Familie
Patchworkfamilie – Kommune mit chaotischer Liebe
- Interview: Christina CaprezIllustration: jörn Kaspuhl
Patchworkfamilien – eine moderne Erfindung? Von wegen: Die gabs schon im Mittelalter. Und lesbische Mütter auch. Historiker Simon Teuscher über Beziehungsmythen damals und heute.
Simon Teuscher, ein Mensch aus dem Mittelalter macht eine Zeitreise: Was würde ihn an unserem Familienleben am meisten erstaunen?
Er würde sich wundern, wie stark sich Ehepaare über ihre Kinder definieren.
Das war früher anders?
Ja. Das Mittelalter interessierte sich brennend für die Ehe und das Vermeiden von mehreren Geschlechtspartnern. Forderungen nach strikter Monogamie kamen damals auf. Aber das hatte wenig mit dem Kinderhaben zu tun.
Heute ist oft die Rede von der neuen Vielfalt der Familienformen: Patchworkfamilien, Alleinerziehende, Regenbogenfamilien – also Lesben und Schwule mit Kindern. Wie neu ist diese Vielfalt tatsächlich?
Nun, die höfische Gesellschaft, also die Oberschicht, war überhaupt nicht familiär organisiert. Anstelle der Kernfamilie gab es viele Erwachsene, Kinderstuben, in denen Kinder ganz unterschiedlicher Abstammung zusammen aufwuchsen, viele Kindermädchen, viele Liebespaare kreuz und quer.
Also eher eine Art Kommune?
Eine Kommune, zwar nicht mit freier, aber mit chaotischer Liebe. Bei der Unterschicht waren sowohl Einelternhaushalte als auch Patchworkfamilien gang und gäbe – nicht aufgrund von Scheidung, sondern wegen der hohen Sterblichkeit, besonders bei Schwangerschaft und Geburt. Starb eine Frau, heirateten die Männer oft wieder und hatten mit neuen Frauen Kinder. In diesen vormodernen Patchworkfamilien gab es einen typischen Konflikt: Die Kinder aus erster Ehe stritten gegen den Vater samt dessen zweiter Frau um die Güter der toten Mutter. Darauf spielt die Figur der bösen Stiefmutter aus dem Märchen an.
Das heisst: Konflikte in Patchworkfamilien waren schon im Mittelalter alltäglich, aber sie drehten sich um andere Fragen.
Genau. Eine Ehe dauerte vor 1800 nicht grundlegend länger als heute, nämlich um die zwölf Jahre. Auch die Zahl der Singlehaushalte unterschätzt man massiv. In Florenz im 14. Jahrhundert gab es etwa dreissig Prozent Singlehaushalte.
Singlehaushalte im Mittelalter?
Ja, all die Witwen und Witwer lebten allein, und viele Leute heirateten gar nicht. So weit wir zurückschauen können, haben die Menschen spät geheiratet und spät – gemessen an dem, was physiologisch möglich wäre – Kinder bekommen, zwischen 25 und 30 Jahren.
Wie sah denn ein Kinderalltag aus damals?
Das lässt sich kaum verallgemeinern. Ein Fall, den wir gut kennen, sind die toscanischen Städte im 14. und 15. Jahrhundert. Dort wurde die Kinderbetreuung weitgehend ausgelagert. Man gab die Neugeborenen zu Ammen auf dem Land – man hielt die Landluft für besonders gesund – und ging sie sonntags ab und zu besuchen. Oberschichtfamilien brachten ihre Babys zu Frauen aus reicheren Bauernfamilien, die ihre eigenen Kinder wiederum zu ärmeren Ammen gaben. Es gab also eine Art Kaskade, ähnlich wie heute bei den ausländischen Nannys.
Wenn nicht mit Kindern, mit was beschäftigten sich diese bürgerlichen Frauen sonst?
Sie gingen sozialen oder beruflichen Tätigkeiten nach.
Dann blieben im Mittelalter also nur die allerärmsten Kinder bei den Eltern?
Ja. Das gilt für die ganze Vormoderne, wenn nicht sogar bis 1950. Dass Eltern ihre Kinder selbst aufziehen, war lange Zeit vor allem ein Unterschichtphänomen.
Heute ist es umgekehrt …
Genau, heute ist die dafür erforderliche Zeit ein Luxus, den sich zunehmend eher die Wohlhabenden leisten können. Dagegen müssen bei vielen Gastarbeiterpaaren beide berufstätig sein, um die Familien ernähren zu können.
Man hatte früher nicht Kinder, um Zeit mit ihnen zu verbringen. Warum dann?
