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Anna (76): «Ich wusste nicht, was ein Orgasmus ist, bis ich 38 war»

Liebe & Sex 

Anna (76): «Ich wusste nicht, was ein Orgasmus ist, bis ich 38 war»

Heute erscheint das Buch «Mein Sex: Frauen erzählen». Darin sprechen 17 Frauen über ihr Liebesleben und ihre Sexualität – darunter auch die 76-jährige Anna. Sie ist geschieden, hat zwei erwachsene Kinder und lebt als Single.

«Ich wusste nicht, was ein Orgasmus ist, bis ich 38 Jahre alt war. Da war ich schon längst verheiratet, hatte meine beiden Kinder geboren und mehrere sexuelle Beziehungen erlebt. Den Sex, den ich zuvor mit verschiedenen Männern hatte, habe ich meistens toll gefunden. Deshalb dachte ich, was ich dabei fühlte, sei bereits ein Orgasmus. Erst viel später hat ein Liebhaber gemerkt, dass ich gar keinen Orgasmus hatte. Er hat mir die Augen geöffnet und ich bin ihm auch heute noch sehr dankbar dafür!

Mit meinem Ex-Mann Daniel erlebte ich keine schöne Sexualität. Sex fand meistens am Samstagabend statt. Rein, raus – er hatte jeweils einen vorzeitigen Samenerguss –, dann drehte er sich um, hat geschnarcht und das war es dann. Daniel hat mir immer wieder vorgeworfen, ich sei frigide. Aber ich wusste, dass das nicht stimmt, denn ich hatte in früheren Beziehungen intensive sexuelle Gefühle. Mit Daniel war es jedoch eine rein mechanische Angelegenheit. Grauenhaft!

Mein Mann hatte während unserer Ehe immer wieder Affären. Er wollte eine offene Beziehung – aber nur für sich. Das lag vielleicht daran, dass er aus einem anderen Kulturkreis stammt, aus dem Nahen Osten. Seiner Meinung nach standen Männern gewisse Rechte zu – und Frauen nicht. Das fand ich unfair und verlogen und so habe ich mir mit der Zeit das gleiche Recht herausgenommen.

Als ein Freund von mir uns mal besucht hat, habe ich Daniel angekündigt, dass ich mit diesem Mann schlafen würde, einfach nur schon, um ihm zu beweisen, dass ich nicht frigide bin. Mein Mann hat im Gästezimmer geschlafen und war rasend eifersüchtig. Am nächsten Tag habe ich Daniel im Detail erzählt, wie schön es mit dem anderen Mann war. Das klingt gemein, aber unsere Ehe war geprägt von Lieblosigkeit und schon nach kurzer Zeit zerrüttet. Dennoch sind wir 17 Jahre verheiratet geblieben. Viel zu lange!

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«Ich dachte, ich erleide einen Herzinfarkt – es war so intensiv!»

Ein Jahr vor meiner Scheidung habe ich Tom kennengelernt. Ich lebte damals immer noch mit meinem Mann unter einem Dach und hatte zwei kleine Kinder. Daniel gegenüber war ich stets ehrlich und offen, was meine Aussenbeziehungen anging. 1984 habe ich mich schliesslich von meinem Mann getrennt, obwohl ich es mir finanziell überhaupt nicht leisten konnte. Aber ich wollte endlich frei sein.

Die Begegnung mit Tom war schicksalhaft. Er war zwölf Jahre jünger als ich und die grosse Liebe meines Lebens. Zehn Jahre lang waren wir ein Paar, aber es war nicht immer einfach mit ihm. Er war Alkoholiker, hat viel geraucht und ist 2009 an Lungenkrebs gestorben. Da waren wir allerdings nicht mehr zusammen. Er hat mich verlassen, weil er sich in seine Psychotherapeutin verliebt hat und sie ihn vor die Wahl stellte.

Ein klarer Fall von Missbrauch würde man heute sagen, denn Tom war psychisch angeschlagen. Nach unserer Trennung habe ich ein ganzes Jahr lang um ihn getrauert und nie mehr einen anderen Mann so geliebt wie ihn. Tom war mein Seelenpartner.

