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Alle meine Dates: Die Analyse des eigenen Sozialverhaltens

Alle meine Dates: Die Analyse des eigenen Sozialverhaltens

  • Text: Mia Hofmann; Illustration: Svenja Plaas

Essen mit Freundin A, Bier mit Kumpel B, ins Bett mit Bekanntschaft C. Unsere 25-jährige Autorin hat ein Jahr akribisch darüber Buch geführt, wen sie weshalb getroffen hat. Eine kunterbunte Auswertung.

Ich bin ein ordnungsliebender Mensch – jedenfalls was meine Agenda angeht. Das kleine rote Büchlein ist das Logbuch meines Lebens, jede soziale Begegnung halte ich akribisch darin fest. Da gibts Einträge wie «Pascal Biken», «Laura Essen» oder schlicht «André». Und darunter eine kurze Beschreibung, was sich an diesem Tag ereignet hat. Etwa: «Yeah, zwei Stunden Velofahren im Dunkeln mit Pascal! Abends ausgehen, iPhone geklaut.» Oder: «Herrlichster Morgen im Leben: Mit André die Körper auskosten. Mit Laura Gnocchi essen, langes Gespräch.»

Je länger ich darin blättere, desto mehr Fragen stellen sich: Mit wie vielen Leuten treffe ich mich? Wie häufig sehe ich meine guten Freunde? Wie oft und mit wem habe ich eigentlich Sex? Ich will eine bessere Übersicht über mein Sozialverhalten und beginne die Daten zu strukturieren. Aus den Einträgen in meiner Agenda erstelle ich eine Tabelle. Jede Person, mit der ich mich im vergangenen Jahr getroffen habe, bekommt eine eigene Farbe. Von links nach rechts verläuft die Zeitachse. Wenn ich Sex hatte, vermerke ich das mit einem Stern.

50 verschiedene Leute

Die Farben der Farbpalette reichen nicht: Mit 50 verschiedenen Leuten habe ich mich in den 366 Tagen verabredet (2012 war ein Schaltjahr). Die Tabelle wird ein Monster – 50 Felder hoch und 366 Felder lang. Ich drucke sie auf neun A4-Blättern aus, klebe die einzelnen Teile aneinander, hänge das Werk an die Wand über meinem Schreibtisch und betrachte es von weitem. So visualisiert, wird ein Lebensjahr plötzlich anschaulich. Doch Statistik wird erst bei der Auswertung amüsant.

Als Erstes stechen mir die langen Balken ins Auge: Ganze fünf Mal bin ich in die Ferien gefahren, mein flexibler Job machts möglich. Dreimal war ich zu zweit, zweimal mit einer Gruppe unterwegs. Erinnerungen kommen hoch: Wandern in Sizilien, in der Hängematte liegen in Frankreich, eine Velotour auf dem Peloponnes. An einem Tag türmen sich die Striche: Am Eröffnungsfest der Bar, die ich mit einer Freundin aufgemacht habe. Da waren gleich 14 Freunde anwesend.

Vier Tage ohne Dates

Eher suchen muss ich die weissen Flecken: Im ganzen Jahr gibt es nur vier Tage, an denen ich mich mit niemandem getroffen habe. Es bestätigt sich also, was die Leute über mich sagen: Ich unterhalte ein grosses Netzwerk. Doch an wem hängen die Fäden? 35 Leute, die grosse Mehrheit meiner Freunde, sind zwischen zwanzig und dreissig Jahre alt. Ich habe aber auch ältere Freunde: 5 sind zwischen dreissig und vierzig, 7 zwischen vierzig und fünfzig. Die restlichen 3 sind mein 14-jähriger Bruder, der ab und zu bei mir übernachtet, eine gute Freundin über fünfzig, mit der ich kleine Kunstprojekte verfolge und mein Grossvater über siebzig, den ich oft zum Reden treffe und deshalb zu meinen Freunden zähle.

