Acht Jahre nach dem Ja zur Fristenlösung reden Frauen nicht mehr offen über Abtreibung. Woher komm die neue Scham?
Legal und doch tabu ist der Abbruch einer Schwangerschaft heute – acht Jahre nach dem klaren Volks-Ja zur Fristenlösung. Warum reden Frauen nicht mehr offen über Abtreibung? Junge Feministinnen befürchten einen Backlash. Und die Moralisten rüsten auf.
Jede vierte oder fünfte Frau in der Schweiz tut es (mindestens) einmal im Leben. Und dennoch: Über Abtreibung spricht man nicht. Nicht unter Kolleginnen, nicht mit den Eltern, nicht mit guten Bekannten. Das Thema ist tabu. In der Familie genauso wie unter Freunden. Als ich einer Freundin von meinen Recherchen erzähle, erinnert sie mich beiläufig an ihre eigene Abtreibung. Wie konnte ich das nur vergessen? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil wir das Thema in all den Jahren totgeschwiegen haben. Auch ein Rundmail an Bekannte, mit welchem ich nach Betroffenen suche, fördert Überraschendes zu Tage: Viele Frauen in meinem Umfeld haben abgetrieben – ohne dass wir jemals darauf zu sprechen gekommen sind. Niemand hat danach gefragt, niemand hat davon erzählt. Obwohl diese Frauen ausnahmslos betonen, wie wichtig es sei, das heisse Eisen endlich anzupacken, ist keine bereit, aus der Anonymität herauszutreten. «Zu persönlich», sagen die einen. «Ich möchte nicht, dass es die ganze Firma erfährt» oder «Meine Familie weiss nichts davon», die anderen.
Nicht immer waren die Frauen so verschwiegen. In einer der spektakulärsten medialen Politaktionen trommelte Alice Schwarzer 1971 innert kürzester Zeit 374 Frauen zusammen – darunter Prominente wie Romy Schneider oder Senta Berger –, die im «Stern» bekannten: «Wir haben abgetrieben.» Damals kämpften die Frauen für ihr Recht auf Selbstbestimmung, und es gehörte beinahe zum guten Ton, sich zu einer Abtreibung zu bekennen. Das politische Ziel, der Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen, war damals so vordringlich, dass bei der «Stern»-Kampagne, wie sich später erwies, einige Frauen zu einer Abtreibung standen, die es in Wahrheit gar nie gegeben hatte. Heute outen sich kaum noch Frauen mit ihrer Abtreibungsstory. Und wenn doch, wie kürzlich die Schriftstellerin Zoë Jenny im «Blick», dann zeigt sich die schleichende Rückkehr eines Tabus gleich in doppelter Hinsicht bestätigt: Zum einen wird klar, dass es selbst aufgeklärte Frauen wieder für ratsam halten, ihre Abtreibung sogar im nächsten Umfeld zu verheimlichen. Zoë Jenny weihte, so der «Blick», einzig ihren damaligen Freund ein. Zum anderen beweist die Lawine von grösstenteils empörten Leserbriefen, die der Artikel auslöste, dass eine solche Aussage mittlerweile tatsächlich einem «Geständnis» (so die «Blick»Schlagzeile) gleichkommt – selbst dann, wenn die Abtreibung, wie im Fall von Zoë Jenny, dreizehn Jahre zurückliegt.
Diese Entwicklung erstaunt auf den ersten Blick, haben doch die Schweizerinnen vor acht Jahren, am 2. Juni 2002, einen wichtigen politischen Sieg errungen: An diesem Tag wurde die extreme Anti-Abtreibungs-Initiative «Für Mutter und Kind», die Abtreibung sogar nach Vergewaltigung verbieten wollte, mit 81 Prozent bachab geschickt, die liberale Fristenregelung dagegen mit überwältigenden 72 Prozent angenommen. Seither dürfen Frauen innerhalb der ersten zwölf Wochen selbst entscheiden, ob sie ihre Schwangerschaft abbrechen wollen. Ein Meilenstein der Emanzipation. Kein vom Kantonsarzt bestimmter psychiatrischer Gutachter entscheidet mehr, ob einer Frau die Mutterschaft zuzumuten ist. Und keine Schwangere muss mehr heimlich ins Ausland reisen, um abzutreiben. Oder das Kind gegen ihren Willen austragen.