Er war es, der gemerkt hat, dass ich gar keinen Orgasmus hatte, und mir einen Vibrator geschenkt hat. Ich habe ihn mit seiner Hilfe ausprobiert. Oh mein Gott! Ich dachte, ich erleide einen Herzinfarkt – es war so intensiv. Unglaublich! Damit hat sich mir eine völlig neue Dimension eröffnet.

Mit Tom habe ich aber nur ein einziges Mal einen Orgasmus erlebt, ohne den Vibrator zu gebrauchen. Es war manuell und ohne Penetration. Nur ein einziges Mal in den zehn Jahren unserer Beziehung hat es so geklappt und dann nie wieder. Ich habe es immer wieder manuell probiert, mit Selbststimulation, aber ehrlich gesagt, dauert es mir auf diesem Weg viel zu lang. Mein Arm und meine Hand werden müde.

Tom war nie eifersüchtig auf den Vibrator. Wir haben das Spielzeug in unseren Sex eingebaut. Mein Ex-Mann hätte das nie akzeptiert. Er hätte den Vibrator als Konkurrenz betrachtet.

Seit mir Tom den ersten geschenkt hat, habe ich immer einen Vibrator besessen und benutze ihn wöchentlich. Ich geniesse es sehr, einen Orgasmus zu haben, und Sex ist ja auch gesund, nicht? Hätte ich einen neuen Partner, würde ich ihm als allererstes sagen, dass er sich auf keinen Fall für meinen Orgasmus verantwortlich fühlen soll. Für meinen Orgasmus bin ich selbst verantwortlich!

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«Der Fluch ist, dass ich Männer in meinem Alter einfach nicht attraktiv finde»

Es ist schade, dass viele Frauen gar nicht wissen, wie toll es mit einem Vibrator sein könnte. Ich glaube, viele Frauen haben Mühe, einen vaginalen Orgasmus zu erleben. Vaginalen Sex habe ich trotzdem immer sehr genossen, auch ohne Orgasmus. Wenn ein Penis in mir ist, aaah, es ist ein wunderbares Gefühl! Ich bin total auf die Penetration fokussiert. Ich habe das Gefühl, beim Sex erst dann komplett zu sein, wenn ein Mann in mir ist.

Der Sex mit meinem letzten Partner war schwierig. Er war sehr korpulent und wenn ich ehrlich bin, war es für mich nicht schön. Immerhin konnten wir sehr gut miteinander reden. Seit der Trennung von diesem Mann 2010 bin ich Single. Das ist eine lange Zeit, ich weiss. Es ist nicht so, dass ich mir Männer nicht anschaue, aber mir gefällt selten jemand. Ich bin nun mal anspruchsvoll.

Damit mir ein Mann gefällt, muss er ein attraktives Gesicht und Interesse an Kultur haben, Musik lieben, gerne reisen, intelligent und sensibel sein. Er muss nicht reich sein, aber sich selbst ernähren können. Und im Bett muss er zärtlich und sinnlich sein. Jemand, der sexuell aktiv ist, ohne Potenzmittel nehmen zu müssen.

Der Fluch ist, dass ich Männer in meinem Alter – ich bin jetzt 76 – einfach nicht attraktiv finde, jüngere aber schon. Ich weiss, dass ich mich noch verlieben könnte – aber nicht in einen alten Mann. Ich will nicht jemandes Krankenschwester sein, sondern Herzklopfen verspüren und mit diesem Mann noch etwas unternehmen können.

Männer in meinem Alter suchen oft eine häusliche Frau, die sie rundum umsorgt. Das ist nicht meine Welt und das waren noch nie meine Werte. Zum Glück brauche ich keinen Mann um jeden Preis, weder emotional, noch sexuell oder finanziell. So kann ich es mir leisten, keine Kompromisse einzugehen.

