Anne Dittmann, Autorin des Buchs «Solo, selbst & ständig – Was Alleinerziehende wirklich brauchen» über Vorurteile, die sie nicht mehr hören kann.
Nun bin ich schon seit sieben Jahren Single Mom. Wie das kam? Kurz: Der Vater meines Kindes hatte sich ein Jahr nach der Geburt von mir getrennt – zack! Ganz plötzlich. Ohne Vorwarnung. Unser Trennungsgespräch war quasi eine Fünf-Minuten-Terrine, und ich habe mich damals ordentlich an ihr verbrannt. Aber: Mittlerweile sind die Wunden verheilt und ich bin jetzt in dieser Phase angekommen, in der ich – auch ein wenig stolz – meine Verbrennungsmale und Narben herzeige, weil sie wichtige Geschichten erzählen.
Es ist ein bisschen so, als hätte ich auf einer Abenteuerreise mit sämtlichen Seeungeheuern gekämpft – und überlebt. Ich habe gesehen und erlebt, was die Mehrheit der Menschen nicht sieht und erlebt. Daher weiss ich mittlerweile, dass es viele falsche Erzählungen darüber gibt, wie Alleinerziehende leben, was sie erleben und warum. Oder darüber, wer ihre Kinder sind und wie sie sich fühlen. Nennen wir das Kind beim Namen: Ich spreche von Vorurteilen über Einelternfamilien, die gewaltig nerven! Ich beginne mit den ersten drei:
Vorurteil 1: Alleinerziehende wissen nicht, wie man eine gute Beziehung führt
Ja, sie verkaufen sich super: Ratgeber, die uns verraten, wie wir Eltern «Liebende bleiben» können, wie zum Beispiel ein Titel des bekannten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul lautet. Ein anderes Buch: «8 Gespräche, die jedes Paar führen sollte, damit die Liebe lebendig bleibt».
Darin offenbart der Psychologe und Bestsellerautor John Gottman eine Erkenntnis, die er aus jahrzehntelanger Forschungsarbeit zu glücklichen Beziehungen gewonnen hat: «Jeder kann seine Beziehung auf eine glückliche und vertrauensvolle Basis stellen, die sie lebendig hält.» Wenn der Mensch mittlerweile nicht mehr nur Feuer machen, sondern auch die Liebe kontrollieren kann, fragt man sich doch, wie es zu den über 200 000 Alleinerziehenden in der Schweiz kommen konnte.
Schon klar, die logische Antwort wartet direkt um die Ecke: Wer sich trennt, hat zu wenig Liebesratgeber gelesen. Sich nicht genug bemüht. Die eigene vermeintliche Bindungsstörung nicht aufgearbeitet. Halt Murks gemacht. Stimmt das? Natürlich nicht! Die Wahrheit ist: Bindungsstörungen lassen sich nicht am Beziehungsstatus ablesen.
Das erklären auch die Journalistin Heike Blümner und die Autorin Laura Ewert in «Schluss jetzt. Von der Freiheit sich zu trennen»: «Wer bindungssicher ist, hat […] nicht nur bessere Chancen auf eine stabile Beziehung, er oder sie verabschiedet sich auch leichter aus Konstellationen, die nicht guttun. Wer einen unsicheren Bindungsstil pflegt, kämpft demnach länger um die Bindung, auch wenn diese den eigenen Interessen und Bedürfnissen entgegensteht.»
«Auch Trennungen gehören zu einem gesunden Beziehungsverhalten»
Jetzt mal die Hand aufs Herz: Kannten oder kennen wir nicht selbst ein paar geliebte Menschen in unserem Umfeld, für die wir gerne eine Trennungsparty schmeissen würden? Etwa die eigenen Eltern, die sich in der Ödnis ihrer 30-jährigen Ehe eingerichtet haben und einander nur noch anschweigen. Befreundete Paare, die ihre entgegengesetzten Lebensträume nebeneinander vergraben, statt dass sie und er sich mit einem «Ciao und schönes Leben!» voneinander verabschieden.
