre Mutter fragten, ob eine offene Ehe Ihre Beziehung ruinieren wird …
… und diese süsse, alte Dame war in der Lage, mich zu beruhigen: «Oh nein, Schätzchen, das ist in Ordnung. Stew und du, ihr liebt euch, ihr redet miteinander und so wird das alles eine Bereicherung für euch sein.» Wessen Mutter würde schon so reagieren? Die meisten würden doch sagen: Du musst damit aufhören!
Sie schreiben, dass Ihre Eltern ebenfalls eine offene Ehe führten.
Ja, das erfuhr ich allerdings erst sehr viel später, sie lebten mir dieses Modell nicht vor. Zuhause haben wir nie über Sex gesprochen. Ich habe meiner Mutter nicht mal etwas erzählt, als ich meine Periode bekam. Dennoch bekam ich mit, wie befreit und fröhlich sie klang, wenn sie mit ihrem besten Freund Jim telefonierte. Sie war ansonsten oft etwas zugeknöpft und darauf bedacht, das Richtige zu tun. Mit Jim war sie gelöst und sicher habe ich mich unbewusst auch nach einer solchen Freundschaft gesehnt.
«Ich habe jahrelang versucht, mich als coole Tante zu verkaufen, und setzte auf reine Sexdates. Aber das war unbefriedigend»
Wie haben Sie es schliesslich geschafft, Ihre Lust von dieser Mutterschuld, wie Sie sie nennen, zu entkoppeln?
Das hat lange gedauert und wurde erst besser, als die Kinder grösser wurden und nicht mehr so auf mich angewiesen waren. Mit der abebbenden Schuld erkannte ich, dass es gut für meine Jungs war, eine glückliche Mutter zu haben, und dass ich meinen Bedürfnissen folgen sollte.
Ihre Botschaft an die Mütter lautet also: Mehr Egoismus statt Selbstlosigkeit?
Ich bin überzeugt davon, dass wir als Eltern unsere Kinder schützen müssen. Doch wenn ich alle meine Entscheidungen unter der Prämisse getroffen hätte, ob meine Kinder damit umgehen können, dann sässe ich jetzt hier mit all diesen verpassten Möglichkeiten. Frauen wird noch immer beigebracht, Hochzeit und Kinder als ihr grosses Ziel anzusehen. Dabei vergessen wir, dass die Zeit mit den Kindern daheim nur sehr begrenzt ist. Es gilt, sich zu fragen, wie der Zeitrahmen des gesamten Lebens aussehen könnte. Und das am besten, bevor die Kinder unabhängig werden.
Diese Teile zusammenzubringen, das Muttersein und das Ausbrechen, war für Sie der schwierigste Teil, wie Sie schreiben. Wie wirkte sich das auf Ihr Liebesleben aus?
Ich wollte erst emotional unangetastet bleiben, probierte es zunächst mit Regeln – nicht verlieben, niemandem aus dem Umfeld daten. Ich habe jahrelang versucht, mich als coole Tante zu verkaufen, und setzte auf reine Sexdates. Aber das war unbefriedigend. Ich musste feststellen, dass ich eigentlich an tieferen Verbindungen interessiert bin.
Apropos Dates, wie läuft das rein logistisch? Woher kommen neue Partner?
Online-Dating. Am Anfang empfand ich es als notwendiges Übel, wenn mir auch die App Tinder nach wie vor zu oberflächlich ist. Ich setze auf Ok Cupid, einfach weil man hier sehr detailliert abgefragt wird und auch «nicht monogam» als Suchkriterium angeben kann. Manche Menschen vermissen an Dating-Apps die Romantik, auf der anderen Seite stolpert man hier eher über Gleichgesinnte. Als ich 2015 damit anfing, war das noch anders, es gab einfach nicht sonderlich viele polyamore Kandidat:innen – da wurde mir auch immer wieder Stewart als Match vorgeschlagen. Deprimierend für uns beide, aber auch lustig.
Bevor Sie bei Ok Cupid landeten, testeten Sie eine Fremdgehseite. Laurent, den Sie dort trafen, zieht entgegen der Absprache kein Kondom an beim Sex. Bereuen Sie die Episode?
Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir noch lange einzureden versucht, wie aufregend das alles war. Erst viel später, als ich die grossartige britische Serie «I May Destroy You» gesehen habe, wurde mir bewusst, dass Stealthing – also, wenn der Sexualpartner heimlich das Kondom abstreift – eine Form von Missbrauch ist, die als Sexualverbrechen eingestuft wird. Aber ich bereue nichts. Entscheidungen, die ich heute als schlecht bezeichnen würde, haben mir ja auch geholfen, mich besser kennenzulernen.