«Meine Freunde waren fast immer wesentlich jünger als ich»

Vielleicht verhalte ich mich ich in Bezug auf Sex anders als andere Frauen. Eine Freundin, die einiges jünger ist als ich und deren Mann schon seit längerer Zeit so krank ist, dass kein Sex mehr möglich ist, hat mir vor Kurzem erzählt, sie habe überhaupt kein Bedürfnis danach. Das sei bei ihr total an die Person gebunden – und da es mit ihrem Mann nicht mehr möglich sei, habe auch sie keine Lust.

Bei mir ist es total anders. Ich war schon immer sehr sinnlich. Wenn ich irgendwo auf der Strasse beispielsweise einen Poller sehe, bringt mich das schon auf heisse Gedanken. Oder wenn ich beobachte, wie Tiere miteinander kopulieren, dann erregt mich das. Mein Mann hat mich also völlig falsch eingeschätzt, als er damals behauptete, ich sei frigide, denn ich hatte schon immer ein grosses sexuelles Verlangen.

Immer wieder hatte ich Freundschaften plus, also Beziehungen zu Männern, mit denen ich befreundet war und mit denen ich Sex hatte, aber ohne ein Liebespaar zu sein. Das hat mir auch sehr gut gefallen! Ich war einerseits frei und konnte andererseits meine Sexualität ausleben.

Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass meine Freunde fast immer wesentlich jünger waren als ich. Ich glaube, das lag daran, dass ich selbst immer jünger gewirkt habe. Vielleicht, weil ich so neugierig und offen bin. Meine Freunde und Liebhaber waren oft Künstler, Musiker, Schauspieler. Manchmal hatten sie Probleme mit Drogen und kamen in Konflikt mit dem Gesetz. Konventionell waren sie nie.

Ich selbst bin recht konservativ aufgewachsen. So hat mir meine Mutter als junges Mädchen eingebläut, dass man einen Mann erst küsst, wenn man mit ihm verlobt ist, und erst mit ihm ins Bett geht, wenn man mit ihm verheiratet ist. Ja, so war das damals in den Fünfzigern. Ich habe mich natürlich nicht daran gehalten und mit 20 Jahren hatte ich zum ersten Mal Sex. Ich habe es sehr genossen und hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen.

«Männerschweiss kann so gut duften»

Manchmal habe ich Sehnsucht nach Männergeruch – Männerschweiss kann so gut duften, finde ich –, nach Berührungen, nach Küssen, nach einem schönen Penis in mir. Das fehlt mir schon. Aber die Vorteile meiner jetzigen Situation überwiegen: Ich muss mich nicht verbiegen, habe dank meines Vibrators zuverlässig einen Orgasmus, muss mich mit niemandem rumstreiten, kann machen, was ich will. Kurz: Ich bin frei.

Man kann nicht alles haben. Ich halte meine Augen offen, aber ehrlich gesagt, ist es wohl sehr unwahrscheinlich, dass ich in meinem Alter noch jemanden finde, mit dem es passt. Ich bin nun mal so alt wie ich bin, auch wenn ich jünger aussehe, und wenn die Männer hören, wie alt ich bin, erschrecken sie, das merke ich.

Wahrscheinlich denken viele Männer, eine Frau in meinem Alter wolle gar keinen Sex mehr, dabei ist es doch gar nicht so – wenigstens bei mir nicht. Immerhin habe ich nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Ich habe gelebt, ich habe geliebt. Es ist alles gut. Und das fehlende Herzklopfen hole ich mir im Kino, denn ich bin ein grosser Filmfan. Da schwinge ich voll mit, verliebe mich mit den Hauptfiguren und freue mich mit ihnen.

Ich finde es übrigens wahnsinnig schön, dass ich endlich mal frei und offen mit jemandem über Sexualität reden kann. Mit meinen Freundinnen geht es kaum, sie würgen das Thema schnell ab. Schade, nicht?»

 

«Mein Sex: Frauen erzählen» von Nadia Fernández und Monica Bürki, Arisverlag, ca. 28 Franken. Am 8. März findet um 20 Uhr im Sphères in Zürich die Buchtaufe statt.

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