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Autorin Emilia Roig: «Astrologie gibt Menschen Halt – gerade in unsicheren Zeiten»
- Text: Camille Haldner
- Bild: Susanne Erler
Die französische Bestsellerautorin Emilia Roig ist für ihren intersektional feministischen Blick auf die Welt bekannt. Im Interview erzählt sie, was Astrologie für sie mit postkolonialer Heilung, Widerstand gegen Leistungsdruck und Selbstakzeptanz zu tun hat.
Humbug und Pseudowissenschaft schimpfen die einen, Werkzeug zur Selbsterkenntnis schwärmen die anderen. Eindeutig ist: Astrologie polarisiert. Gelesen werden Horoskope dennoch oft und gerne: Vor allem seit der Corona-Pandemie suchen Menschen wieder vermehrt nach Orientierung in den Sternen. Der Schweizer Astrologenbund verzeichnete im vergangenen Jahr einen Rekord an Neumitgliedern. Die Begriffe «Geburtshoroskop» und «Astrologie» wurden gemäss Google Trends im Jahr 2020 besonders oft gesucht; die Recherche nach «Was ist rückläufig» erreichte ein Allzeithoch.
Es passe in diese unsichere Zeit, dass Astrologie so nachgefragt sei, sagt die Autorin Emilia Roig: «Gerade jüngeren Generationen, bei denen die Sterndeutung beliebt ist, gibt Astrologie Halt.» Bei Instagram folgen Roig mehr als 30 000 Menschen. Neben Beiträgen zu intersektionalem Feminismus teilt sie auf der Plattform Ausschnitte aus ihrem Privatleben. Darin spiele die Sterndeutung eine wichtige Rolle, erzählt sie. «Astrologie hat mir auf meiner Reise zu Selbstakzeptanz enorm geholfen.»
«Produkt des französischen Kolonialismus»
Emilia Roigs Blick auf Deutungsformen wie Astrologie ist geprägt von der Geschichte ihrer Familie und ihrer Lebensrealität als Schwarze, queere Person. In ihrem Buch «Why We Matter» (2021) bezeichnet sie sich als «Produkt des französischen Kolonialismus».
Roigs weisser Vater entstammt einer Familie jüdisch-französischer Kolonialherren aus Algerien. Ihre Schwarze Mutter wurde auf Martinique geboren, als Nachfahrin von versklavten Menschen. Die Insel nennt die Autorin «eine der letzten und ewigen französischen Kolonien in der Karibik». In «Why We Matter» deckt Roig Muster der Unterdrückung auf, leitet zu radikaler Solidarität an und zeigt – anhand ihrer Familiengeschichte –, wie Patriarchat und Feminismus aufeinanderprallen.
Im Interview spricht die Autorin, die in Berlin lebt, darüber, inwiefern die Auseinandersetzung mit Astrologie Teil ihres persönlichen und familiären Dekolonialisierungs- und Heilungsprozesses ist.
annabelle: Ihr Buch «Why We Matter» ist ein Bestseller. Auf Empfehlung Ihres Lektors haben Sie ein Kapitel vor der Publikation gestrichen, in dem es um Astrologie ging. Warum?
Emilia Roig: Astrologie wird von vielen Menschen mit Skepsis betrachtet. Wir befürchteten, dass die kritische Besprechung dieses Kapitels alle anderen wichtigen Themen im Buch überschattet hätte. Das hätte ich schade gefunden. Mein Lektor meinte, Deutschland sei nicht bereit dafür (lacht). Und ich glaube, dass er recht hatte. Diese Ablehnung hat in meinen Augen patriarchale und koloniale Gründe. Viele Menschen spüren hier ein Unbehagen gegenüber allem, was nicht dem westlichen, weiss-männlich geprägten Wissenschaftsbetrieb entstammt. Wissen, das nicht als rational gilt und sich stark mit Emotionen befasst – und das tut Astrologie –, wird oft als weiblich und unterlegen konstruiert. Das Bild der Eso-Tante erlebe ich in Deutschland denn auch als besonders prägend, in Frankreich gibt es das so nicht wirklich.
Auf Ihrem Instagram-Account und bei Podcast-Auftritten sprechen Sie regelmässig über Ihre Leidenschaft für Astrologie. Woher kommt die?
Die Auseinandersetzung mit Spiritualität, okkulten Praktiken und Astrologie ist Teil meines persönlichen und familiären Dekolonialisierungs- und Heilungsprozesses. Die Vorfahren meiner Familie mütterlicherseits wurden als Sklav:innen vom afrikanischen Kontinent nach Martinique gebracht. Auf der Insel, wie vielerorts in der Karibik, gehören okkulte Praktiken wie Quimbois – eine Form des Voodoo – oder übersinnliche Energien zum Alltag. Diese Praktiken basieren auf dem okkulten Wissen afrikanischer Kulturen, die in die französischsprachigen Kolonien verschleppt wurden. Diese als rückständig und irrational markierten Glaubensformen sollten im Kolonialismus vernichtet werden.
Werden diese Praktiken und Glaubensformen heute von Ihrer Familie gelebt?
In meiner Familie aus Martinique werden okkulte Praktiken, aber auch Astrologie, Tarot und Reiki praktiziert. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass mir dieses Wissen überliefert werden konnte: von meinem Onkel, meiner Mutter, meiner Gross- und Urgrossmutter. Mein Onkel befasst sich seit Jahrzehnten mit Tarot und Astrologie. Er war es, der mir im Alter von 16 Jahren meine erste astrologische Konstellation kalkuliert hat. Damals ging das nicht einfach übers Internet, wo heute alle ihre Aszendenten berechnen können.
