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Autorin Eva Biringer: «Schmerzen von Frauen werden oft nicht ernst genommen»

Gesundheit

Autorin Eva Biringer: «Schmerzen von Frauen werden oft nicht ernst genommen»

In ihrem neuen Buch «Unversehrt» beleuchtet Eva Biringer weiblichen Schmerz. Ein Gespräch über den «Gender Pain Gap», die Maskulinisierung der Medizin und warum es an der Zeit ist, auf unseren Schmerz zu hören.

annabelle: Anstoss für Ihr neues Buch ist die Geschichte Ihrer Grossmutter, die zeitlebens an Schmerzen gelitten hat, dafür aber nie eine Linderung fand, sondern einfach immer mehr Medikamente erhielt. Wann haben Sie das zum ersten Mal hinterfragt?
Eva Biringer: Ich habe meine Grossmutter immer als Person erlebt, die viele Schmerzen hat. Als Teenagerin begann ich das zu hinterfragen, aber erst in den letzten Jahren wurde mir klar, dass es System hat, wie mit weiblichem Schmerz umgegangen wird.

Sie beschreiben im Buch den Begriff «Gender Pain Gap», der besagt, dass weiblicher Schmerz anders bewertet wird als männlicher. Können Sie das erläutern?
Studien zeigen, dass Frauen mit denselben Symptomen wie Männer von Ärzt:innen eher Psychopharmaka verschrieben kriegen, Männer hingegen Schmerzmittel. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Männer ihren Schmerzen weniger Ausdruck verleihen, weil sie so sozialisiert wurden. Heisst: Wenn sie Schmerz äussern, dann muss es wirklich schlimm sein. Wohingegen Frauen paradoxerweise mehr Schmerz zugestanden wird, schon rein biologisch, sie aber gleichzeitig als das empfindliche Geschlecht gelten.

Woher kommt die paradoxe Annahme der höheren Schmerztoleranz und gleichzeitigen übertriebenen Empfindlichkeit? 
Schon bei den alten Griechen galt die Frau als unterlegen und ihrem Körper hilflos ausgeliefert. Man nahm damals an, die Gebärmutter würde im Körper umherwandern und mal hier und mal dort andocken. So absurd das tönt, wird noch heute vielen Frauen grundlos der Uterus entnommen. Weil die Operation Geld in die Kasse spült, aber auch weil die Gebärmutter oft stellvertretend als Problem herhalten muss. Stichwort «Bikinimedizin»: Bei Frauen wird schnell davon ausgegangen, alle Probleme rühren von den Geschlechtsorganen her. Zudem ist die Medizin von Männern gemacht. Jahrtausendelang kamen Frauen nur als Patientinnen vor. Und auch wenn es heute mehr Ärztinnen als Ärzte, mehr weibliche als männliche Medizinstudent:innen gibt, dünnt es sich nach oben aus. Chefposten besetzen immer noch grösstenteils Männer.

Was bedeutet das für Frauen, wenn sie Mediziner:innen gegenüber ihren Schmerz äussern?
Nicht alle Ärzt:innen sind gleich, aber viele Frauen machen die Erfahrung, dass ihre Schmerzen einfach nicht ernst genommen werden.

Ist das mit dem Begriff «Medical Gaslighting» gemeint?
Genau. Da spielt auch der Hysterie-Vorwurf mit hinein, der Frauen immer noch schnell entgegengebracht wird: Sie seien empfindlich, zart besaitet, würden übertreiben. Körperliche Schmerzen werden daher schnell zu was Psychischem stilisiert. Statt genauer hinzuschauen, wo körperliche Ursachen sein könnten, greifen Ärzt:innen oft zum Beruhigungsmittel.

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«In der Kultur- und Kunstszene wird weiblicher Schmerz regelrecht fetischisiert»

Im Buch schreiben Sie auch, dass viele Medikamente ausschliesslich an Männern getestet wurden – und immer noch werden. Teils sogar für sehr frauenspezifische Krankheiten. Inwiefern reagiert der Frauenkörper anders auf Medikamente als der von Männern?
Der ganze Organismus funktioniert anders. Die verschiedenen Hormone haben einen grossen Einfluss auf sämtliche Stoffwechselprozesse. Ausserdem ist Fett anders verlagert. Man müsste Studien also nach Geschlecht getrennt durchführen – und in der Frauengruppe zudem den Zyklus und das Alter berücksichtigen, weil sich da der Hormoncocktail noch mal neu mischt. Lange Zeit wurde das ignoriert, man rechnete einfach das Gewicht runter und gab Frauen dann nur die halbe Dosis. Das geht überhaupt nicht auf.

Die Medikamentenabgabe verdecke die Ursache von Schmerzen – und verhindere so, dass wir über Schmerzen sprechen, kritisieren Sie. Wie kommen wir aus dem Teufelskreis raus?
Indem wir selbst unseren Schmerz erst mal wahrnehmen und annehmen. Hinhören, hinschauen, wo er herkommt – und ihn eben nicht direkt ruhigstellen. Wenn man jede Woche zig Aspirin nimmt, ist das auch eine Form von Ruhigstellen – geschweige denn starke Psychopharmaka.

