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US-Popstar Chappell Roan: «Ich bin eine Dragqueen – ob es dir passt oder nicht»

Popkultur

US-Popstar Chappell Roan: «Ich bin eine Dragqueen – ob es dir passt oder nicht»

Chappell Roan wird als queere Pop-Ikone der Stunde gefeiert. Wir haben mit der «Casual»-Sängerin über ihren Weg zum Ruhm, internalisierte Homophobie und die Inspiration für ihre Drag-Looks gesprochen.

Laut, bunt und glitzernd ist Chappell Roans Welt, die Millionen von Fans weltweit begeistert. Bereits jetzt gilt die Sängerin als queere Musik-Ikone, deren Pop-Hymnen und von Dragqueens inspirierte Ästhetik den Zeitgeist treffen: Seit die 26-jährige Amerikanerin im September ihr Debüt-Album «The Rise and Fall of a Midwest Princess» veröffentlichte, wird sie als nächster grosser Star gefeiert.

Ihre Songs «Casual» – in dem sie ihre gescheiterte Situationship besingt –, «Red Wine Supernova» oder «Pink Pony Club» gingen viral, nachdem Chappell Roan als Opening Act auf Olivia Rodrigos «Guts»-Welttournee einem breiteren Publikum bekannt geworden war.

Mit Schweinenase auf dem roten Teppich

In den vergangenen Monaten erreichte die Sängerin, die bürgerlich Kayleigh Amstutz heisst, gleich mehrere Meilensteine: Ihre aktuelle Single «Good Luck, Babe!» wurde bei Spotify fast 173 Millionen Mal gestreamt. Im März wurde Chappell Roan im Netz für ihren erfrischenden Auftritt im Video-Format «Tiny Desk» gefeiert.

Im Kontrast zu anderen Artists wie Taylor Swift, die sich bei ihren intimen «Tiny Desk»-Auftritten vor allem unaufgeregt und bodenständig inszenieren, performte Chappell in oranger XL-Perücke, mit Lippenstift auf den Zähnen und im pinken Abschlussball-Kleid. Die extravaganten Looks gehören zu ihrer Bühnenshow schliesslich dazu: Bei den diesjährigen Grammys lief sie etwa mit einer Schweinenasen-Prothese über den roten Teppich.

Das Musikmagazin «Rolling Stone» nahm Chappell Roan in seine Top-25-«Future of Music»-Liste 2024 auf. Im April folgten zwei als ikonisch bejubelte Auftritte am Coachella-Festival in Kalifornien und vor kurzem war sie in Elton Johns Radioshow «Rocket Hour» zu Gast.

Auch das Weisse Haus lud die Sängerin zu einem Event für den Pride-Monat ein – die Einladung lehnte sie aus politischen Gründen ab, wie sie während ihres Auftritts am Governors Ball Music Festival in New York verkündete: «Wir wollen Gerechtigkeit und Freiheit für alle. Wenn ihr das erreicht, dann komme ich», so Chappell Roan, als Freiheitsstatue verkleidet, auf der Bühne.

Wie fühlt es sich an, der nächste grosse Pop-Superstar zu werden? Wir trafen Chappell Roan zum Gespräch im Video-Call.

annabelle: In den vergangenen Monaten erlebten Sie eine immense Erfolgswelle, wie hat sich Ihr Leben verändert?
Chappell Roan: Ich werde viel öfter auf der Strasse erkannt, das ist sicher die grösste Veränderung. Und ich arbeite viel mehr. Aber alles andere fühlt sich normal an (lacht).

Wie jetzt, echt?
Ja. Ausser den Streaming-Zahlen im Internet, aber das ist nicht das echte Leben.

Gibt es einen Schlüsselmoment, der Sie dahin gebracht hat, wo Sie heute sind?
Ich kann mich an den Moment erinnern, in dem ich dachte: Ich habs geschafft. Das war, als ich meine ersten Headline-Shows spielte. Das war sehr bestätigend. Für all die Jahre, in denen ich mich so verloren und so verunsichert gefühlt habe. Für die Jahre, in denen ich mich fragte, ob ich in der richtigen Branche bin, ob ich überhaupt eine Sängerin sein sollte und ob ich Musik mache, die mir etwas bedeutet. In jenem Moment wurde das alles bestätigt – die Antwort auf meine Fragen war ja. Es war eine kleine Location, da waren vielleicht 400 Leute. In New York spielte ich dann schon vor 600 Leuten und konnte es nicht glauben. Es gibt nichts auf der Welt, was ich mir mehr wünschen könnte, als auf der Bühne zu stehen.

