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«Das Kopftuch ist Marketing der Islamisten»

«Das Kopftuch ist Marketing der Islamisten»

  • Interview: Helene Aecherli; Foto: iStock

«Wo immer Islamisten aktiv werden, zielen sie als Erstes auf die Frauen», sagt die schweizerisch-jemenitische Politologin Elham Manea. In ihrem neuen Buch fordert sie «ein unerschrockenes Hinsehen». Ein Gespräch über Engel, westliche Schuldgefühle und den Tag, als sie ihren Schleier ablegte.

annabelle: Elham Manea, Sie schreiben in Ihrem Buch, bloss den IS oder die al-Qaida ins Visier zu nehmen, sei wie ein Schnappschuss durch ein Nadelöhr. Das ist verwirrend: Da werden Milliarden in den Kampf gegen den Terror investiert, und Sie sagen, der ist nicht das Hauptproblem. Warum nicht?
Elham Manea: Weil wir mit dem Fokus auf den Terror das Spektrum des Radikalisierungsprozesses übersehen, das überhaupt erst zur Gewalt führt. Die Gewalt ist sozusagen das Endprodukt, nicht aber das grundlegende Problem. Wir fühlen uns wohl mit der Idee des einsamen Angreifers oder halten uns daran fest, dass jemand übers Internet radikalisiert wurde – vermeiden es aber, den ideologischen Kontext zu beleuchten, der den Nährboden für Radikalisierungen bereitet.

Sie verorten diesen ideologischen Kontext in den Lehren des gewaltlosen Islamismus, wie Sie ihn nennen. Was steckt dahinter?
Der Islamismus besteht aus zwei Formen: einer fundamentalistischen Interpretation des Islam, etwa der Salafismus, und einer politischen Ideologie, die auf dieser fundamentalistischen Interpretation der Religion beruht. Hier kommen die Muslimbruderschaft oder die türkische Milli Görüs ins Spiel. Der Islamismus ist eine religiöse Bewegung, die politisch ganz rechts aussen steht und darauf hinarbeitet, einen islamischen Staat zu errichten, der einzig auf den Regeln Gottes beruht.

Dies ist im Prinzip das, was der IS mit seiner Utopie eines Kalifats anstrebte.
Natürlich. Das Kalifat ist keine Erfindung des IS, sondern in der Weltanschauung der Islamisten fest verankert. Deshalb lässt sich auch nicht behaupten, dass der Islam nicht Teil des Problems ist. Denn die Islamisten beziehen sich auf seine Schriften, um ihre Ideologie und letztlich auch Gewalt zu legitimieren. Diese Form des Islamismus müssen wir ins Visier nehmen.

Doch jetzt mal nüchtern betrachtet: Wie stark sind die Islamisten wirklich?
Das ist eine sehr gute Frage. In Ägypten, Tunesien, der Türkei oder in Malaysia verbuchen sie bis zu fünfzig Prozent der Wählerstimmen. Ihr eigentlicher Erfolg liegt jedoch darin, ihre Ideen mehrheitsfähig zu machen. So haben sich etwa ihre Vorstellungen von Jihad, Scharia oder der Opferhaltung gegenüber dem Westen längst auch in Europa etabliert. Bei meinen Recherchen in England und Belgien habe ich gesehen, wie dafür gesorgt wird, dass Schüler in islamischen Gemeinschaften nur noch Schriften islamistischer Ideologen zu lesen bekommen. Dadurch werden sie von der Mehrheitsgesellschaft abgespalten. Dies ist der Grund, weshalb die junge Generation heute oftmals fundamentalistischer ist als ihre Eltern.

Sie sagen, der Islamismus verbreitet sich weltweit wie ein Virus. Was macht ihn so erfolgreich?
Weil er in erster Linie über gewaltige finanzielle Ressourcen verfügt. Hauptsponsoren sind Saudi Arabien, allen voran jedoch Kuwait und Katar. Autoritäre Regime kooperieren mit Islamisten, um sich Legitimität zu verschaffen. Zudem sind Islamisten hervorragend organisiert: Sie haben Medien, über die sie ihre Botschaften verbreiten, ein weltweites Netzwerk, eine gut ausgebildete Infrastruktur: Moscheen, Kindergärten und eben: Schulen. Die Art, wie sie ihre Botschaften predigen, ist gezielt und systematisch. Man wächst – wie in einer Sekte – Schritt für Schritt in ihre Ideologie hinein, ohne es zu merken.

