Der Zoologe Jörg Hess über die Parallelen zwischen Gorilla- und Menschenmüttern.
annabelle: Jörg Hess, seit gut vierzig Jahren beobachten Sie die Gorillas im Basler Zoo. Im Moment wohnen die Tiere in Umzugsquartieren auf dem Gewerbeareal Schweizerhalle bei Basel, da ihr Gehege ausgebaut wird. Vermissen Sie sie?
Jörg Hess: Ja, natürlich, aber ich darf die Gorillas regelmässig besuchen. Doch wegen Abwesenheiten und Erkältungen nutzte ich dieses Besucherprivileg bisher erst einmal. Menschenaffen können sich bei uns anstecken. Sie sind uns viel ähnlicher, als man denkt.
Sie sind unsere Verwandten.
Sozusagen. Sie stimmen genetisch in etwa 98 Prozent mit uns überein – oder besser gesagt: Wir sind wie sie. Aber einen Unterschied kann ich Ihnen nennen: Ich habe noch nie eine Gorillamutter gesehen, die ihr Kind geschlagen hat. Gorillas sind sehr sanfte Wesen, die untereinander kaum aggressiv sind.
Vor allem beim Säugen soll es zwischen Gorillas und Menschen viele Parallelen geben.
Ich schlage vor «stillen» zu sagen, statt säugen, das trifft es besser. Wie wir Menschen stillt auch die Gorillamutter alle Bedürfnisse des Kindes. Also nicht nur seinen Hunger, sondern auch sein Verlangen nach Wärme und Geborgenheit. Immer wenn es jammert, nimmt die Gorillamutter das Kind an die Brust. Sie stillt es vier bis fünf Jahre lang.
Sie schreiben, die Entwöhnung von der Mutterbrust sei ein traumatisches Erlebnis für das Affenkind. Ist das nicht übertrieben?
Ich habe beobachtet, wie Gorillakinder stampften und mit beiden Armen auf die Mutter einschlugen, weil sie nicht mehr trinken durften. Für das Affenmädchen Quarta zum Beispiel war die Entwöhnung ganz tragisch. Mit vier Jahren durfte die Kleine von einem Tag auf den anderen nicht mehr saugen. Damit hatte Quarta grosse Mühe und versuchte immer nachts, wenn die Mutter schlief, an deren Brust zu kommen. Die Mutter erwachte und wies ihr Kind sanft ab. Quarta rannte dann immer von der Mutter weg und schrie herzzerreissend.
Sind Affenmütter besonders konsequent mit ihren Kindern?
Nicht alle. Mutter Muna ertrug es nicht, dass ihr Erstgeborener ein wahnsinniges Theater beim Entwöhnen machte. Sie wurde weich und liess ihn noch einmal trinken. Das war ihr Verhängnis. Sohn Nangai wurde zum Zwänger, er tobte und erpresste seine Mutter über zwei Jahre lang. Mit sechseinhalb saugte er noch immer. Ich war gespannt, wie Muna sich beim zweiten Kind verhalten würde. Und siehe da, sie war streng und stillte von einem Tag auf den anderen ab. Muna war sich also bewusst, dass sie beim ersten Mal einen Fehler gemacht hatte.
Weshalb ist das Entwöhnen für manche Gorillakinder so schlimm?
Sie suchen an der Brust Wärme, Trost und Nähe. Bei freilebenden Berggorillas sah ich einmal, wie ein Fünfjähriges sich an einer Brennnessel verbrannte. Im Regenwald wachsen gewaltige Nesseln, die durch drei Kleiderschichten dringen und mehrere Stunden brennen können. Das Junge fasste die Nessel an, schrie, raste zur Mutter, nahm die Brustwarze in den Mund, sog hastig daran und atmete dann auf, als falle etwas von ihm ab. Beruhigt ging es zur Nessel zurück und berührte sie gleich ein zweites Mal. Der Moment an der Brust tröstet das Baby so sehr, dass es das schlimme Ereignis vergessen hatte.
Nach dem Entwöhnen ist die Geburt eines Geschwisters für das Gorillakind eine weitere emotionale Herausforderung. Warum?
Genau wie die Menschen, sind auch Gorillakinder eifersüchtig. Stellen Sie sich vor, Sie erwachen eines Morgens und dort, tief im Schoss der Mutter, wo Sie eigentlich selber hingehören, liegt ein anderer kleiner Gorilla. Und später entdecken Sie zudem, dass er sogar saugen darf. Doch gegen diese Enttäuschung hat die Mutter ein wunderbares Rezept.
Welches?
Niemand darf das Neugeborene berühren: weder die Grossmutter noch die beste Freundin, ja nicht einmal der Vater. Mit einer einzigen Ausnahme: das ältere Geschwister. Für das Affenkind ist dieses Privileg eine hochwertige Kompensation, die es die erlittenen Zurückweisungen vergessen macht.
Wie weise! Was können Menschenmütter sond noch von Gorillamüttern lernen?
Einiges. Es muss aber sorgfältig abgewogen werden, was sinnvoll und hilfreich wäre. Vielleicht kommt aber vor dem Lernen das Kennenlernen, das Achten und Respektieren von Gorillas, und dass wir ihnen helfen, in ihrem natürlochem Lebensraum überleben zu können.
Vortrag: Die frühe Mutter-Kind-Beziehung bei Gorillas. Jörg Hess spricht am 23. 3., 18 Uhr, in der Frauenklinik des Stadtspitals Triemli, Zürich
Buch: Jörg Hess: Berggorillas. Bildband, erscheint diesen Frühling, Echtzeit-Verlag, ca. 52 Fr.
www.joerghess.ch