Brisanter ist die Datenlage beim Geschlecht: 31 von 50 Verabredungen waren mit Männern. Habe ich einfach mehr Kumpels als Freundinnen? Das wäre mir neu. Ich schaue genauer hin: Bei 10 Männern war potenzieller oder tatsächlicher Körperkontakt mit ein Grund für das Treffen. Während elf Monaten des vergangenen Jahres war ich Single, deshalb gab es einige Dates mit interessanten oder interessierten Jungs. Rechne ich diese nicht zu den Freunden, da daraus keine längerfristige Bekanntschaft wurde, bleiben 21 Männer und 19 Frauen – ein ziemlich ausgewogenes Geschlechterverhältnis.

Die Frequenz

Noch interessanter ist die Frequenz. Natürlich weiss ich, wer meine besten Freunde sind. Doch wie oft sehe ich die eigentlich? Ich zähle nach: 149, 71, 69, 64, 52, 46 und 37 Mal pro Jahr – mit Abstand die sieben höchsten Werte. 5 Leute habe ich durchschnittlich mindestens einmal die Woche getroffen, 2 beinah. (Um das Gender-Thema weiter zu verfolgen: Es sind 3 Männer und 4 Frauen.) Natürlich waren die Kontakte keinesfalls so regelmässig: Alle meine Ferienaufenthalte haben mit mindestens einem meiner 7 engsten Freunde stattgefunden, dort verdichtet sich die Frequenz. Auffällig ist die Zahl 149: Sie betrifft meinen Mitbewohner. Mit ihm hatte ich den regelmässigsten Kontakt. Allerdings habe ich unsere Begegnungen nur in die Agenda eingetragen, wenn wir etwas zusammen unternommen haben. Und an dieser Zahl lässt sich deutlich ablesen: Wir wohnen nicht nur zusammen, sondern sind auch beste Freunde.

Um das Milieu meiner Freunde präziser zu analysieren, füge ich die Variablen Nationalität, Bildung und Wohnort hinzu. 47 meiner Bekanntschaften sind Schweizer, 2 Deutsche, einer ist Kanadier. 20 Leute haben einen Master- und 7 einen Bachelorabschluss. 11 Personen haben eine Fachhochschule absolviert, 5 sind Lehrer und einzig 7 haben nicht studiert. Die allermeisten haben also wie ich einen akademischen Hintergrund. Auch wohnen die meisten wie ich in der Stadt, nur 6 in der Agglomeration und nur gerade 4 auf dem Land. Hier aber interessant: Meine Freunde wohnen in acht verschiedenen Städten. 33 leben in derselben Stadt wie ich, 7 in anderen Städten in der Schweiz und in Deutschland.

Mit 9 verschiedenen Personen im Bett

Auch über mein Sexleben gibt die Tabelle detailliert Aufschluss. Insgesamt war ich im letzten Jahr mit 9 verschiedenen Personen im Bett – mit 2 Frauen und 7 Männern. Einer davon ist ein guter Freund – und schwul. Ich hatte 42-mal Sex, also statistisch gesehen alle 8.5 Tage. Von Regelmässigkeit kann aber auch hier keine Rede sein. Es gab extreme Ballungen und längere Durststrecken. Das Jahr hat ziemlich einsam angefangen. Der erste Stern, der in meiner Tabelle für Sex steht, erscheint erst am 25. Januar. In den kommenden zwei Wochen leuchten dann aber gleich drei Farben auf. Eine davon ist Grün, die Farbe, die sich fast durchs gesamte Jahr zieht: eine gute Freundschaft «with Benefits». Dann taucht mit Hellblau erstmals eine Frau mit Sternchen auf: Sie ist die bisher einzige, die ich meinerseits angemacht habe. Mit ihr kam es nur einmal zu körperlicher Nähe: einer von zwei One Night Stands im ganzen Jahr. Andere Farben tauchen zwar auch nur einmal in der Tabelle auf, hatten aber schon eine Vorgeschichte.