Sie selbst wurden im Alter von 16 Jahren in Ihrer Heimat, dem Jemen, radikalisiert. Dies, obwohl Sie aus liberalem Haus stammen, viele Freiheiten hatten und Klassenbeste am Gymnasium waren. Wie kam es dazu?
Es gab damals viele islamistische Gruppen, die auf Schulhöfen missionierten. Eines Tages wurde ich von einer charismatischen jungen Frau angesprochen und zu einem Treffen ihrer Gruppe eingeladen. Ich ging hin. Ich war neugierig, sehnte mich danach, dazuzugehören, und die Gruppe nahm mich mit offenen Armen auf. Ihre Botschaften drehten sich anfänglich darum, wie sehr mich Gott liebt, dass er mir alle Sünden vergibt – wenn ich zur richtigen Muslimin würde. Das bedingte zum Beispiel, dass ich mitten in der Nacht aufstand, um zu beten, die Toilette mit dem linken Fuss betrat, Bücher darüber las, wie ich mein Leben als Muslimin zu führen hatte. Jeder Schritt war unter Kontrolle. Und dann musste ich mich verschleiern. Ich hatte nie einen Schleier getragen. Nun tat ich es.

Sie hinterfragten nichts?
Ich hatte meine Zweifel. Mir war unbehaglich zu Mute, als ich erfuhr, dass es in Ordnung sei, Ungläubige zu töten, Muslime wie Nichtmuslime, weil die in Ignoranz lebten. Oder als mir Musik, Fernsehen, Poesie, Philosophie und Kunst verboten wurden. Aber ich dachte, das ist, was Gott will. Zudem liebte ich mein neues Leben, war wie in Trance. Ich hatte eine starke Struktur, die Gruppe war wie eine Familie. Dieser ganze Prozess geschah innerhalb von sechs Monaten.

Wann begann diese Struktur brüchig zu werden?
Als man mir sagte, meine Eltern seien korrupt. Eine weitere Warnlampe begann zu blinken, als ich hörte, dass eine Frau nur in den Himmel kommt, wenn sie nicht nur Gott, sondern auch ihrem Ehemann bedingungslos gehorcht, ansonsten würde sie von den Engeln verflucht. Ich stutzte: Was war das für ein Gott? Was waren das für Engel? Plötzlich war ich hellwach. An jenem Tag wusste ich, dass ich nie mehr zurückkehren würde. Ich ging. Und legte den Schleier ab.

Wie haben diese Erfahrungen Ihren eigenen Glauben geprägt?
Sie öffneten mir die Augen darüber, wie um Herz und Seele des Islams gekämpft wird, und machten mich wachsam: Das Mainstreaming des Islamismus hat den Islam in vielen Ländern radikalisiert, was gerade für Frauen oft verheerende Konsequenzen hat. Wo immer Islamisten aktiv werden, zielen sie als Erstes auf die Frauen ab: auf ihren Körper, ihre Sexualität und die Kontrolle darüber.

Die Kontrolle über Frauen und ihren Körper ist aber Grundlage jeglicher patriarchaler Gesellschaftsordnung. Insofern ist dies nichts Aussergewöhnliches.
Richtig. Doch wird ihr hier ein religiöser Unterbau verliehen. Ein Beispiel liefert der Islamische Zentralrat Schweiz IZRS. Er spricht sich für eine Form der weiblichen Genitalverstümmelung aus und stützt sich dabei auf fundamentalistische Argumente, obwohl Genitalverstümmelung hierzulande verboten ist und weltweit von islamischen Theologen geächtet wird. Die Propaganda des IZRS ist gefährlich, weil durch die religiöse Legitimierung auf Gläubige Druck ausgeübt werden kann. Das sichtbarste und erfolgreichste Mittel zur Kontrolle der Frauen ist jedoch das Kopftuch. Damit markieren Islamisten ihr Territorium.

Der Hidschab soll vor vierzig Jahren mit dem Erstarken der Muslimbruderschaft in Ägypten aufgekommen sein. Wie gelang es, ihn zu verbreiten?
Dahinter steckt eine smarte Marketingstrategie: Zu Beginn der 1970er-Jahre besuchte ein ranghoher Vertreter der Muslimbruderschaft die medizinische Fakultät der Universität Kairo und sah, dass nur etwa zwei Studentinnen ihr Haar bedeckt hatten. Was tun? Die Muslimbrüder schlossen einen Deal mit einer Textilfabrik ab. Sie bekam den Auftrag, preisgünstige Kopftücher zu produzieren. Dazu druckte die Muslimbruderschaft Broschüren, in denen zu lesen war, was passiert, wenn sich eine Frau nicht verhüllt: Sie würde den Zorn Gottes auf sich ziehen, da ihr Körper Quelle aller Sünden sei. Im Koran ist nie von einem weiblichen Dresscode die Rede. Doch schafften es die Islamisten, Frauen religiöse Schuldgefühle einzuimpfen. Fünf Jahre später war ein Drittel aller Studentinnen verhüllt.