Vorbei auch der jahrzehntelange politische Kampf, bei dem es im Kern stets um die Frage gegangen ist: Ist es Aufgabe des Staates, embryonales Leben zu schützen? Oder ist eine Frau in der Lage, selbst zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen will? Anne-Marie Rey, die dreissig Jahre lang an vorderster Front für die Fristenregelung gekämpft und ihr Engagement im Buch «Die Erzengelmacherin» beschrieben hat, war nach dem Erdrutschsieg der liberalen Kräfte überglücklich: «Nun werden wir für die nächsten zwanzig Jahre Ruhe haben.»
Tatsächlich? Die junge Feministin Sonja Eismann geht im Buch «Hot Topic. Popfeminismus heute» der Frage nach, inwieweit die Forderungen der Frauenbewegung eingelöst worden sind. In Bezug auf Abtreibung sagt sie: «Ich glaube, da kippt wieder etwas.» Sie weist unter anderem auf die Art und Weise hin, wie Abtreibung in den Medien thematisiert wird: In Film und TV-Serien gelte seit einigen Jahren das ungeschriebene Gesetz, dass eine Figur eine Abtreibung höchstens in Erwägung ziehen oder als Jugendsünde erwähnen dürfe. «Dass sie sich tatsächlich für einen Abbruch entscheidet, kommt dagegen so gut wie nie vor.» In der «Lindenstrasse» genügt das Versprechen des Teenagervaters in spe, immer für sie da zu sein, um seine 14-jährige Freundin von einer Abtreibung abzubringen. In den folgenden Episoden wird demonstriert, dass alle Probleme, die eine Teenagerschwangerschaft mit sich bringt, lösbar sind, wenn die Mutter ihr Baby nur genug liebt und sie von ihrem Umfeld genügend Unterstützung erhält. «Was aber ist mit den Lebensplänen der 14-Jährigen, mit ihren Wünschen, Ängsten, Bedürfnissen?», fragt Sonja Eismann und gibt die Antwort gleich selbst: «Kein Thema.»
Nicht nur in der «Lindenstrasse» hat sich der Fokus von der Frau zum Fötus verschoben. Wie sich eine ungewollte Mutterschaft auf das Leben einer Frau, auf ihren Alltag, ihre Psyche, ihre ökonomische Situation und schliesslich ihre Biografie auswirkt, das steht heute nicht mehr zur Debatte. In den wenigen Artikeln, die seit der Abstimmung im Jahr 2002 erschienen sind, geht es fast ausschliesslich um Abbrüche, die durchgeführt werden, weil beim Fötus eine Behinderung festgestellt worden ist. Ein Sonderfall, der nur wenige Prozente aller Abtreibungen ausmacht, der aber viel dazu beigetragen hat, ethische und moralische Fragestellungen wieder ins Zentrum zu rücken. Mit scheinheiligen Fragen wie «Dürfen wir Gott spielen?» oder «Ist pränatale Diagnostik eine neue Form der Eugenik?» wird den Frauen ein schlechtes Gewissen gemacht – ohne aufzuzeigen, was ein behindertes Kind für die Organisation des Familienalltags tatsächlich bedeutet.
Dass man sich diesem gesellschaftlichen Klima nicht so einfach entziehen kann, hat auch meine Freundin, die hier Gabriela heissen soll, erfahren. Sie hat bei jeder ihrer drei Schwangerschaften pränatale Tests machen lassen, weil sie den Fötus im Fall einer Missbildung abgetrieben hätte – warum sollte sie sonst den Test machen? Diese Haltung ist in ihrem Bekanntenkreis mit Bemerkungen wie «Du entscheidest also, welches Leben lebenswert ist» oder «Bist du dir wirklich sicher?» quittiert worden. «Warum ist es okay», fragt sie, «ein gesundes Kind abzutreiben, weil man noch mitten im Studium steckt, aber nicht okay, ein behindertes Kind abzutreiben, weil man sich dieser Herausforderung nicht gewachsen fühlt?» Doch auch sie begann zu schweigen: Ihre nächsten beiden Schwangerschaften verheimlichte sie mit einer ausgeklügelten Garderobe bis zum vierten Monat – damit sie im Fall eines entsprechenden Testergebnisses heimlich hätte abtreiben können.
