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«Wir müssen nicht zusammenbrechen, um Hilfe holen zu dürfen»: Was ihr zu Burn On wissen müsst

Gesundheit

«Wir müssen nicht zusammenbrechen, um Hilfe holen zu dürfen»: Was ihr zu Burn On wissen müsst

Psychotherapeut Timo Schiele ist Co-Autor des Psychologieratgebers «Burn On: Immer kurz vor dem Burn Out» und beschreibt darin ein dauerhaftes Funktionieren am Limit. Im Interview erklärt er Symptome, Bewältigungsstrategien – und warum Vorgesetzte aus ihren Ferien keine Mails schreiben sollten.

annabelle: «Burnout» ist allen ein Begriff. Aber was versteht man unter einem «Burn On»?
Timo Schiele: Das Burnout beschreibt Erschöpfung, Energieverlust, mentale Distanz, verringertes Leistungsvermögen und manchmal Zynismus. Es kommt zum Kollaps. Beim Burn On hingegen ist nur ein Teil der aufgezählten Symptome spürbar. Trotzdem ist ein grosser Leidensdruck vorhanden.

Wie äussert sich dieser Leidensdruck?
Betroffene scheinen im Beruf noch relativ gut zu funktionieren. Vor allem in der Aussenwahrnehmung. Sie wollen signalisieren: Alles ist in Ordnung. Gegen innen fühlen sie sich aber wie leere Hüllen. Sie spüren kaum noch Freude, gehen ihren Interessen nicht mehr nach. Wir haben für das Burn On drei Kernpunkte für die Aussen- und Innenwahrnehmung ausgearbeitet, die wir einander gegenüberstellen.

Welche Kernpunkte?
Der Aktionismus steht der Handlungslähmung gegenüber. Betroffene sind also zum einen wahnsinnig umtriebig und andererseits kaum im Stande, Dinge fertig zu kriegen. Beispiele wären: Mails über Mails zu beantworten, um zu performen – aber zu Hause oder in Bezug auf Freund:innen kaum mehr aktiv zu sein.

Was wären die weiteren Gegenüberstellungen?
Es gibt einen Positivismus, der einer Freudlosigkeit gegenübersteht. Gegen aussen wird versucht, möglichst den Eindruck zu vermitteln, alles sei wunderbar. Gleichzeitig fühlt man sich innerlich und in seiner Umgebung nicht mehr wohl. Beim letzten Kernpunktepaar steht der Perfektionismus einer Unzulänglichkeit gegenüber. Das heisst: Man ist wahnsinnig genau, lässt aber kaum Fehler zu und denkt gleichzeitig, man sei unfähig. Damit äussert sich das, was man unter Impostor-Syndrom, also Hochstapler-Syndrom, versteht.

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«Es ist schön, dass wir uns Hoffnung machen und durchhalten können. Aber auf lange Sicht könnte das gefährlich werden»

Stressige Arbeitsphasen können ja mal vorkommen. Wie unterscheide ich, ob ich gerade einfach in einer stecke oder bereits an einem Burn On leide?
Eine Frage, die man sich stellen kann, wäre: Neige ich regelmässig zur Haltung «Bald wird alles besser»? Redet man sich ein, es nächste Woche, nächsten Monat oder nächstes Jahr geschafft zu haben und endlich tun zu können, was eigentlich wichtig ist, was einen eigentlich glücklich macht? Lautet die Antwort «Ja», könnte das auf ein Burn On hindeuten.

Durchhaltewille ist allerdings nicht unbedingt eine schlechte Eigenschaft.
Das behaupte ich auch nicht. Es ist schön, dass wir uns Hoffnung machen und durchhalten können. Aber auf lange Sicht könnte das gefährlich werden. Es gilt zu unterscheiden, ob es ausreicht, nur auf Basis von Hoffnungen zu leben, oder ob es eigentlich darum geht, im Grösseren die Dinge für sich unter die Lupe zu nehmen. Sind gravierende Umgestaltungen notwendig? Flüchtet man sich vor Anstrengung von einem kurzfristigen Entspannungswochenende zum nächsten? Die Wellness-Industrie boomt ja mit solchen Angeboten.

Stimmt. Spa-Hotels, Entspannungstees, Wellness-Programme …
… das ist alles wunderbar, die Angebote soll man auch weiterhin nutzen. Aber wenn hinter solchen Aktivitäten die Absicht steckt, sich kurz zu reparieren, um danach überhaupt wieder fähig für den ungesunden Alltag zu sein, lassen wir ausser Acht, dass das keine hilfreiche Art und Weise des Umgangs mit Stress und Belastung ist.