Was bedeutet es, «die Beziehung nicht hinzukriegen», wenn zwei Menschen erkennen, dass sie ohneeinander besser dran sind und eine zufriedenstellende Konsequenz daraus ziehen? Wenn wir also ehrlich zu uns wären, dann müssten wir akzeptieren, dass auch Trennungen zu einem gesunden Beziehungsverhalten gehören.
Ich finde, eine Trennung ist immer auch ein Akt der Emanzipation. Ein Zeichen dafür, dass jemand Verantwortung für sich selbst übernimmt. Trennungen sind mutig. Und sie sind ehrlich. Sind genau das nicht die wichtigen Werte, die wir auch unseren Kindern vermitteln wollen? Da kann doch eine Silberhochzeit gar nicht mithalten.
Vorurteil 2: Kinder von Alleinerziehenden sind unglücklicher
Einen kleinen Moment bitte, ich muss mal kurz genervt mit den Augen rollen und seufzen – das darf man sich an dieser Stelle gerne vorstellen … *roll* … *seufz* … So, danke fürs Warten! Dieser Fakt nervt doppelt, weil ich mir nicht vorstellen mag, wie viele kümmernde, liebevolle Mütter sich eisern und einsam durch die Ehejahre mit ihren unaufmerksamen, lieblosen oder gewalttätigen Männern beissen – natürlich, um sich erst dann zu trennen, wenn die Kinder erwachsen sind. Ich ahne, dass es so einige sind, wenn ich einen Blick in mein Instagram-Postfach werfe. Ja, das Vorurteil, eine Trennung der Eltern würde das Kindeswohl gefährden, ist perfide und wirkungsstark. Und es ist auch falsch!
Das Allerbeste für ein Kind ist das Aufwachsen mit beiden Elternteilen in einem Haushalt? Alle anderen Familienformen sind dem untergeordnet? Kurz nach meiner Trennung hatte ich grosse Angst davor, dass diese Behauptungen stimmen könnten. Natürlich habe ich mir Sorgen um mein Kind gemacht – sieben Jahre später weiss ich, dass sie unbegründet waren.
Mein Kind ist so aufgeweckt, lebensfroh und zufrieden, wie ich es mir nur wünschen könnte. Die beiden Kinder einer guten Freundin, die sich kürzlich von ihrem Mann getrennt hat, sind nach der Trennung sogar glücklicher als vorher: «Jetzt ist endlich Ruhe zu Hause und es gibt nicht mehr ständig Streit», erzählen sie mir. Für mich ist das zwar schon alles, was wir wissen müssen, aber wir können gerne noch etwas profunder werden. Bereit? Dann los!
«Manche Kinder sind sogar besonders gestärkt aus der Krise hervorgegangen»
Die Erkenntnis, dass Kinder für eine gesunde Entwicklung nicht in der traditionellen Normfamilie aufwachsen müssen, hat die qualitative Studie «Surviving the Breakup» aus den USA schon 1980 hervorgebracht – nur leider haben sich die Ergebnisse immer noch nicht genug herumgesprochen: Die Trennung der Eltern stellte für die 131 über fünf Jahre begleiteten Kinder eine Krise dar, die viele von ihnen am Ende des Untersuchungszeitraums nicht nur überwunden hatten – manche sind sogar besonders gestärkt aus ihr hervorgegangen.
Es gab zwei Gruppen unter den Kindern, denen es nach fünf Jahren wieder gutging: Eine Gruppe hatte Kontakt zu beiden Elternteilen, die beide liebevoll und zugewandt waren – und dabei war nicht wichtig, ob der Kontakt gleich häufig stattfand oder ob ein Elternteil nur ein- bis zweimal pro Woche besucht wurde.
