Leben
Carmen Chaplin, wie lebt es sich als Enkelin einer Ikone?
- Interview: Frank Heer; Fotos: Michael Sieber
«Gewisse Türen gingen für mich nur auf, weil mein Nachname Chaplin ist»: Carmen Chaplin über ihren Grossvater, von dem sie ihrer kleinen Tochter noch nicht verraten will, dass er der weltberühmte lustige Mann mit Schnauz, Stock und Melone war.
annabelle: Carmen Chaplin, wie ist das eigentlich, wenn Sie sich einen Film mit Charlie Chaplin anschauen: Sehen Sie da Ihren Grossvater? Oder die Ikone, als die ihn die Welt kennt?
CARMEN CHAPLIN: Zuerst sehe ich das, was auch Sie sehen: die Film-Ikone Chaplin. Ich kannte ihn ja nur als freundlichen alten Mann mit weissen Haaren. Wir erfuhren erst von Klassenkameraden in der Schule, wer unser Grossvater war. Danach dauerte es etwas länger, bis ich mich intensiver mit ihm zu beschäftigen begann und die Gelegenheit nutzte, mit meinem Vater Michael über Charlie zu sprechen. Von sich aus redete er kaum über seinen berühmten Vater – ausser wenn wir ihn darum baten.
Warum?
Ich glaube, er wollte nicht, dass unser Grossvater eine zu gewichtige Rolle in unserem Leben spielte. Als Charlie Chaplins Sohn erfuhr er, wie schwer es ist, eine eigene Identität zu finden. Als junger Mann hatte er ein konfliktbeladenes Verhältnis zu seinem Vater. Er rebellierte, ging auf Distanz zu ihm. Später versöhnten sich die beiden aber wieder.
Verspürten auch Sie den Drang zur Rebellion?
Leider nein. Als junge Frau glaubte ich, man müsse nett und freundlich sein, um ans Ziel zu kommen. Das ging ganz gut, doch heute weiss ich, dass sich gewisse Türen für mich nur öffneten, weil mein Nachname Chaplin war, nicht aufgrund meines Charakters. Natürlich war das bequem, gerade wenn man jung ist und auf eigenen Beinen stehen möchte. Doch wenn ich heute auf meine Karriere zurückblicke, wünschte ich mir, ich hätte mehr rebelliert, statt gefallen zu wollen.
Sie waren nicht immer glücklich mit dem Verlauf Ihrer Karriere als Schauspielerin, richtig?
Ich steckte sehr viel Leidenschaft in meine Rollen, und wenn ich dann die Filme sah, war das Resultat meistens nicht das, was ich mir erhofft hatte. Aber ich war auch unglaublich unsicher. Ich glaubte, die Erwartungen und Projektionen erfüllen zu müssen, die viele Leute mit meinem Namen in Verbindung brachten.
Wünschten Sie sich manchmal einen anderen Nachnamen?
Nein. Es wäre zu einfach, meinem Namen die Schuld daran zu geben, dass ich die Filme nicht machen konnte, die ich gern gemacht hätte. Ich verstehe heute, warum es meinem Vater so wichtig war, dass wir uns nicht über unseren Grossvater identifizierten: Identität und Projektion liegen nahe beieinander. Meine Tochter ist jetzt dreieinhalb Jahre alt, und ich habe nicht vor, ihr in absehbarer Zeit zu sagen, dass dieser lustige Mann mit Hut und Stöckchen ihr Urgrossvater ist.
Sie waren fünf, als Charlie Chaplin starb. Können Sie sich überhaupt an ihn erinnern?
Ja. Ich erinnere mich, wie wir ihn und unsere Grossmutter in Corsier besuchten. Wir mussten uns ganz besonders korrekt benehmen, alles war sehr viktorianisch, es gab Butler. Das war für uns Kinder sehr ungewohnt. Wir wuchsen auf einer alten Farm auf, meine Eltern waren Hippies und liessen uns machen, was wir wollten.
War Charlie Chaplin auch privat ein lustiger Mensch?