In einer Zeit, in der konservative Werte eine Renaissance feiern, gewinnen ethische und moralische Fragestellungen an Bedeutung. Und für die meisten ist die Sache nicht so eindeutig wie für Gabriela. Allgemein gültige Antworten, auf die man sich berufen könnte, fehlen, es bleibt das persönliche Abwägen, das sich Durchringen zu einer individuellen Haltung. Nicht selten entscheiden sich junge Frauen gegen ein Kind, das sie Jahre später, wenn die Umstände endlich stimmen und das Ticken der biologischen Uhr unüberhörbar geworden ist, herbeisehnen. Immer noch spielen beim Entscheid ökonomische Gründe eine grosse Rolle – doch wie stichhaltig sind diese, kann man sich fragen, in unserem Sozialstaat? Abtreibung ist heute widersprüchlicher denn je. Die Gespräche darüber verstummen auch deshalb, weil Frauen unangenehme Diskussionen vermeiden wollen.
Diese Erfahrung hat auch eine Bekannte, nennen wir sie Simone, gemacht. Simone ist 35 Jahre alt, als sie wegen eines Verhütungsfehlers schwanger wird. Sie ist seit vielen Jahren mit ihrem Partner zusammen, glücklich, Kinder wollten sie nie. Ihr Partner sichert ihr zwar seine Unterstützung zu, doch begeistert ist er nicht. Ausserdem würde das Kind im denkbar schlechtesten Moment kommen, Simone hat gerade ihre Stelle verloren. Sie spürt schnell: Ich will meine Zukunftsträume, meine Partnerschaft und meine beruflichen Chancen nicht für ein Kind aufs Spiel setzen, das ich gar nie wollte. Trotzdem fragt sie sich: Darf ich mich gegen diese Schwangerschaft entscheiden? Ist dieser Embryo in meinem Bauch bereits ein Mensch? Der ebenso eine Berechtigung zum Leben hat wie ich, eine Frau mit einer Vergangenheit, Perspektiven, Gefühlen, einer Beziehung und einem Bankkonto? Oder ist er bloss ein Zellhaufen? Es sind Zellen mit dem Potenzial, Mensch zu werden, definiert sie für sich. Sie recherchiert im Internet, dass der Embryo in diesem Stadium noch kein Bewusstsein hat, keinen Schmerz empfinden kann, was ihr den Gedanken an einen Schwangerschaftsabbruch erträglicher macht.
Schliesslich sagt sie sich: Niemand darf mich zwingen, schwanger zu sein. Sie will selbst bestimmen, wie es in ihrem Leben weitergeht. Doch auch sie schweigt. Bis heute hat sie nur gerade ihre beste Freundin eingeweiht. Sie weiss, der Verhütungsfehler wäre vermeidbar gewesen, dafür die Verantwortung zu übernehmen, fällt nicht leicht. Und mit wem soll sie auch darüber reden, wenn der Freundeskreis aus Frauen besteht, die verzweifelt versuchen, ein Kind zu bekommen? Sie weiss, von diesen Frauen hat sie kaum Mitgefühl zu erwarten. «Sie würden das, was ich getan habe, als Kritik an ihrem Lebenstraum verstehen.»
Abtreibung ist Privatsache geworden. Und das macht die Sache nicht leichter. Simone jedenfalls glaubt, für sie wäre es einfacher gewesen, wenn sie sich ein «Mein Bauch gehört mir!»-T-Shirt hätte anziehen können und für ihr Recht hätte kämpfen müssen. Denn: «So ein gesellschaftlicher Kampf entfernt die Sache auch etwas von dir selbst.»
Sarah Diehl, auch sie gehört mit 32 Jahren zur jungen Generation der Feministinnen, hat das Buch «Deproduktion. Schwangerschaftsabbruch im internationalen Kontext» geschrieben und in einem Film dokumentiert, welche Auswirkungen die Verschärfung von Abtreibungsgesetzen in Südafrika und Polen hat. Sie gehört zu den ganz wenigen Feministinnen, die sich heute noch mit dem Thema beschäftigen. Auch sie hält es für problematisch, dass ihre Mitstreiterinnen dieses abgehakt haben: Im Internet sind in den vergangenen Jahren die griffigsten Domainnamen von den Abtreibungsgegnern besetzt worden, sodass «Frauen, die sich nicht zu reden getrauen und sich erst mal anonym informieren wollen, geradewegs den Fundamentalisten in die Arme laufen».