Und die andere Gruppe hatte den Kontakt zu einem Elternteil abgebrochen, weil die Beziehung lieblos oder auf andere Weise belastend für diese Kinder war. Aber: Sie hatten das Glück, dass der andere Elternteil besonders liebevoll und sensibel erzogen hat – das reicht für eine gesunde kindliche Entwicklung offensichtlich aus! Ich finde, das sind sehr erleichternde Nachrichten.
Und bevor der Zeigefinger zuckt, weil die Frage drängt, wie das denn so im Jahr 2023 und in Europa ist: Heutige Expert*innen bestätigen den über 40 Jahre alten Befund. Ich habe die deutsche Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Autorin Hilal Virit gefragt – sie sagt: «Ich sehe, dass die Trennung als Entwicklungsherausforderung, wenn sie gut begleitet wird, Kinder resilienter, also widerstandsfähiger macht.»
Vorurteil 3: Alleinerziehende in Armut arbeiten zu wenig
In der Schweiz ist laut dem Bundesamt für Statistik jede*r fünfte Alleinerziehende auf Sozialhilfe angewiesen. Die Begründung: Sie seien durch ihre Situation nur «eingeschränkt erwerbsfähig», müssten sich schliesslich um Haushalt und Kinder allein kümmern. Das Problem an dieser Formulierung ist, dass sie uns mit der – so nicht ganz richtigen – Erkenntnis zurücklässt, dass Alleinerziehende unterm Strich offensichtlich «zu wenig» arbeiten würden und mehr arbeiten müssten. Aber: Wer oder was ist hier eigentlich der Massstab?
Es liegt auf der Hand: Vollzeitarbeit sollte es sein, denn sie ist die Norm. Spätestens wenn Schweizer Familien ein Kind erwarten, dann gehen die Väter in Vollzeit arbeiten und die Mütter verdienen in Teilzeit etwas Geld dazu oder werden ganz Hausfrau. Mit wem vergleichen wir nun also Alleinerziehende, die in neun von zehn Fällen übrigens Mütter sind?
Mit den «Familienvätern», die abends hinter der eigenen Wohnungstür frisch gekochtes Essen und eine saubere Wohnung vorfinden? Die ihre dreckige Kleidung wie von Zauberhand am nächsten Tag sauber und gebügelt aus dem Schrank nehmen? Die nicht angerufen und nicht gestört werden, wenn sich das Kind in der Kita den Wachsmalstift zu tief in die Nase geschoben hat?
Ernsthaft: Vollzeitarbeit funktioniert für Väter nur, weil fast jede fünfte Mutter in einer Paarbeziehung nicht arbeitet oder «eingeschränkt erwerbstätig» ist, also in Teilzeit arbeitet. Ist es also fair, Alleinerziehende an der Vollzeitarbeit zu messen, die vor allem von jenen geleistet wird, die sich in Paarbeziehungen weniger bis kaum um die Kinder kümmern? Sollten wir Alleinerziehende nicht mit denen vergleichen, die ebenfalls Care-Verantwortung tragen?
Wenn wir schon – wie Neo aus Matrix – die rote Pille schlucken, dann bitte ganz: Während also in der Schweiz nur
82,3 Prozent der Mütter in Paarbeziehungen erwerbstätig sind, sind es unter alleinerziehenden Müttern 89 Prozent. Und während vier von fünf Müttern in Paarbeziehungen in Teilzeit arbeiten, schrauben nur 65 Prozent der alleinerziehenden Mütter die Stunden runter. Damit zeigt das Bundesamt für Statistik, dass sich Alleinerziehende in Relation zu Paarfamilien: genau, den Wolf schuften. Ich finde, sie sollten weniger arbeiten müssen statt mehr.
Anne Dittmanns Buch «Solo, selbst & ständig – Was Alleinerziehende wirklich brauchen» (ca. 27 Fr.) ist jetzt im Handel.
Danke, genau auf den Punkt gebracht!