Er war, wie die meisten Genies, in erster Linie ein sehr komplizierter Mensch. Die bittere Armut, die seine Kindheit prägte, und die Berühmtheit, die er später erlangte, sorgten für Konflikte und Widersprüche, auch innerhalb der Familie. Er erzog seine Kinder streng, und gleichzeitig waren sie sehr privilegiert: Sie bereisten mit ihren Eltern die Welt und lebten in diesem grossen Haus mit Garten und Swimmingpool und Tennisplatz und Kindermädchen. Aber wie gesagt, alles, was ich über die komplexe Persönlichkeit von Charlie Chaplin weiss, erfuhr ich über die Jahre von meinem Vater. Und natürlich las ich viele Biografien.
Welche können Sie empfehlen?
Charlies Autobiografie. Oder David Robinsons «Chaplin. Sein Leben. Seine Kunst».
Ihre Tante Geraldine hat es geschafft, aus dem Schatten ihres Vaters zu treten. Sie ist eine erfolgreiche Schauspielerin geworden. Was hat sie richtig gemacht?
Geraldine erzählte mir einmal, dass der Grund, weshalb sie unbedingt Schauspielerin werden wollte, die Eifersucht auf ihren Bruder Michael war, weil er und nicht sie in «A King in New York» von 1957 eine Rolle bekam. Geraldine war so gekränkt, dass sie den Ehrgeiz entwickelte, Schauspielerin zu werden. Manchmal sind die Gründe, warum Menschen etwas tun oder nicht tun, sehr zufällig.
Ihre Grossmutter Oona überlebte Charlie Chaplin um fast zehn Jahre. Kannten Sie sie gut?
Ja. Ich bewunderte sie sehr. Leider begann sie zu trinken, nachdem mein Grossvater gestorben war. Oona war eine freundliche und sehr schöne Frau. Aber auch zurückhaltend und vornehm, nicht die Art von Oma, der man auf den Schoss klettert, um sich Bücher vorlesen zu lassen. Wenn wir sie besuchten, assen wir Kinder mit dem Personal in der Küche und die Erwachsenen im Salon. Das war bei meinem Vater und seinen Geschwistern nicht anders: Das Nachtessen wurde in der Küche mit den Bediensteten eingenommen, Charlie und Oona dinierten im Salon.
Hatten Sie selbst jemals in der Chaplin-Villa in Corsier gewohnt?
Nein, als meine Eltern dort einzogen, lebte ich bereits in Paris. Aber ich war oft in Corsier bei meiner Familie. Weihnachten, Ostern, Sommerferien …
Fühlte sich das Haus nicht schon damals wie ein Chaplin-Museum an?
Nein, nachdem meine Grosseltern gestorben waren, wurde ein grosser Teil der Möbel und Erinnerungsstücke an ihre acht Kinder verteilt. Meine Eltern richteten die Räume neu ein. Aber vieles blieb im Haus: Charlies Schreibtisch, die Gemälde, die Bibliothek.
Können Sie uns das Haus ein wenig beschreiben?
Zuerst trat man in einen Gang mit einem grossen Spiegel. Rechts führte eine breite Treppe in die oberen Etagen. Dort waren die Bade- und Schlafzimmer. Und die Bibliothek, wo uns Oona Super-8-Filme von früher zeigte: von Familienfesten, Ausflügen oder einem Besuch bei Pablo Picasso. Im Parterre waren die Küche, der Salon mit Blick in den Park und den englischen Kuhgemälden an den Wänden, die mein Grossvater gesammelt hatte. Der grosse Esstisch war das Herz des Hauses, hier verbrachte ich viele Stunden mit meinen Eltern und Geschwistern, Verwandten und Freunden der Familie.
Auch Michael Jackson soll schon zum Essen vorbeigeschaut haben.