Die Frage stellte man sich gar nicht. Das Kinderhaben wurde als ein normaler und ziemlich unausweichlicher Bestandteil des Ehelebens angesehen, die heutigen Verhütungsmittel kannte man ja nicht. Wobei es schon eine Utopie der Sex- und Kinderlosigkeit gab: das Leben im Kloster, ein wichtiges Alternativszenario.
Dienten denn Kinder als Altersvorsorge?
Nicht in erster Linie. Für die meisten Leute bedeuteten Kinder unter dem Strich wohl mehr Kosten als Nutzen. Die Eltern sorgten selbst vor, indem sie ihr Kapital einer Institution oder einem benachbarten Bauernhof gaben und dafür etwa eine lebenslängliche Versorgungsleistung bekamen. Die Kinder erbten den elterlichen Bauernhof auch nicht einfach so. Die Eltern verkauften ihn einem Kind und erhielten als Gegenleistung eine Rente. Erben und sich im Gegenzug für die Eltern verantwortlich fühlen – diese Automatismen sind heute vielleicht sogar ausgeprägter als früher.
Sie rütteln gehörig an meiner Vorstellung des Lebens im Mittelalter … Aber die Liebesheirat, die ist schon neueren Datums?
Auch da würde ich relativieren. Wenn ein Bauer im Mittelalter sagt: «Ich liebe die Frau mit den dreissig Kühen», dann sollten wir nicht so sicher sein, dass da kein Gefühl dabei ist. Es geht da auch um Codes. Der Bauer drückt sich einfach anders aus als jemand aus dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Der würde vielleicht eher sagen: «Ich liebe die Frau, mit der ich eine tiefe Übereinstimmung spüre, weil wir beide Goethe lesen und Schubert hören.» Implizit stehen Goethe und Schubert aber unter Umständen auch für die Zugehörigkeit zur gleichen Klasse und einen vergleichbaren Kontostand.
Waren im Mittelalter Ehen zwischen sozial Ungleichen – etwa einem reichen Mann und einer ärmeren Frau – verbreitet?
Das kam relativ oft vor. Am Ende des 18. Jahrhunderts breitete sich dann die Heirat zwischen sozial Gleichgestellten aus, man begann auch, häufiger Cousinen und Cousins zu heiraten.
Warum?
Vor 1780 war die Verwandtschaft oft um die Weitergabe schwer teilbarer Güter organisiert: Schlösser, Grafschaften, Höfe, Salzmonopole oder das Recht, in einem zünftischen System eine Metzgerei zu führen. Um diese Güter herum entstanden familiäre Abhängigkeiten: Der Sohn, der erbte, war das Familienoberhaupt und für die andern verantwortlich. Mit der Industrialisierung kam es weniger auf diese unteilbaren Güter an, dafür stärker auf das Kapital, das für den Aufbau industrieller Betriebe nötig war. Für die Siemens, die Gründerfamilie des deutschen Elektrounternehmens, wurde es eminent wichtig, mit jeder Ehe möglichst viel Geld an sich zu binden. Und wenn sich die Reichen nur noch untereinander heiraten, dann passiert unten fast automatisch das Gleiche.
Was hat sich sonst noch verändert punkto Familie?
Moderne Diskurse verbinden Sex stark mit Abstammung und Zeugung: Wer Sex hat, ist verantwortlich für das leibliche und seelische Wohl der Kinder, die daraus entstehen. Den Leuten im Mittelalter waren solche Gedanken sehr fremd. Mich dünkt, das äussert sich auch in aktuellen Problematisierungen der homosexuellen Elternschaft. Wieso soll das für die Kinder ein Problem sein? Warum stellt man das überhaupt in einen Zusammenhang? Im Mittelalter machte man diese Verbindung nicht.
Sie würden aber nicht sagen, dass lesbische und schwule Elternschaft im Mittelalter üblich und akzeptiert war?
Gerade in der höfischen Gesellschaft kann man homosexuelle Beziehungen weit zurückverfolgen. Natürlich konnten zwei Männer nicht heiraten. Aber Homosexualität war auch kein Grund, auf Kinder zu verzichten. Ein Fürst schläft mit Männern und hat daneben Kinder, seine Frau hat vielleicht ihre Freundschaften mit Männern und Frauen. Das geht alles parallel.
Aber das bürgerliche Ehepaar, das Sie beschreiben, lebte gegen aussen ja vermutlich schon das Ideal eines sexuell erfüllten Paars, das gemeinsam Kinder aufzieht?