Was wäre denn ein hilfreicher Umgang mit Stress und Belastung?
Häufig suchen wir nach magischen 180-Grad-Veränderungen. In unserer Erfahrung als Psychotherapeut:innen geht es aber mehr um viele kleine Veränderungsansätze. Sich zum Beispiel mittags ganz bewusst ohne Handy Zeit zu nehmen und in sich hineinzuhören: Wie gehts mir gerade? Was ist gerade los? Was schwirrt mir gerade durch den Kopf? Währenddessen versucht man, nicht gleich jedem Impuls zu folgen. Man darf Dinge auch erstmal stehen lassen. Dahinter liegt die Frage, ob man sich erlaubt, innere Spielräume zu entwickeln und diese für sich zu nutzen.

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«Beim Burn On stehen viele unter vermeintlichen Erwartungen anderer, die man schnellstmöglich erfüllen zu müssen glaubt»

Timo Schiele

Warum fällt es vielen so schwer, solche Impulse vorbeiziehen zu lassen?
Beim Burn On stehen viele Menschen im Berufs- und Privatleben unter vermeintlichen Erwartungen anderer, die man schnellstmöglich erfüllen zu müssen glaubt. Man hat einen äusseren Druck verinnerlicht und lebt ihn. In Deutschland gibt es einige Unternehmen, die ihre Server ab 18 Uhr ausschalten und dann keine E-Mails mehr versenden. Solche Unternehmen schützen ihre Mitarbeiter:innen davor, nicht zu viel zu arbeiten – weil sie realisiert haben, dass sich die Überarbeitung langfristig auch kontraproduktiv auf das Unternehmen auswirkt. Ein grosser Teil, den wir häufig übersehen, sind wir selbst. Hier ist eine Veränderung eher zugänglich.

Wie meinen Sie das?
Es ist wichtig, die eigenen Spielräume zu ergründen und ein Gespür für Aufgaben zu entwickeln: Etwa indem man sich überlegt, was man zwingend in diesem Moment erledigen muss und wo es okay wäre, es erst morgen zu machen. Oder vielleicht sogar gar nicht zu machen.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass man die eigene Haltung zur Arbeit und die inneren Haltungsmuster in Frage stellen und aushebeln soll. Dafür stellen Sie die Giftsätzeübung von Steffen Fliegel und Annette Kemmele vor. Wie funktioniert diese Übung und was bewirkt sie?
Diese Übung bietet sich sehr gut an, um inneren Überzeugungen beziehungsweise den Giftsätzen auf die Spur zu kommen und deren Wirkung zu erfassen. Man nimmt dafür folgende drei Satzanfänge: «Ich muss …», «Ich darf nicht …» und «Ich kann nicht …». Nun ergänzt man die Anfänge zu eigenen typischen Gedanken. Zum Beispiel: «Ich muss immer erreichbar sein» oder es steht: «Ich darf nicht früher Mittag machen» oder «Ich kann nicht entspannen». Der erste Schritt wäre, sich die eigenen Giftsätze vor Augen zu führen anhand der Satzanfänge. In einem zweiten Schritt werden die Satzanfänge ersetzt. Ein technischer Kniff. Man probiert, die Perspektive zu ändern.

Wie lauten die neuen Satzanfänge?
Aus «Ich muss …» wird «Ich entscheide mich dazu …», aus «Ich darf nicht …» wird «Ich erlaube mir nicht …» und aus «Ich kann nicht …» wird «Ich möchte nicht …». Nach «Ich muss immer erreichbar sein» lesen wir also «Ich entscheide mich dazu, immer erreichbar zu sein».

Diese Sätze wirken schon ganz anders!
Im Regelfall irritiert die Satzumstellung zuerst. Dann folgt eine Distanzierung. Wenn aus «Ich muss …» ein «Ich entscheide mich …» wird, entsteht ein Fokus auf die eigenen Spielräume und ein Bewusstsein für die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Viele Menschen erleben das als befreiend. Sie merken: «Stimmt. Ich entscheide mich. Zwar nicht immer bewusst, aber ich entscheide mich auf die eine oder andere Art und Weise, die Dinge zu tun.» Und so treffen wir jeden Tag tausende, zehntausende von Mikroentscheidungen.