Beinahe hätten Sie alles hingeschmissen: Nachdem Sie 2017 einen Plattenvertrag bekommen hatten und nach Los Angeles gezogen waren, mussten Sie 2020 wieder zurück nach Missouri zu Ihren Eltern ziehen, weil sich Ihr Label von Ihnen getrennt hatte. Doch dann gaben Sie der Musikkarriere doch noch mal eine Chance und zogen zurück nach Los Angeles. Wie haben Sie diese Zeit überstanden und was hat Sie dazu gebracht, weiterzumachen?
Ich musste es einfach probieren. Ich sagte mir, dass es einen Versuch wert ist und gab mir ein Jahr lang Zeit, um Fuss zu fassen. Ich dachte, wenn ich in einem Jahr nicht glücklich bin, dann ziehe ich aus Los Angeles weg. Und ich sagte mir etwa zehn Jahre lang jeden einzelnen Tag: Mach weiter, mach weiter, mach weiter. Du packst das. Es brauchte sehr viel Ausdauer.

Sie sprechen offen darüber, wie Sie in einem konservativen, christlichen Haushalt in Missouri aufwuchsen und Ihre Homosexualität unterdrücken mussten. Welches Verhältnis haben Sie heute zu Ihrer Heimat?
Ich habe heute eine viel bessere Beziehung dazu – besser als je zuvor. Und es wird jedes Mal, wenn ich nach Hause fahre, besser, weil ich nicht wütend bin. Alles, was ich tun kann, ist, eine sanftmütige Person zu sein. Und natürlich für das einzustehen, was ich glaube.

Erklären Sie.
Ich lasse mir ganz sicher keinen Scheiss gefallen und zu mir ist ganz sicher niemand homophob – ich wehre mich dagegen. Aber im Mittleren Westen gibt es viel Schönheit, die ich, abgesehen von Politik und Religion, sehe. Zum Beispiel in der Natur, im Essen und in den Menschen. Ich weiss das wirklich zu schätzen und bin sehr dankbar dafür, woher ich komme.

Wie sind Sie an diesen Punkt gelangt, an dem Sie eine gute Beziehung zu ihrem Zuhause haben? War das ein Prozess?
Es brauchte viel Therapie, um meine christliche Erziehung und die Homophobie aufzuarbeiten. Es hat viele Jahre gedauert, den Hass für mich, meine Heimatstadt und meine Familie zu entwirren. Ich habe nicht realisiert, dass alles in Verbitterung und Groll eingehüllt war. Ich musste mich fragen, warum ich für so vieles davon Verbitterung in mir trug. In den letzten zwei, drei Jahren hat es sich stark zum Besseren verändert.

Ist das auch der Grund, warum Sie Ihre Herkunft in Ihrer Kunst und Ihrer Ästhetik integrieren?
Ich muss ehren, wo ich herkomme – und nicht so tun, als wäre ich nicht von da. Tatsächlich liebe ich, wo ich herkomme! Ich liebe die Ästhetik (lacht). Und ja, es gibt auch Dragqueens im Mittleren Westen, die erfolgreich sind. Und es gibt überall queere Menschen, auch in den roten Staaten.

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«Ich bin sehr inspiriert von meinem inneren Kind – aber auch von Drag, Burlesque und Vegas Show Girls»

Auf Ihrer Tour unterstützen Sie lokale Drag Artists und setzen sich für die Community ein. Warum ist Ihnen das ein besonderes Anliegen?
Viele Leute wissen nicht einmal, dass es in ihrer Stadt Dragqueens gibt. Meine Auftritte bieten den Queens eine Plattform, um ihren Namen bekannt zu machen und sich mit ihrer Community zu vernetzen. Und ich liebe es einfach, jeden Abend immer wieder andere Dragqueens zu sehen! Auf der ganzen Welt: Paris, Melbourne, Berlin – einfach überall. Es ist toll zu sehen, dass Drag eine riesige Familie auf der ganzen Welt ist. Ich finde es wichtig, sie in einer Show zu integrieren – niemand macht eine bessere Show als eine Dragqueen.