Der Nikab, der schwarze Gesichtsschleier, erschien nur wenig später auf der Bildfläche. Steckt da ebenfalls ein Marketingtrick dahinter?
Im Prinzip schon. Damals wurde die arabische-islamische Welt durch die Revolution im Iran, der russischen Invasion Afghanistans und die Besetzung Mekkas durch salafistische Gruppierungen erschüttert. Die Saudis waren verunsichert, auch deshalb, weil Khomeini sie als Handlanger des Westens brandmarkte. Um dem entgegenzuhalten, propagierten sie ihre eigene, fundamentalische Form der Islam, in Zusammenarbeit mit der Muslimbruderschaft. Und als Zeichen dieser Ideologie bedienten sie sich des Nikabs – einem Kleidungsstück, das bis zu jenem Zeitpunkt nur in einem Teil Saudi Arabiens getragen worden war.

Sie definieren Hidschab und Nikab als politische Werkzeuge eines totalitären, fundamentalistischen Weltbilds. Das heisst aber nicht, dass alle Frauen, die sich heute verschleiern, diesem Weltbild anhängen.
Das stimmt. Und genau das macht die Diskussion so kompliziert. Es gibt viele Gründe, weshalb Frauen sich verhüllen. In Ägypten kenne ich Frauen, die das Kopftuch tragen, weil sie sich das Geld für den Coiffeur sparen wollen. Andere verstehen den Schleier als Ausdruck ihrer religiösen Identität. Wiederum andere tragen ihn als politischen Protest. Ein Grossteil der Frauen und Mädchen aber wird von ihrem Clan oder ihrer Familie gezwungen, sich zu verhüllen. Manchen wird mit der Hölle gedroht, sollten sie sich dem Kopftuch verweigern. Viele dieser Mädchen leiden deshalb stumm. Zum Teil existiert auch ein hoher Gruppendruck an Schulen. Den jungen Frauen wird suggeriert, sie würden unverhüllt keinen Mann finden oder als unehrenhaft gelten.

Hierzulande wird ein Kopftuchverbot an Kindergärten und Schulen diskutiert. Wie stehen Sie dazu?
Ich bin für ein solches Verbot. Schulen sollen sichere und neutrale Zonen sein. Ich fordere sogar ein Kopftuchverbot bis zur Mündigkeit.

Was, wenn ein Mädchen das Kopftuch tragen will?
Sehen Sie, es gibt Frauen und Mädchen, die sagen, dass sie den Hidschab freiwillig tragen. Das respektiere ich. Doch ich habe viele Frauen gefragt: «Hättet ihr euch verhüllt, wenn man euch gesagt hätte, dass ihr geliebt werdet und nicht in der Hölle brennt, wenn ihr keinen Hidschab trägt?» Jedes Mal war die Antwort: Nein. Ein Kopftuchverbot würde Mädchen Zeit lassen, genug Wissen zu sammeln, um einem allfälligen Druck zu widerstehen, sich verhüllen zu müssen.

Nun gibt es Stimmen, die sagen: Auch orthodoxe Jüdinnen bedecken ihr Haar. Warum also nur auf das islamische Kopftuch fokussieren?
Weil der politische Islam im Gegensatz zum orthodoxen Judentum oder zu christlichen Sekten eine Ideologie ist, die nach weltweiter Macht strebt. Jeglicher religiöser Fundamentalismus schränkt die Frauenrechte ein. Die Kontrolle über die Frau ist jedoch eine der Hauptstrategien des Islamismus in seinem globalen Dominanzanspruch. Das dürfen wir nicht vergessen.

Immer wieder sind westliche Feministinnen zu hören, die sich für das Recht der muslimischen Frau auf Verhüllung stark machen, aber jenen Frauen ihre Unterstützung verweigern, die auf ihrem Recht beharren, sich nicht zu verhüllen oder den Schleier ablegen. Wie erklären Sie sich das?
Hier spielt wohl eine Mischung aus Beschützerinstinkt und reduziertem Menschenbild eine Rolle. Das heisst, Angehörige von Minderheiten unterschiedlicher Nationalitäten werden nicht als Individuen wahrgenommen, sondern auf ihre religiöse Identität reduziert. So würde ich etwa nicht als Akademikerin und Menschenrechtsaktivistin betrachtet, sondern in erster Linie als Muslimin. Und als solche bin ich religiös, bete und trage ein Kopftuch. Diese Haltung ähnelt jener der Rechtspopulisten, die in mir als Muslimin nur eine potenzielle Terroristin sehen. Doch während Rechtspopulisten von Angst oder Hass getrieben sind, sind diese Feministinnen vom Wunsch beseelt, zu schützen.