Wie Abtreibungsgegner Schwangere zu manipulieren versuchen, kann man auf der Website des Vereins Mamma studieren. Der Verein ist ein Sammelbecken von Schweizer Abtreibungsgegnern, auf dessen Konto auch die extreme Abtreibungsverbotsinitiative «Für Mutter und Kind» geht, die 2002 abgelehnt worden ist. Die Website richtet sich gezielt an (weibliche) Jugendliche, unter anderem mit dem Videoclip «Dis Fleisch und Bluet». In diesem ist zuerst eine junge Frau zu sehen, die weint, weil sie soeben erfahren hat, dass sie schwanger ist. Ein bubigesichtiger Rapper im weissen Arztkittel erhebt darauf den moralischen Zeigfinger: «Jedes Chind het äs Rächt uf Läbe, Fötus oder Embryo aber wird in Stück grisse, diräkt us der Gebärmueter, ghörsch du de Schrei: Puri Hilflosigkeit!» Und weiter orakelt der Schnösel: «En Entscheidig, wo viel veränderet, zu dim Guete oder Schlächte.»
Daneben listet die Website 33 Gründe für ein Kind auf, darunter so groteske wie «Weil ein Baby hilft, viele Probleme zu lösen» oder «Weil ich Kindergeld bekomme». Ein Zähler prangert die «erfolgten Abtreibungen in diesem Jahr» an, und natürlich fehlen auch Ultraschallbilder und sogar Bilder von abgetriebenen, zerschnipselten Föten nicht. «Solche Bilder eignen sich hervorragend zur moralischen Erpressung», sagt Sarah Diehl, «weil der Embryo in einem Stadium, wo er von seiner Entwicklung her noch kein Bewusstsein oder Schmerzempfinden hat, schon sehr menschlich aussieht.»
Im konservativen Polen sind Abtreibungen aus sozialer Indikation bereits seit 1993 verboten, weshalb es dort jedes Jahr zu rund 200 000 illegalen Abtreibungen kommt. Auch in den USA ist der Backlash Tatsache: Obwohl Abtreibungen dort immer noch legal sind, werden sie in 87 Prozent aller Landkreise nicht mehr angeboten. Die Ärzte verweigern ihre Arbeit wegen «moralischer Bedenken», in Wahrheit fürchten viele von ihnen, Abtreibungsgegner könnten ihre Klinik belagern oder sie gar körperlich bedrohen – in den USA sind bislang sieben Abtreibungsärzte von Fundamentalisten umgebracht worden, fünf haben einen Mordanschlag überlebt. Mittlerweile geschehen auch in unseren Nachbarländern Deutschland und Österreich beunruhigende Dinge: Sarah Diehl berichtet von so genannten Beratungszentren, die neben Abtreibungskliniken eröffnet werden, um Patientinnen auf dem Trottoir vor der Klinik abzufangen. Von Babygeschrei ab Tonband, das in Hörweite einer Abtreibungsklinik abgespielt wird. Und von Gynäkologen, die von Fundamentalisten verklagt werden, weil sie auf ihrer Website nicht verschweigen, dass sie auch Abtreibungen durchführen.
In der Schweiz sind die Abtreibungsgegner bislang vor allem im Internet aktiv. In der realen Welt beten ab und zu ein paar fundamentalistische Christen vor einem Spital, und SVP-Nationalrat Peter Föhn versucht es regelmässig mit einem politischen Vorstoss. Sein neuster Coup: die Initiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache», die er Anfang Jahr zusammen mit einer Gruppe von Parlamentariern lanciert hat. Diese will erreichen, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt und über diesen Umweg verhindert werden. Der Verein Mamma sammelt fleissig Unterschriften, es muss damit gerechnet werden, dass die Initiative zu Stande kommt.
Die Frage ist: Kann man davon ausgehen, dass sie an der Urne ebenso bachab geschickt wird wie die letzte Initiative der Abtreibungsgegner? Oder droht der Backlash jetzt auch bei uns? «Es ist erst acht Jahre her, seit das Schweizer Volk mit der Fristenregelung auch die Leistungspflicht der Kassen bestätigt hat», sagt Anne-Marie Rey, die nach dem überwältigenden Abstimmungserfolg von damals geglaubt hatte, das Thema sei vom Tisch. «Die Initiative sollte chancenlos sein», sagt sie. Doch ihre Stimme klingt nun doch etwas beunruhigt, wenn sie hinzufügt: «Eigentlich.»
Anne-Marie Rey: Die Erzengelmacherin. Das 30-jährige Ringen um die Fristenregelung. Xanthippe-Verlag, Zürich 2007. Auf ihrer Website www.svss-uspda.ch stellt Rey Informationen zum Schwangerschaftsabbruch zusammen
Sarah Diehl dokumentiert das Thema Schwangerschaftsabbruch auf www.europeanprochoicenetwork.wordpress.com