Zentrale Voraussetzung für das Funktionieren einer offenen Ehe, schreiben Sie, sind Ehrlichkeit und Dialog, was Ihnen gelungen ist: Sie sind mit Stew – auch mit therapeutischer Unterstützung – stets im Gespräch geblieben. Was macht es so schwierig, in der Beziehung über seine sexuellen Bedürfnisse zu sprechen?
Zum einen wissen wir oft selbst nicht, was wir wollen, und setzen zudem voraus, dass liebende Partner:innen zu wissen haben, was in uns vorgeht. Dann ist da noch die Angst vor unliebsamen Antworten und das Gefühl des Versagens, wenn man es nicht schafft, eine funktionierende Partnerschaft zu führen. Ich erinnere mich noch genau an die Zeit, in der ich glaubte, in meiner Beziehung zu meinem Mann zu scheitern. Alles wurde zur Verpflichtung, selbst der Sex mit Stew.
Wie kam das?
Wer Kinder aufzieht, ist einfach müde und überlastet. Ich erinnere mich an den kleinen, steten Groll in meinem Hinterkopf: Lass uns bloss schnell machen, denn eigentlich will ich jetzt viel lieber schlafen.
Neben Moralvorstellungen ist es doch vor allem Angst vor dem grossen Liebeskummer, der Menschen von einem polyamoren Leben abhält, nicht?
Als ob Menschen in monogamen Ehen nicht auch weinen würden oder wütend sind. Die Hälfte aller Ehen in den Vereinigten Staaten wird geschieden. (In der Schweiz sind es rund vierzig Prozent, Anm. d. Red.) Dennoch stellen wir diese alte Dynamik immer noch nicht infrage. Das Grösste, was mein Mann und ich uns gegenseitig zugestehen, ist die völlige Freiheit und Autonomie, die Person sein zu dürfen, die man ist.
Und wie sieht das konkret im Alltag aus?
Nun, als ich Stew letzte Woche fragte, wann wir uns sehen, stellte sich heraus, dass er jeden Abend weg ist. Früher hätte mich das belastet, heute freue ich mich auch über den Raum. Ich habe mit dem Boxen angefangen, spiele in einer Band und meditiere. Über die Jahre habe ich gelernt, in mir selbst Reichtum zu finden. Kann ich nur empfehlen. Und wenn ich Stew an unserem gemeinsamen Samstag sehe, geniessen wir die Zeit zusammen.
Bald 16 Jahre nach Ihrem ersten ausserehelichen Date wohnen Sie immer noch mit Stewart in Brooklyn und bezeichnen ihn als Hauptbeziehung. Wie steht es um die anderen Beziehungen?
Ich bin seit drei Jahren mit einem Barbesitzer aus Bushwick zusammen und gerade frisch in eine weitere Beziehung gestartet. Dieser neue Freund ist auch nicht monogam und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie unsicher ich bin. Ich drehe fast durch bei dem Gedanken, ob er gerade noch andere Dates hat, und wünschte, ich wäre weiter in meiner Entwicklung.
Und wie gehen Sie damit um?
Zumindest habe ich in all den polyamoren Jahren gelernt, meine Ängste zu formulieren: «Ich möchte mehr von deinen Dates wissen, weiss aber nicht, ob ich mit den Details umgehen kann.» Und er sagt: «In Ordnung» und weiss, woran er ist. Auch wenn das für mich irgendwie peinlich ist.
Warum peinlich?
Na ja, jetzt habe ich zwar dieses Buch geschrieben, aber so richtig stehe ich anscheinend immer noch nicht über den Dingen.
Peinlich ist Ihnen ansonsten wenig. Sie schreiben nicht nur offen über Sexualität und Beziehung, sondern auch über Probleme beim Wasserlassen und störende Haare an den Brustwarzen. Es scheint, als könne Sie nichts schrecken?
Doch, vieles ist mir total peinlich, aber ich schreibe dennoch darüber. Gerade fällt meine letzte Hemmschwelle, denn um ehrlich zu sein: Ich furze neuerdings beim Sex, und das macht mir wirklich zu schaffen. Ich habe noch nicht einmal mit meinem neuen Partner darüber geredet, wohl aber mit Stewart und auch meinem anderen Freund, mit dem ich seit drei Jahren zusammen bin. Sie beide meinen, dass ich nur durchschnittlich viel furze. Ich war erstaunt und erleichtert, dass es offenbar auch andere Frauen gibt, denen das passiert. Ich sags ja: Reden hilft.
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