Meines Erachtens ist auch dieses Ideal nicht so alt. Es entspricht einem Vierzigerjahre-Hollywoodklischee. Für das Bürgertum des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts war es normal, eine Kinderfrau zu haben. Ein Satz wie «Wenn man die Kinder so stark fremdbetreuen lässt, braucht man keine» wäre kaum gefallen. Es war selbstverständlich, dass man den Boden nicht selbst putzt und keine Windeln wechselt. Deswegen war man keine schlechte Mutter.
Die Beschränkung der bürgerlichen Frau auf die häusliche Sphäre ist doch älter?
Die Bürgersfrau war zwar zuständig für das Haus, ja. Aber: Eine Frau, die Kinder- und Dienstmädchen anstellt, für die Konsumausgaben zuständig ist und im Salon Literatur mit andern Frauen diskutiert – das ist eine ganz andere Realität als dieses Hollywoodbild der Hausfrau, die zuhause den ganzen Tag Windeln wechselt und sich gleichzeitig sexuell anziehend macht für den Moment, in dem der Mann heimkommt. Mir scheint aber in der ganzen Familiendebatte noch ein anderer Punkt wichtig: Unsere Diskussion heute dreht sich viel zu stark um die Kernfamilie. Wir meinen, die Verwandtschaft habe mit der Zeit immer mehr an Bedeutung verloren. Dem widerspreche ich als Historiker.
Viele Leute sagen aber: «Die Verwandtschaft ist mir nicht wichtig. Was zählt, ist die Wahlverwandtschaft: Freunde und Bekannte.» Stimmt das in Ihren Augen nicht?
Nein, überhaupt nicht. Da ist viel marktwirtschaftlich-liberale Ideologie dabei, die suggeriert, dass alles von der Leistung des Einzelnen abhängt. Tatsächlich ist die Familie aber immer noch der wichtigste Transferriemen von Vermögen, auch von Bildung. Es sind vor allem Akademikerkinder, die studieren.
Patchworkfamilien, ausserhäusliche Kinderbetreuung … all das ist nicht neu. Wirklich neu ist einzig die enge Verbindung von Sexualität, Partnerschaft und Kindererziehung – ausgerechnet das, was für uns heute absolut selbstverständlich ist.
Das haben Sie jetzt zugespitzt, aber in den Grundzügen stimme ich zu. Die drei Elemente Sexualität, Partnerschaft und Kindererziehung zu koppeln, ist eine Setzung unserer Zeit – und somit auch eine Restriktion, die wir uns selbst auferlegt haben. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich wünsche mir die heimlichen Geliebten, die versteckten Schwulen und die betrogenen Ehefrauen nicht zurück. Trotzdem zeigen diese Geschichten, dass die Spielräume des Beziehungslebens ganz andere sein könnten.
Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Werden wir auch künftig Liebe, Sexualität und Kindererziehung als Einheit denken?
Ich glaube nicht. Wir quälen uns mit Idealen, die im Einzelfall oft sehr schwer zu verwirklichen sind. Wir müssen eine Lösung finden, um diese Spannungen abzubauen und der Vielfalt nicht so schematisch wertend zu begegnen. Diese rigiden Ideale bedeuten bei den heutigen Scheidungsziffern ja auch, dass fast alle als gescheitert gelten – obwohl die meisten gesunde, fröhliche Kinder haben.
Simon Teuscher (44) ist Professor für Geschichte des Mittelalter
Familien-Palette
Ein Drittel der Familien lebt heute als traditionelle Kernfamilie. Im Buch «Familienbande» widmet sich Redaktorin und DRS-2-Moderatorin Christina Caprez den Geschichten hinter dem grossen Rest; sie porträtiert Patchwork- und Regenbogenfamilien, Single-Frauen, die nicht länger auf den Traummann warten wollen, um ein Kind zu bekommen, und Eltern, die in unkonventionellen Arrangements Entlastung finden. Das hier in gekürzter Fassung abgedruckte Interview mit Simon Teuscher ist Teil des Buchs. Die 34-jährige Christina Caprez hat Soziologie, Geschichte, Ethnologie und Gender Studies studiert.
Christina Caprez: Familienbande. 15 Porträts in Text und Bild. Limmat-Verlag, 2012. 280 Seiten, ca. 40 Franken
Im Rahmen der Veranstaltung «Nacht der Frau» diskutiert Christina Caprez mit Melanie Mühl, Journalistin und Autorin der Streitschrift «Die Patchwork-Lüge». Zweifellos eine spannende Paarung!
Donnerstag, 8. März, 20 Uhr, Orell Füssli Buchhandlung Kramhof, Füsslistrasse 4, Zürich