So etwa Mister Orange: eine Bekanntschaft, von der ich mir mehr erhofft hätte. Er aber fand, er sei nicht für eine Beziehung zu haben. Also noch ein letztes Mal Sex. Ein ähnliches Szenario ab dem 1. März mit Herrn Violett: Wieder ein Mann, der mir klar sagte, er wolle keine Beziehung. Als ich das verarbeitet und akzeptiert hatte, wurde daraus für die nächsten Monate ein reines Sexverhältnis. Grüne Sternchen (der Freund with Benefits) und violette Sternchen (Sex only) wechseln sich eine Weile lang ab, bis ein schwarzer Balken auftritt – drei Wochen Ferien mit einem guten Freund. Im Balken leuchtet ein einziger weisser Stern: Mein Freund, der schwul ist, fand es spannend, mit einer Frau ins Bett zu gehen. Und da wir uns sehr vertraut sind und der Morgen im Hotel so gemütlich war, führte eins zum anderen …

Herr Pink

Juni: Ein neuer Mann betritt das Parkett. Herr Pink. Ich stürze mich voll in die Begegnung rein, verliebe mich, und fliege hoch – bis zum Absturz nach rund zwei Wochen. Zum dritten Mal in diesem Jahr sagt mir ein Mann, er wolle keine feste Beziehung. Ist das ein generelles Problem der Männer von heute, oder liegts an mir? Trauer und Zweifel. Mir reichts: Typen können mir erst mal gestohlen bleiben. Die nächste Zeit behalte ich meinen Körper für mich, die Sternchen verschwinden. Erst Mitte Herbst taue ich wieder etwas auf, und mit der Farbe Blassgrün kommt es zum zweiten One Night Stand. Anfang November dann die zweite Frau: Wir kennen einander gut, mit ihr hatte ich meine ersten gleichgeschlechtlichen Erfahrungen gemacht. Wir begegnen uns zufällig in einer Bar und spazieren dann einfach Arm in Arm nachhause. In diese Phase fällt auch die erste Begegnung mit meinem jetzigen Freund. Kurz nach dem ersten Treffen verreise ich mit meiner Freundin Laura in die Ferien, wo ich ihn einen ganzen Monat lang vermisse. Die zweite Dezemberhälfte wird dann ziemlich intensiv, ich koste die neue Liebe heftig aus: In den letzten 23 Tagen des Jahres habe ich 14-mal Sex.

Die Zusammenfassung des Jahres 2012: Ich habe mit 50 Leuten etwas unternommen, 7 davon sah ich etwa einmal in der Woche, ich hatte 42-mal Sex mit 9 verschiedenen Personen. Eigentlich ahnte ich diese Tatsachen ja bereits – doch das Visualisieren macht sie plötzlich realer. War die Vorstellung meines Sozialverhaltens vorher eher schwammig, so ist sie nun gestochen scharf. Zwei-, dreimal war ich kurz davor, mich selber zu betrügen, einen Kontakt in der Tabelle wegzuschummeln, einen One Night Stand zwischen den Zeilen verschwinden zu lassen. Doch ich blieb der Empirie treu und zeichnete mich, wie ich bin.

Alle 8.5 Tage Sex

Aber jetzt bin ich leicht verunsichert: Ist mein Sexualverhalten normal? Laut der grössten Sexstudie Deutschlands – dem «Sexreport» von Pro Sieben und der City University London – haben die Deutschen 139-mal pro Jahr Sex. Das heisst alle 2.6 Tage. Ich hatte nur alle 8.5 Tage Sex und liege somit deutlich darunter. Die durchschnittliche Frau hat im Leben mit sieben verschiedenen Personen geschlafen. Mit meinen 9 Sexpartnern komme ich auf einen ähnlichen Wert. Nur: in einem Jahr und nicht im gesamten Leben! Ich bin also nicht normal. Ist das jetzt schlimm? Egal – das Schöne ist ja, dass meine Tabelle keine Wertung ist, sondern eine Auswertung.

— Mia Hofmann arbeitet in Bern und Biel als Texterin, Gestalterin, Radiomoderatorin. miajiba.ch