Er war ein Freund meiner Grossmutter. Manchmal besuchte er uns, wenn er in der Nähe war. Ich erinnere mich an das eine Mal, Ende der Neunzigerjahre. Wir sassen alle am selben Tisch, meine Mutter hatte eine Quiche gebacken, und ich schöpfte den Salat. Erst fühlte es sich etwas seltsam an: Michael war ein ziemlich merkwürdiger, aber interessanter Mensch. Und ich war ein grosser Fan. Mit der Zeit lockerte sich die Stimmung, und es war ganz normal, dass er bei uns am Tisch sass. Abends gab er ein Konzert in Lausanne. Er holte mich und meine Schwestern auf die Bühne, um «We Are the World» zu singen.
Jackson soll seinen berühmten Moonwalk von Ihrem Grossvater abgeschaut haben.
Er verehrte Charlie Chaplin. Nachdem meine Grossmutter gestorben war, freundete er sich mit meiner Mutter und meiner Schwester an. Manchmal rief er sie mitten in der Nacht an, um zu plaudern.
Jetzt ist das Haus ein Museum. Freuen Sie sich?
Ich bin sicher, mein Grossvater wäre sehr stolz darauf gewesen. Er war der Region ja sehr verbunden und verbrachte mehr als zwanzig Jahre seines Lebens in diesem Haus. Aber natürlich schwingt da auch ein bisschen Wehmut mit. Die Zeit der Familientreffen am grossen Esstisch oder auf der Veranda mit Blick in den schönen Park ist nun vorbei.
Chaplin – das Museum
Pünktlich zu Charlie Chaplins 127. Geburtstag, am 16. April 2016, eröffnete in Corsier bei Vevey das Museum Chaplin’s World. Zum einen ist da, am Rand eines Parks, der etwas schroffe Neubau The Studio. Hier sind Filmkulissen nachgebaut, ein Kino untergebracht und Erinnerungsstücke zu bewundern, etwa die beiden Oscars und Chaplins Original-Trampkostüm mit Stock und Melone. Am nächsten kommt man dem Menschen Chaplin allerdings ein paar Schritte weiter, in der Villa Manoir de Ban, in welcher der Schauspieler, Komiker, Regisseur, Komponist, Cutter, Produzent und Drehbuchschreiber lebte. Chaplin bezog die 15-Zimmer-Villa 1954, als ihm nach einer Europareise die Rückkehr in die USA wegen «kommunistischer Aktivitäten» verboten wurde. Hier lebte er mit seiner vierten Ehefrau Oona und den gemeinsamen acht Kindern bis zu seinem Tod 1977. 2008 wurde das Grundstück an eine Luxemburger Investmentfirma verkauft. Heute präsentiert sich Manoir de Ban wieder wie zu Charlie Chaplins Zeit: Es ist mit Originalmöbeln eingerichtet, an den Wänden hängen Familienfotos, und private Super-8-Filme werden in der Bibliothek auf eine Leinwand projiziert.
– Chaplin’s World, 2, route de Fenil, Corsier-sur-Vevey, täglich 10 bis 18 Uhr, chaplinsworld.com/de
Die Uhrenbotschafterin
Die Schauspielerin Carmen Chaplin wurde 1972 in London geboren. Sie ist die Tochter von Michael Chaplin, der 1946 als zweites Kind und ältester Sohn von Charles Chaplin und Oona O’Neill zur Welt kam (der Tochter des US-Schriftstellers Eugene O’Neill). Carmen Chaplin ist Botschafterin der traditionsreichen Schweizer Uhrenfirma Jaeger-Le Coultre, für die sie den Kurzfilm «A Time for Everything» drehte, in dem ihre Tochter Uma und ihre Mutter Patricia zu sehen sind. Sie ist verheiratet und lebt in London.
Das Making-of-Video zum Shooting von Fotograf Michael Sieber sehen Sie hier:
1.
«Mein Grossvater war, wie die meisten Genies, in erster Linie ein sehr komplizierter Mensch»: Carmen Chaplin
2.
Der Star mit Ehefrau Oona und sechs der acht Kinder, darunter Carmens Vater Michael (2. v. r.)
3.
Die Villa Manoir de Ban ist nun wieder eingerichtet wie zu Charlie Chaplins Lebzeiten.
4.
Museal aufgerüstet: Charlie Chaplins Arbeitszimmer