Weiblicher Schmerz werde abgewertet und übergangen, gleichzeitig aber immer dann interessant, wenn er sich als Geschäftsmodell eigne, schreiben Sie in Ihrem Buch. 
In der Kultur- und Kunstszene wird weiblicher Schmerz regelrecht fetischisiert; in Form der schönen Leiche beispielsweise in Bildern, Filmen, Musik. Die verletzte Frau wird sexualisiert. Und gleichzeitig verdient die Schönheitsindustrie an uns: von Beinenthaarung bis zu Schönheitsoperationen, das sind alles Formen von weiblichem Schmerz, der gewinnbringend ist.

Ein weiterer grosser Geschäftszweig ist die Menstruation mit Hygieneprodukten und Schmerzmitteln. Menstruierende Frauen werden als krank wahrgenommen. Doch äussern sie Probleme, Schmerzen, werden sie als zimperlich abgestempelt. Welchen Ursprung hat das?
Es gab historisch nie einen normalen Umgang mit der Periode. Das reicht bis zur Bibel zurück, wo steht, dass menstruierende Frauen unrein sind. Das blieb: Eine Frau, die blutet, gilt als beschmutzt, obwohl es etwas Natürliches ist. Wobei sich das seit geraumer Zeit ändert und gerade auf Social Media Frauen über ihre Endometriose sprechen, über ihre Beschwerden, ihre blutigen Höschen zeigen.

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«Die weibliche Natur hat immer schon Angst gemacht»

Sie schreiben, Frauen wüssten oft nur wenig über die Abläufe in ihrem eigenen Körper, würden schlecht aufgeklärt. Denken Sie, dass das Wissen, das wir uns jetzt immer mehr aneignen, hilft, auch selbstbewusster mit dem eigenen Schmerz umzugehen, sich eben nicht mehr ruhigstellen zu lassen?
Auf jeden Fall, Wissen ist Macht. Mit mehr Wissen lernen wir auch unserem eigenen Gefühl mehr zu trauen. Und gehen auch ganz anders in die ärztlichen Sprechstunden rein. Mit der Haltung: Ich spüre, da ist etwas nicht in Ordnung, und ich verlange, dass diesem Schmerz Gehör geschenkt wird.

Gleichzeitig wird von der Medizin stark in die natürlichen Prozesse des weiblichen Körpers eingegriffen. Sie schreiben, ursprünglich war der Uterus die Quelle allen Übels, dann irgendwann hat sich der Fokus verschoben auf das Nervenkostüm, dann die Eierstöcke, die Klitoris, heute die Hormone. Warum wird der weibliche Körper so kontrolliert?
Die weibliche Natur hat immer schon Angst gemacht. Unser Körper ist in der Lage, Leben zu schenken, Kinder zu gebären. Diese Macht will man in einer von Männern dominierten Welt in Schach halten. Die Kontrolle der reproduktiven Organe, der Geschlechtsteile, überhaupt des weiblichen Körpers ist ein Instrument, das immer schon genutzt wurde. Durch die Pille, durch Hormontherapien, im Extremfall durch die Entfernung der Gebärmutter, in einigen Teilen der Welt durch weibliche Genitalbeschneidung.

Lassen wir Frauen uns da auch ein Stück weit beherrschen?
Ich glaube schon. Wir sind heute sehr viel weiter, als wir je zuvor waren. Aber noch immer wird Frauen je nach Weltregion eine mehr oder weniger passive Rolle zugedacht: Beschwer dich nicht, nimm deine Rolle ein, akzeptiere die Anforderungen und erfülle diese – am besten zu 200 Prozent. Aus dieser passiven Rolle müssen wir unbedingt ausbrechen, unserem eigenen Körper vertrauen.

Was ist Ihre Forderung an die Medizin?
Sie muss gerechter werden. Nicht nur für Frauen, sondern auch für nicht-binäre Personen, für queere Personen, für nicht-weisse Personen, für Personen mit Behinderung. Die Medizin ist ein sehr sexistisches, diskriminierendes, auf den weissen Mann zentriertes System. Angefangen bei der Vergabe von Lehrstühlen, Professuren, Chefpersonal in Kliniken über Studien, die viel gerechter ausgewertet werden müssen, bis zum Klinikalltag, wo dem Schmerz aller Menschen gleich viel Gehör geschenkt werden muss.

Kommen wir nochmals zurück zu Ihrer Grossmutter: Was hätten Sie sich für sie gewünscht?
Dass ihr Schmerz ernst genommen wird. Da bin ich auch selbstkritisch. Auch ich dachte ganz lange: Ach, sie hat halt wieder Bauchweh. Sie hätte mehr Empathie verdient gehabt – vonseiten der Medizin, aber auch der Familie. Das ist sogar wissenschaftlich erwiesen: Wer Empathie erfährt, hat weniger Schmerzen.

Eva Biringer ist Journalistin und Autorin, sie lebt in Wien und Berlin. Ihr neues Buch «Unversehrt. Frauen und Schmerz» erscheint am 22. Oktober. 

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