Wie zum Beispiel?
Geht man jetzt noch aufs Klo oder rennt man schon zum nächsten Termin? Man müsste dringend, aber man ist doch knapp dran, also rennt man weiter. Das wäre auch eine Entscheidung. Man denkt, man habe es zeitlich nicht geschafft – tatsächlich hat man sich aber dagegen entschieden. Das bedeutet nicht, sich ab jetzt hauptsächlich für das radikale Gegenteil zu entschliessen. Wenn man sich dafür entscheidet, immer erreichbar zu sein, ist das ein gutes Recht. Aber vielleicht erlaubt man sich auch zu sagen: Ich entscheide mich dazu, von 8.30 Uhr bis 17.30 Uhr erreichbar zu sein. Davor und danach nicht. Natürlich kann man das nicht immer selbst entscheiden. Möglicherweise muss man seine Spielräume mit jemandem besprechen oder aushandeln.

«Schreiben Vorgesetzte Mails aus ihren Ferien, vermitteln sie den Mitarbeitenden indirekt, dass sie dies auch tun sollen»

Timo Schiele

Wie geht man beim Aushandeln dieser Spielräume vor?
Als Guideline für das Vorgehen bei der Kommunikation dienen die Begriffe Erklärbarkeit, Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit. Sind Änderungsvorschläge erklärbar, vorhersehbar und kontrollierbar, führt dies meistens zu mehr Verständnis, Empathie und Wohlwollen beim Gegenüber, aber auch in uns selbst.

Sie haben erklärt, wie man gegen ein Burn On vorgehen kann. Wie kann man einem Burn On denn vorbeugen?
Indem man sich frühzeitig erlaubt, für sich zu sorgen. Man muss nicht erst mit dem Kopf unter dem Arm irgendwo liegen, um etwas ändern zu dürfen. Es gibt viele, die meinen: «Jetzt gehts ja irgendwie noch. Hilfe holt man sich erst beim Zusammenbruch.» Es muss nicht mal professionelle Hilfe von aussen sein. Manchmal reicht es, anzuerkennen, dass sich was ändern soll und dass man es im Kleinen angeht.

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial in Unternehmenskulturen?
Nehmen wir das Phänomen des Präsentismus, also krank zur Arbeit zu kommen oder Mails aus den Ferien zu schreiben. Das ist an vielen Stellen sicher verständlich, setzt aber gleichzeitig schwierige Signale in verschiedene Richtungen. Tun Vorgesetzte das, vermitteln sie ihren Mitarbeitenden indirekt, dass sie dies auch tun sollen.

Was könnte sich in Unternehmenskulturen sonst noch ändern, um Burn Ons, aber auch Burnouts zu vermeiden?
Ein wichtiger Baustein wäre bereits das Etablieren einer Kultur, in der man darüber spricht. Wo liegen Dinge, die mich belasten, die anstrengend sind, die ich nicht unter einen Hut kriege? Und wie geht es anderen damit? Entsteht zu diesen Fragen ein Austausch, trauen sich wiederum andere, denen es ähnlich ergeht, darüber zu reden. Dadurch können mentale Überforderungen früher erkannt werden. Langfristig gesehen, haben Betroffene oder potenziell Betroffene genauso wie auch Arbeitgebende etwas davon, wenn die Mitarbeitenden gesund sind. Im einen Fall kann es eine Prävention sein, im anderen Fall ein längst fälliger Anstoss, das Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Timo Schiele ist leitender Psychologe der Psychosomatischen Klinik im Kloster Diessen am Ammersee und doziert im Bereich kognitive Verhaltenstherapie. Gemeinsam mit Bert te Wildt hat er den Psychologieratgeber «Burn On: Immer kurz vorm Burn Out» geschrieben.

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Julia Kaiser

Hört sich ja alles ganz schön an – aber es wird immer nur von Arbeitnehmern gesprochen. Was ist den mit den Selbsständigen? Kleinunternehnen mit 2-3 Mitarbeitern hier gilt kein Mindestlohn und keine Arbeitszeitbegrenzung für den Betriebsinhaber. Was soll der machen wenn die Exitenz gefährdet ist und dann auch noch die Mitarbeiter von Work-Live-Balance reden. Selber 17 Stunden am Tag arbeiten bis zum burn out und die Sorgen noch mit in die Nacht und das nicht vorhandene Wochenende nehmen????