Woher kommt dieser Wunsch?
Bei vielen steckt ein starkes Gerechtigkeitsempfinden gegenüber Minderheiten dahinter. Die Gründe hierfür liegen in einem tief verankerten kollektiven Schuldgefühl wegen der kolonialen Vergangenheit des Westens und seiner als imperialistisch wahrgenommenen Politik. Ich nenne es «die Bürde des weissen Menschen». Man will gegenüber jenen, von denen man glaubt, dass sie vom Westen benachteiligt worden sind, als Wiedergutmachung besonders tolerant sein.

Eine im Grunde noble Haltung.
Auf den ersten Blick vielleicht. Trotzdem ist es eine naive und vor allem eine rassistische Haltung. Denn sie macht ganze Gruppen zu Opfern, in unserem Fall «die Muslime», die es um jeden Preis zu schützen gilt, und spricht den «Beschützten» jegliche Selbstverantwortung ab. In diese Falle tappen nicht nur Feministinnen, sondern auch linke Intellektuelle sowie linke und liberale Politiker. Das macht sie unfähig, in Bezug auf die zu schützende Gruppe Probleme zu benennen. Aus Angst davor, diese Gruppe zu stigmatisieren, werden die Probleme unter den Tisch gewischt. Ein Beispiel: Als der algerische Autor Kamel Daoud nach den Übergriffen in Köln über den kulturellen Hintergrund der Täter mutmasste, lief eine Gruppe von 19 französischen Akademikern Sturm und brandmarkte ihn als islamophob. Solche Denkverbote spielen Rechtsparteien in die Hände, die sich genau solche Themen auf ihren Banner heben.

Sie bemerken in Ihrem Buch, dass Linksparteien Gefahr laufen, sich durch ihren Beschützerdrang zu Verbündeten der Islamisten zu machen. Warum?
Weil sie sie für authentische Stimmen islamischer Gemeinschaften halten. Denn Islamisten verstehen es meisterhaft, die Vorstellung zu bedienen, wie ein Muslim zu sein hat – fromm, Frauen kopftuchtragend, vom Westen stigmatisiert, von Rechtsparteien verteufelt. Linksparteien tendieren deshalb dazu, sich deren Forderungen anzuschliessen, etwa spezielle Lehrpläne für Kinder, nach Geschlechtern getrennter Unterricht oder Gebetsplätze in öffentlichen Räumen, obwohl Religion im Westen als Privatsache gilt, in der Annahme, damit den Bedürfnissen aller Muslime gerecht zu werden.

Wie viele Islamisten gibt es in der Schweiz?
Das muss noch genau erforscht werden. Anzeichen für islamistische Aktivitäten gibt es vor allem in urbanen Räumen. Noch sind dies eher kleine Gruppen, aber wir müssen uns ernsthaft mit dem islamischen Fundamentalismus auseinandersetzen, so wie wir es mit jeglicher Form von Fundamentalismus tun. Und dafür brauchen wir in erster Linie über die Parteigrenzen hinweg eine Sprache, die es erlaubt, den Islamismus in unseren Reihen klar und differenziert zu thematisieren. Das setzt unter anderem voraus, eine Wirgegen-die-Muslime-Rhetorik zu vermeiden, um nicht die gesamte islamische Bevölkerung der Schweiz unter Generalverdacht zu stellen.

Wie stehen Sie zum Burkaverbot?
Für mich ist es Symbolpolitik. Frankreich hat ein Burkaverbot. Wurden die Probleme in den Banlieues damit gelöst? Eine Fixierung auf die Burka lenkt von der Auseinandersetzung mit der ihr zugrunde liegenden Ideologie ab. Ich bin für eine nationale Regelung, die festhält, dass es Pflicht ist, in der Öffentlichkeit und in der Interaktion mit anderen Menschen das Gesicht zu zeigen, und dass man nicht wegen Diskriminierung klagen kann, sollte man wegen der Burka keinen Job bekommen.

Auf einer Skala von null bis zehn: Wie optimistisch sind Sie, wenn Sie in die Welt hinausblicken?
Sagen wir – sechs. Viele westliche Feministinnen haben mich enttäuscht. Hingegen erfüllen mich die Frauen im Iran, in Saudiarabien oder in Ägypten mit Hoffnung. Sie kämpfen an vorderster Front gegen die Fundamentalisten in ihren Gesellschaften an, widersetzen sich den schlimmsten Kontrollmechanismen und religiös sanktionierten Repressionen, haben dabei den ganzen Staatsapparat gegen sich, der alles daran setzt, ihnen die Flügel zu brechen – und trotzdem versuchen sie zu fliegen.

 

– Elham Manea: Der alltägliche Islamismus. Terror beginnt, wo wir ihn zulassen. Kösel-Verlag, München 2018, 288 S., ca. 28 Fr.