Sie nennen Chappell Roan auch Ihr Drag-Projekt. Warum machen Sie Drag? 
Drag erlaubt es mir, mich frei zu fühlen und ich habe damit keine Angst, laut, queer und hyperfeminin zu sein. Ich habe nie ganz verstanden, warum Frauen kein Drag machen dürfen sollten, weil – ja, ich mache Drag! Ich fühle mich dadurch gut und frei. Und ich weiss, dass es das gleiche Gefühl ist, das die schwulen Männer fühlen.

Werden Sie in der Community je dafür kritisiert, weil Sie eine Frau sind?
Ja. Für mich fühlt es sich also so an, als würden sie es nicht mögen, dass Frauen gewisse Dinge tun. Ein weiterer Mann, der versucht, einer Frau zu sagen, was sie tun soll. Versuch nur, mir zu sagen, was ich tun soll! (lacht) Ich bin eine Dragqueen – ob es dir passt, wenn Frauen es auch tun, oder nicht.

Sie haben Ihre Queerness akzeptiert, als Sie nach Los Angeles zogen und sprechen offen darüber, wie schwer es ist, sich von internalisierter Homophobie zu befreien. Ist es Ihnen ein Anliegen, einen Diskurs zu diesem Thema anzustossen? Oder ergibt sich das automatisch, indem Sie Ihre Kunst machen?
Ja, ich glaube es ist letzteres – es gehört einfach dazu. Ich zeige die authentischste Version und die ehrlichste Version von mir selbst, wenn ich Songs schreibe. Es ist nichts erzwungen. Und es hilft, jeden Abend von queeren Menschen umgeben zu sein. Es hilft mir selbst dabei zu realisieren, dass es okay ist, Probleme damit zu haben, weil es vielen anderen ähnlich geht. Es ist sehr therapeutisch.

Tauschen Sie sich auch mit Ihren Fans dazu aus?
Ja. Es ist hart, denn mit Queerness geht eine Menge Ablehnung und Ausgrenzung einher. Das kann wirklich Familien auseinanderreissen. Darüber zu sprechen ist schwierig, es ist ein sehr schweres Thema. Ich kann diesen Menschen nachfühlen und verstehe es. Und ich weiss es zu schätzen, dass mir Menschen Vertrauen schenken und mir solch einen intimen Teil ihres Lebens anvertrauen.

Sie transportieren mit Ihrer Musik und Ihrer Show vor allem Queer Joy. Um Ihre Bühnenpersönlichkeit haben Sie eine ganze schimmernde Welt kreiert. Woher nehmen Sie die Einflüsse dafür?
Ich war sehr von Hannah Montana und Miley Cyrus inspiriert. Und Bratz-Puppen! Vieles, mit dem ich als Kind aufgewachsen bin und wie ich mich immer anziehen wollte – grosse Kleider, grosse Frisuren, viel Schmuck. Ich bin also sehr inspiriert von meinem inneren Kind – aber auch von Drag, Burlesque und Vegas Show Girls. Eigentlich von allem, was laut ist und glitzert.

Verwechseln Leute manchmal Ihre Bühnenpersönlichkeit und Sie als Privatperson Kayleigh? 
Leute glauben, dass ich hypersexuell, sehr flirty und aufregend bin und gerne feiern gehe. Dabei bin ich ziemlich langweilig und gerne zu Hause. Ich bastle gerne, lese viel, schaue Filme und verbringe gerne Zeit mit mir selbst. Ich gehe nicht oft in Clubs – denn wenn ich es tue, werde ich erkannt und dann kriege ich Panik. Kayleigh ist … Ich bin ein Country Girl, gerne draussen im Dreck und höre den Fröschen zu. (lacht)

Und Chappell?
Chappell ist, als würde ich zur Arbeit einstempeln und meine Schürze anziehen, um meine Schicht zu beginnen. Wenn ich ausstemple, bin ich fertig. Es ist schwierig, als Kayleigh unterwegs zu sein und erkannt zu werden, dann denke ich: Hey, ich arbeite gerade nicht! (lacht) Es gibt also einen grossen Unterschied. Aber Chappell ist ein Teil von mir.

Chappell Roan spielt im September Konzerte in Europa: Alle Tour-Daten für ihre Shows in Paris, Amsterdam, Berlin, München oder London gibt es hier.

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