«Astrologie sagt uns, dass wir so richtig sind, wie wir sind – und das kann sehr heilsam sein»
Wie begegnen Sie Menschen, die Ihrer Auseinandersetzung mit diesen Themen kritisch gegenüberstehen?
Als Kind wusste ich: Die Leute lachen mich aus, wenn ich erzähle, dass meine Grossmutter ein Medium ist. Heute greife ich Praktiken wie Quimbois, Tarot oder auch Astrologie mit Stolz auf. Mein Vater glaubt nicht an solche Praktiken und hat diese oft herabgesetzt. Ich bin überzeugt, dass das häufig aus Angst geschieht. Diese Überzeugung, die Welt zu verstehen, alles logisch erklären zu können und damit vermeintlich die Kontrolle zu haben, ist ein sehr maskuliner, patriarchaler Zug. Die Astrologie hingegen sagt, dass wir im Grunde wenig kontrollieren.
Was fasziniert Sie denn, neben der familiären Komponente, an Astrologie?
In der Astrologie gibt es kein gut oder schlecht. Es gibt unterschiedliche Persönlichkeitszüge und Typen, die allerdings nicht bewertet werden. Während uns gesellschaftlich vermittelt wird, dass wir alle gleich funktionieren sollen, zeichnet die Astrologie ein anderes Bild. Sie lehrt uns, mit unseren individuellen Eigenschaften zu arbeiten. Die Auseinandersetzung mit meiner astrologischen Konstellation hat mir auf meiner Reise zu Selbstakzeptanz enorm geholfen. Ich verstehe mich selbst besser, verlasse mich stärker auf meine Intuition und bin gelassener geworden. Astrologie sagt uns, dass wir so richtig sind, wie wir sind – und das kann sehr heilsam sein. Möglicherweise ist das der Grund, weshalb Astrologie so populär ist bei queeren Menschen.
annabelle-Astrologin Alexandra Kruse sagt, sie richte Friseurbesuche nach dem Mondkalender aus. Entspricht das auch Ihrem Umgang mit Astrologie?
Das mache ich auch. Seit bestimmt 20 Jahren. Und meine Haare wachsen wie Unkraut. Ich würde niemals meine Haare am falschen Mondtag schneiden (lacht).
«Die Astrologie gibt uns nichts vor, sondern kann uns helfen, im Einklang mit uns selbst zu leben»
Wir bewegen uns durch chaotische Zeiten. Kriege, Pandemie, Unterdrückung, Inflation, Klimakrise, um nur einige Herausforderungen zu nennen. Kritische Stimmen sagen, Astrologie sei für manche eine willkommene Flucht in einfache Erklärungen. Wie sehen Sie das?
Wir leben im neoliberalen Zeitalter des Individualismus. Da passt Astrologie gut rein. Sie unterstreicht die Einzigartigkeit jeder Persönlichkeit und verweist aufs Schicksal. Das passt in so eine unsichere Zeit, in der sich viele Menschen verloren fühlen und sich Planbarkeit wünschen. Gerade jüngeren Generationen, bei denen die Sterndeutung beliebt ist, gibt Astrologie wohl auch deshalb einen gewissen Halt. Oft wird allerdings zu stark vereinfacht. Dann muss der rückläufige Merkur für alles herhalten: Streit, Vergesslichkeit et cetera. Das ist natürlich zu einfach.
Sie haben eben über Schicksal gesprochen. Ist es nicht riskant, dass sich Menschen eventuell zu sehr der Astrologie und damit vermeintlicher Ohnmacht ergeben?
Astrologie ist Bewegung und Veränderung. Sie soll Menschen nicht in Kästchen packen oder in festen Mustern leiten. Die Astrologie gibt uns nichts vor, sondern kann uns helfen, im Einklang mit uns selbst zu leben. Unsere astrologische Konstellation soll uns nicht festsetzen in einer bestimmten Rolle, sondern Potenziale aufzeigen und aus unseren vermeintlichen Schwächen Stärken machen.
Intersektionalität ist der Grundstein Ihrer feministischen Arbeit. Das beinhaltet auch die Kritik am Kapitalismus. Wie blicken Sie unter kapitalismuskritischen Aspekten auf die riesige Branche, die sich um Astrologie spinnt und Millionen damit umsetzt?
Selbstverständlich speist sich die Branche teilweise aus der Unsicherheit vieler Menschen. Wir leben im neoliberalen Kapitalismus. Einem System, in dem zahlreiche Menschen unter psychischen Erkrankungen leiden. Ich sprach eben bereits über die jüngeren Generationen und ihren Umgang mit Astrologie. Dazu passt auch, dass die Gen Z einen sehr anderen, einen entspannteren Umgang mit Arbeit und Erwartungsdruck hat als die früheren Generationen. Astrologie regt dazu an, stärker bei uns selbst zu bleiben, darauf zu achten, was wir brauchen. Dieser bewusste Umgang mit uns selbst erinnert uns daran, dass wir keine Maschinen sind und nicht jeden Tag funktionieren können, wie es von uns erwartet wird.
Emilia Roig ist in der Nähe von Paris aufgewachsen und lebt in Berlin. Sie ist Autorin, Aktivistin und Gründerin des Center for Intersectional Justice. Die promovierte Politikwissenschaftlerin lehrt, schreibt und spricht zu Intersektionalität, Feminismus, Diskriminierung und Inklusion.